Formfehler
Agota Kristof: «Irgendwo». München: Piper 2007.
Selbst wenn man bei früheren Büchern von Agota Kristof gelegentlich vergass, worum es ging, so behielt man doch die Art im Kopf – die Art, nicht unbedingt den Stil, denn es war ein Lese-Empfi nden, als sei jeglicher Stil eingedampft auf schmucklose Drehbuchanweisungen. Müsste dieser berühmte Lakonismus nicht ideal sein für die Kurzgeschichtenform, wo Ökonomie und Konzentration wesentlich sind? Weit gefehlt. Der schmale Band «Irgendwo» versammelt zwei Dutzend Prosastücke, Erzählungen und Splitter in einer verwirrenden und auch wirren Vielfalt. Es gibt wenige runde Stories, dafür viele blasse Skizzen, kleine Fantasy-Szenarien, die gern als Märchen getarnt werden, und einige möglicherweise aufgegebene Anfänge, die wohlwollend als «off ene Formen» verstanden werden könnten. Dieses Sammelsurium bietet dabei inhaltlich nichts Neues. Agota Kristof beschreibt beschädigte Menschen mit traurigen oder diff usen Schicksalen, die sich im Leben nicht mehr zurechtfi nden; thematisch bleibt sie bei ihrem Umkreis von Einsamkeit, Verrücktsein, Alter, Krankheit, Apathie. Allerdings schlägt sie hier manchmal einen beklagenden Ton an, und der ist – leider – neu. Wenn die sprachliche Form schmucklos ist, kommt es um so mehr auf andere Aspekte an, um einen ästhetischen Mehrwert zu erzielen. Agota Kristofs Einzigartigkeit bestand bisher darin, in dieser sich klein gebenden, ja schalltoten Weise von unerhörten Dingen zu erzählen oder sehr geheimnisvoll zu sein, und in ihrem berühmtesten Buch, «Das Große Heft», schaff te sie beides.
In «Irgendwo» jedoch ist fast nichts davon zu finden. Die Einstiegsgeschichte erreicht höchstens das Niveau eines harmlosen Kurzkrimis. Eine Frau erzählt einem Arzt, wie sie ihren Ehemann tot aufgefunden habe; anscheinend sei er in seine Axt gefallen. Sofort ist klar, dass sie ihn er- mordet hat – und man wartet auf eine nächste Ebene, damit die Geschichte sich von einer Schreibkursus-Fingerübung unterscheide. Aber da passiert nichts weiter. Der Arzt ruft den Irrenarzt. «Irgendwo» kommt um Jahrzehnte zu spät. Die Stories können nicht erschrecken, sie sind vorhersehbar, handwerklich bestenfalls ansprechend gemacht, und die vielen Skizzen oder Anfänge verstören in ihrer Formlosigkeit anno 2007 niemanden. Kunstcharakter besitzt kaum einer dieser Texte. Da nützt es wenig, sie mit dem schicken Gattungswort «Nouvelles» zu versehen, als repräsentierten sie wesentlich Grösseres.
Ausgerechnet die oft gepriesene ökonomische Erzählweise erzeugt hier in der Kurzprosa ein Formproblem. Die wenigen gelungenen Ausnahmen, etwa die surreale Skizze «Die Lehrer» oder die beiden konventionellen Stories «Der Briefkasten» und «Die falsche Nummer» können nicht die Stärken der Autorin ausfahren und sind zu durchschnittlich. Um jemandem Agota Kristofs Werk zu eröff nen, ist dieser Band eher schädlich. Ihre Stärke bleibt off ensichtlich der Roman, die grosse Form, dort hat sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. besprochen von Marcus Jensen, Berlin