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Föderalismus à la carte: Der
Ständerat entzieht sich selber die Legitimation

Die kleine Kammer wird ihrem Ruf als «chambre de réflexion» immer weniger gerecht. Soll sie ihre Legitimation als Hüterin des Föderalismus und der Verfassung beibehalten, braucht es grundlegende Reformen.

Föderalismus à la carte: Der Ständerat entzieht sich selber die Legitimation
Sitzung im Ständeratssaal im Jahr 1957. Bild: Keystone/Photopress-Archiv/Str.

Das schweizerische politische System mit den zwei Kammern war anfänglich in der Verfassungskommission von 1848 überhaupt nicht das favorisierte Modell. Um die Zusammenfindung der sich im Sonderbundskrieg bekämpfenden Kantone aber überhaupt zu ermöglichen, mussten die Gewinner der liberal-radikalen Bewegung den unterlegenen Sonderbundskantonen Zugeständnisse machen. Alles andere hätte die Gründung des Bundesstaates Schweiz 1848 scheitern lassen. Die Gleichstellung sämtlicher Kantone in einer Ständekammer (mit Ausnahme der heute nicht mehr zu rechtfertigenden Halbkantone) mit je zwei Abgeordneten war für die kleinen und die katholisch-konservativen Kantone, die den Krieg verloren hatten, unabdingbar.

Der Ständerat hatte anfänglich jedoch wenig Einfluss auf die politische Schweiz. Es waren teils sogar nur für eine Session von den Kantonen delegierte Abgeordnete, die völlig im Windschatten der dominierenden Volkskammer (Nationalrat) mitbestimmten, eher aber nur zustimmten. Die wenigen Differenzen zwischen den beiden Kammern wurden damals immer im Sinne des Nationalrates bereinigt. Und so war es für einen Abgeordneten im Ständerat ein politischer Aufstieg, wenn er die Wahl in den Nationalrat schaffte – heute ist es genau umgekehrt.

Mit den Anpassungen beim Wahlsystem für den Ständerat (sehr oft Majorzwahl), guter Parlamentsarbeit und sehr guten Beziehungen in die Bundesverwaltung (oft waren bis vor kurzer Zeit Regierungsmitglieder der Kantone gleichzeitig auch Ständeräte) hat sich das Kräfteverhältnis im Laufe der Zeit völlig verändert. Vermehrt war es der Ständerat, der komplexe und wichtige Vorlagen als Erstrat behandelte und somit vielen Vorlagen letztlich seinen Stempel aufdrückte. Er war es auch, der den Föderalismus mit all seinen Vorgaben verteidigte und die Vorlagen sehr eng auch im Lichte der Verfassungsmässigkeit beleuchtete. Dies hat ihm in gewissen Kreisen die Huldigung als «chambre de réflexion» eingebracht sowie sein mediales Ansehen über die teils polternde und angriffige Politik in der Volkskammer gestellt. Auch dass bei den Wahlen 2011 der vielzitierte «Sturm aufs Stöckli» scheiterte und viele Granden der SVP die Wahl in den Ständerat verpassten, trug zur selbstempfundenen Höherweihung des Ständerates gegenüber dem Nationalrat bei.

Abstieg zur «Lobbyistenkammer»

Die Schattenbenennungen der Kantonskammer waren und sind vielfältig. Von «Dunkelkammer» und «chambre de réflexion» bis zur «Lobbyistenkammer» hat man alles schon gehört. Die Bezeichnung «Lobbyistenkammer» trifft leider immer mehr zu. Denn die 46 Mitglieder des Ständerates haben nebst der Funktion als Ständerat in ihren eigenen Offenlegungen 240 zusätzliche bezahlte Mandate angegeben. Auch wenn nicht alle von gleicher Wichtigkeit sind, gibt es darunter doch stark meinungsbeeinflussende und sehr gut bezahlte Mandate. Auch hohe Parteifunktionen sind im Ständerat vertreten.

