Formfehler

Selbst wenn man bei früheren Büchern von Agota Kristof gelegentlich vergass, worum es ging, so behielt man doch die Art im Kopf – die Art, nicht unbedingt den Stil, denn es war ein Lese-Empfi nden, als sei jeglicher Stil eingedampft auf schmucklose Drehbuchanweisungen. Müsste dieser berühmte Lakonismus nicht ideal sein für die Kurzgeschichtenform, wo Ökonomie […]

Selbst wenn man bei früheren Büchern von Agota Kristof

gelegentlich vergass, worum es ging, so behielt man doch die

Art im Kopf – die Art, nicht unbedingt den Stil, denn es war

ein Lese-Empfi nden, als sei jeglicher Stil eingedampft auf

schmucklose Drehbuchanweisungen. Müsste dieser berühmte

Lakonismus nicht ideal sein für die Kurzgeschichtenform, wo

Ökonomie und Konzentration wesentlich sind? Weit gefehlt.

Der schmale Band «Irgendwo» versammelt zwei Dutzend

Prosastücke, Erzählungen und Splitter in einer verwirrenden

und auch wirren Vielfalt. Es gibt wenige runde Stories, dafür

viele blasse Skizzen, kleine Fantasy-Szenarien, die gern als

Märchen getarnt werden, und einige möglicherweise aufgegebene

Anfänge, die wohlwollend als «off ene Formen» verstanden

werden könnten. Dieses Sammelsurium bietet dabei

inhaltlich nichts Neues. Agota Kristof beschreibt beschädigte

Menschen mit traurigen oder diff usen Schicksalen, die sich

im Leben nicht mehr zurechtfi nden; thematisch bleibt sie bei

ihrem Umkreis von Einsamkeit, Verrücktsein, Alter, Krankheit,

Apathie. Allerdings schlägt sie hier manchmal einen

beklagenden Ton an, und der ist – leider – neu.

Wenn die sprachliche Form schmucklos ist, kommt es

um so mehr auf andere Aspekte an, um einen ästhetischen

Mehrwert zu erzielen. Agota Kristofs Einzigartigkeit bestand

bisher darin, in dieser sich klein gebenden, ja schalltoten

Weise von unerhörten Dingen zu erzählen oder sehr

geheimnisvoll zu sein, und in ihrem berühmtesten Buch,

«Das Große Heft», schaff te sie beides. In «Irgendwo» jedoch

ist fast nichts davon zu finden.

Die Einstiegsgeschichte erreicht höchstens das Niveau

eines harmlosen Kurzkrimis. Eine Frau erzählt einem Arzt,

wie sie ihren Ehemann tot aufgefunden habe; anscheinend

sei er in seine Axt gefallen. Sofort ist klar, dass sie ihn er-

mordet hat – und man wartet auf eine nächste Ebene, damit

die Geschichte sich von einer Schreibkursus-Fingerübung

unterscheide. Aber da passiert nichts weiter. Der Arzt ruft

den Irrenarzt.

«Irgendwo» kommt um Jahrzehnte zu spät. Die Stories

können nicht erschrecken, sie sind vorhersehbar, handwerklich

bestenfalls ansprechend gemacht, und die vielen

Skizzen oder Anfänge verstören in ihrer Formlosigkeit anno

2007 niemanden. Kunstcharakter besitzt kaum einer dieser

Texte. Da nützt es wenig, sie mit dem schicken Gattungswort

«Nouvelles» zu versehen, als repräsentierten sie wesentlich

Grösseres.

Ausgerechnet die oft gepriesene ökonomische Erzählweise

erzeugt hier in der Kurzprosa ein Formproblem. Die

wenigen gelungenen Ausnahmen, etwa die surreale Skizze

«Die Lehrer» oder die beiden konventionellen Stories «Der

Briefkasten» und «Die falsche Nummer» können nicht die

Stärken der Autorin ausfahren und sind zu durchschnittlich.

Um jemandem Agota Kristofs Werk zu eröff nen, ist dieser

Band eher schädlich. Ihre Stärke bleibt off ensichtlich der

Roman, die grosse Form, dort hat sie das Überraschungsmoment

auf ihrer Seite.

besprochen von Marcus Jensen, Berlin

Agota Kristof: «Irgendwo». München: Piper 2007.