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Folgsam ins Verderben
Rainer Hank, fotografiert von Salome Rössler.

Folgsam ins Verderben

Loyalität wird überschätzt. Illoyalität hingegen wird zu Unrecht verunglimpft. Warum wir uns von falschen Bindungen lösen und wieder unseren eigenen Kopf gebrauchen sollten.

 

Seit geraumer Zeit müssen Journalisten in China eine Prüfung machen, bevor sie einen Presseausweis erhalten. Wer bestehen will, sollte mit den Lehren und Gedanken von Xi Jinping, dem chinesischen Präsidenten, gut vertraut sein. Wer dessen Lehren noch nicht beherrscht, muss unbedingt die Xi-App auf sein Mobilgerät laden. Das ist eine Art digitaler Nachfolger der Mao-Bibel, des kleinen roten Buches, das man früher in China und anderswo bei sich zu tragen hatte. Richtige Antworten sind solche, die von Xi stammen.

Früher wurde in den Prüfungen die Qualifikation der Journalisten getestet, heute geht es um den Nachweis ihrer Linientreue. Zensur oder Gleichschaltung will Xi das nicht nennen. Er spricht lieber von Loyalität, die er von allen seinen Bürgern erwartet und die in der Prüfung unter Beweis gestellt wird. Loyalität gilt der ­chinesischen Führung als Gebot von Patriotismus. Täglich auf der Xi-App sich einzuloggen, ist inzwischen erste Bürgerpflicht.

Loyalität ist ein positiver Begriff. Loyal zu sein gilt als moralisch gut: Loyalität ist eine Tugend. Nicht nur in China. Und nicht erst heute. Man muss zueinanderhalten. Für seine Freunde steht man ein. Loyalität ist ein Wert an sich: Er muss nicht gelernt oder anerzogen werden. Er ist mit uns auf die Welt gekommen.

Das warme Band der Zugehörigkeit

Das fängt schon in der Familie an: Wir stehen zusammen, weil wir zusammengehören. Familie bedeutet Zugehörigkeit, über die Generationen hinweg. Loyal zu den Eltern sind wir auch dann, wenn wir uns über sie ärgern oder – etwa in der Pubertät – sie uns peinlich sind und wir am liebsten wegrennen würden. Wir tun es nicht oder kommen gleich wieder zurück. Loyalität ist eine Form der Treue zu anderen. Schliesslich bekommen wir auch etwas dafür: Ich halte zu meiner Familie, weil meine Familie zu mir hält. Wir gehen zusammen durch dick und dünn, meistens jedenfalls.

Loyalität, so nennen wir das starke und warme Band einer ­Zugehörigkeit. Dieses Band hat einen verpflichtenden Charakter, der in beide Richtungen wirksam ist. Ohne Loyalität gäbe es kein Zusammenleben. Eine Gesellschaft, der das Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit abgeht, könnte nicht überleben. Sie müsste ­zerfallen. Zumindest in der abendländischen Tradition ist das Versprechen der Treue zwischen Mann und Frau Voraussetzung für Liebe, Ehe und Aufzucht der Nachkommen. Wer das Gebot, loyal zu sein, verletzt, gilt nicht nur als illoyal – «das tut man nicht!» –, sondern wird nicht selten von der Gruppe geächtet, die er verlässt. Er oder sie ist ein «schwarzes Schaf», ein Dissident. Kommt es noch schlimmer, wird er zum Verräter. Die Verpflichtung zu Loyalität gilt zwischen Freunden, sie gilt in der Familie. Es gibt sie in der Gemeinde (der Orts- und der Kirchengemeinde). Es gibt sie im Clan. Es gibt sie in der Ethnie (Schwaben, Bayern, ­Sorben); wir sprechen von Heimatverbundenheit. Geht es um eine Nation und Vaterland, nennen wir es Patriotismus.

Wie weit geht die Pflicht zur Loyalität? Sehr weit. Sie würde den Regisseur Roman Polanski immer noch kompromisslos lieben, bekennt die französische Filmschauspielerin Fanny Ardant, auch wenn erwiesen wäre, dass er eine Minderjährige vergewaltigt habe. Polanski sei für sie «ein Teil meiner Familie». Auch wenn eine ihrer drei Töchter jemanden umgebracht hätte, so Fanny Ardant, würde sie sie vor der Polizei verstecken: «Ich würde immer meine Familie verteidigen – auch wenn das ein moralisches Dilemma ist.»

Offenbar rührt Loyalität an etwas in unserem Inneren, das der Entstehung von Sittlichkeit, Moral und Recht vorgelagert ist. In den linken Kreisen, in denen ich gross geworden bin, gab es in den siebziger Jahren eine Debatte darüber, ob wir einem zum Terroristen gewordenen Freund aus der RAF Unterschlupf gewähren ­würden. Warum zeigten viele sich dazu bereit? Weil die frühere Verbindung gebietet, den Freund zu schützen? Weil wir mög­licherweise immer noch gemeinsame Ziele haben, auch wenn wir uns in der Wahl der erlaubten Mittel unterscheiden?

Schmerzhafte Ablösungsprozesse

Loyalität verliert ihre Unschuld, sobald man sich ihr nähert. Kann eine Haltung eine Tugend sein, wenn sie in letzter Konsequenz zu einem Verbrechen führen würde? Kann Loyalität uneingeschränkt für gut befunden werden, wenn dem Abweichler das Stigma des Verrats anhaftet und er nicht nur von denen verfolgt wird, die er verlassen hat, sondern auch tief im Innern von seinem Gewissen?

Loyalität steht offenbar im Gegensatz zur Freiheit. Sollte sie tatsächlich eine Tugend sein, eine liberale Tugend wäre sie nicht. Nicht zuletzt das eingangs erwähnte chinesische Beispiel zeigt dies überdeutlich. Womöglich ist Loyalität aber auch nicht nur keine liberale, sondern auch keine linke Tugend. Der amerika­nische Philosoph Richard Rorty hat darauf hingewiesen, dass sich Loyalität und Solidarität schlecht miteinander vertragen. Loyalität gilt immer nur den wenigen, Solidarität ist universal. Loyalität schliesst einige ein – zum Beispiel die Familie –, andere aber aus: alle, die nicht zur Familie gehören. Deshalb hat die Loyalität nicht nur ein Problem mit der Freiheit (sie ist nicht liberal), sondern auch mit der Gerechtigkeit (sie ist nicht links).

Allein kann man nicht loyal sein, es braucht ein Gegenüber. Sich selbst kann man treu bleiben. Loyalität beschreibt jedoch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe irgendwie gleichgesinnter Freunde, Kameraden, Kollegen. Wo ist die Grenze zum Netzwerk oder zum Filz, der die Zusammengehörigkeit über die Legalität stellt und Kriminalität in Kauf nimmt oder gar offensiv vertritt, wie bei der Mafia zu beobachten?

«Kann eine Haltung eine Tugend sein, wenn sie

in letzter Konsequenz zu einem Verbrechen führen würde?»

Warum hat die Loyalität (etwa in Firmenphilosophien) einen so glänzenden Ruf? Ich glaube, Loyalität wird überschätzt. Illoyalität hingegen wird zu Unrecht moralisch verunglimpft. Dies hat auch mit der Begrifflichkeit zu tun: Illoyal klingt verwerflich, aufrührerisch, negativ. Könnte es positive Begriffe geben? Souveränität, Mündigkeit, Resilienz, Dissidenz? Vielleicht auch Befreiung, Integrität, Selbstbestimmung, Autonomie. Dies alles wären geeignete Kandidaten, die freilich in ihrem Begriff unterschlagen, dass man nichts geschenkt bekommt, gerade die Souveränität und auch die Freiheit nicht, denn ihr gehen schmerzhafte Ablösungsprozesse – Illoyalitätserfahrungen – voran.

Es gilt deshalb die Dissidenz, den Mut zur Selbstbefreiung zu stärken und zugleich die Gefahren der Loyalität aufzuzeigen.

Rückfall in die Barbarei

Der Jurist und Verhaltenswissenschafter Cass C. Sunstein hat ­untersucht, was aus Einzelmeinungen innerhalb einer Gruppe wird. Das Ergebnis gibt zu denken: In der Gruppe urteilen wir alle extremer, als es jeder einzelne ohne die Gruppe täte. Die Gruppe polarisiert und radikalisiert ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer.

Woran das liegt? Menschen hungern nach Bestätigung, sagt Sunstein. Wenn zwei einander recht geben, fühlen sich beide ­sicherer. Schliesst sich ein Dritter an, wird es noch besser. Man nennt das eine Bestätigungskaskade, die wiederum bei allen zur Verfestigung ihrer Meinung führt. Jetzt hauen wir auf den Putz – die Älteren unter uns Männern kennen diesen Mechanismus vom Stammtisch.

Am Ende kann es passieren, dass einige die Gruppe verlassen, weil ihnen die Radikalisierung der anderen nicht geheuer ist. Die Gruppe wird dadurch zwar kleiner, aber noch radikaler, weil nur die Allerloyalsten bis zum Schluss bleiben, die sich untereinander bis ins Extrem anfeuern. Cass C. Sunstein, der amerikanische Forscher, bezieht diese Erkenntnisse aus Experimenten im Labor. Er hat damit unwissentlich, aber präzise den Radikalisierungs­prozess der deutschen AfD beschrieben, quasi ein Experiment im realdemokratischen Staat.

Dass wir Konflikte wie Kampfesrituale von Stämmen aus­tragen, könnte tatsächlich eine Wiederkehr des archaisch Verdrängten sein in nur scheinbar aufgeklärten Zeiten. Solche Überlegungen gab es unter den Intellektuellen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs. Damals standen sich Totalitarismen von rechts (Hitler) und links (Stalin) ­gegenüber. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die Denker der Frankfurter Schule, nannten diesen Rückfall in die Barbarei «Dialektik der Aufklärung». Hannah Arendt, die jüdische Emi­grantin in New York, analysierte den Terror totalitärer Bewegungen von links wie rechts, etwa in ihrem Buch «Elemente und ­Ursprünge totaler Herrschaft». Und Karl Popper, der grosse britisch-österreichische Liberale, sprach von der anhaltenden Verführbarkeit der Menschen durch den «Ruf der Horde» in seinem Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» (1944): Er wolle zeigen, «dass sich die Zivilisation noch immer nicht von ihrem ­Geburtstrauma erholt hat – vom Übergang aus der Stammes- oder geschlossenen Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften ­unterworfen ist, zur offenen Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten der Menschen freisetzt».

In diesem «ewigen Kampf» (Popper) beobachten wir seit geraumer Zeit einen Rückfall in den neuen Tribalismus: Der «Ruf der Horde» hat heute abermals Verführungskraft.

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