Verteidigt wird diese Entwicklung oft mit Aussagen wie: «Das gibt auch gute Detailkenntnisse aus Gesellschaft und Privatwirtschaft und befruchtet die Parlamentsarbeit.» Dem ist klar und eindeutig entgegenzuhalten, dass ein Mitglied des Ständerates ohne bezahlte Mandate und führende Parteifunktionen imstande sein muss, die politischen Geschäfte allumfassend und kompetent zu beurteilen. Ansonsten ist die falsche Person am falschen Ort. Es gibt als Parlamentsmitglied diverse Möglichkeiten, sich aus der Praxis sowie über Institutions-, Verbands- und Vereinsinteressen informieren zu lassen. Und eigene Erfahrungen wie auch die unbezahlte Beschaffung von relevanten Informationen gehören schlicht und einfach zum Mandat als Bundesparlamentarier dazu.

Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben der Ständekammer, Vorlagen und Vorstösse ganz explizit auf die ganze Breite des Föderalismus und die Verfassungsmässigkeit zu prüfen. Heute ist es leider aber oft so, dass die Ständekammer zwar die föderalistischen Rechte hochhält, die dazugehörigen Pflichten jedoch vernachlässigt. So werden laufend zentralistische Bundesgesetzvorgaben in verfassungsmässigen Kantonshoheiten beschlossen (zum Beispiel in der Raumplanung) oder zusätzliche Bundesmittel für Aufgaben bewilligt, die eindeutig in die Kompetenz der Kantone fallen und die eine sogenannte Anschubfinanzierung übersteigen (beispielsweise bei der familienergänzenden Kinderbetreuung). Das führt dann zu vermehrten Zwangsverbundaufgaben und damit zu Aufgabenverflechtungen, die staats- und finanzpolitisch negative Folgen haben. Der Staat wird teuer, komplizierter und bürokratischer.

«Heute ist es leider oft so, dass die Ständekammer zwar die

föderalistischen Rechte hochhält, die dazugehörigen Pflichten jedoch vernachlässigt.»

Von daher wäre eine für die Öffentlichkeit bestehende «Dunkelkammer» (keine Transparenz über Beratungs- und Abstimmungsverhalten) eine mögliche Variante. Dadurch müssten sich die Standesvertreter nicht partiellen Kantons-, Unternehmungs- und Gesellschaftsinteressen hingeben. Aber das ist wohl unrealistisches Querdenken. Zu gross sind die monetären Anreize von gut bezahltem Lobbyismus, gewolltem (opportunistischem) medialem Interesse der Ständeräte, die «notwendige» Solidarität zu ambivalenten Kantonsregierungen und das Recht der Öffentlichkeit, das Abstimmungsverhalten ihrer Würdenträger zu kennen. Nicht wenige kantonale Exekutivbehörden haben den in der Verfassung festgelegten Föderalismus samt sauberer Aufgabenteilung mit Rechten und Pflichten längst über Bord geworfen. Gerade schwache Regierungen (und davon gibt es zu viele) neigen vermehrt dazu, Aufgaben an den Bund abzugeben, damit sie sich dann hinter den Bundesvorgaben «verschanzen» können. Traurigerweise geschieht das oft, weil die Verwaltung anstelle der Kantonsregierung das eigentliche Führungszepter und damit die Willensbekundung gegenüber dem Bund übernommen hat. Leider hat der Ständerat nicht (mehr) die Kraft und den Willen, diesen Untugenden der Aufgaben- und Kompetenzverwässerung mit der nötigen Entschiedenheit entgegenzutreten.

Unwürdiges Hüst und Hott

Auch nimmt der Ständerat seine Funktion als verlässlicher «Verfassungshüter» nicht mehr wahr. War der Rat früher eine unumstössliche Mauer für eine verfassungsmässige Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist er heute fast schon zur Last einer solchen Politik geworden. Die Aktualität hat ihn nun wieder etwas zur Raison gebracht. Sogar so sehr, dass die «ganz Schlauen» von Mitte-links in der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats die Verknüpfung eines höheren Militäretats mit der Ukrainehilfe beschlossen haben. Plötzlich war der Ukrainekrieg die verfassungsmässig «aussergewöhnliche Situation» oder eben «der Krieg», der ordnungs- und finanzpolitisch alles erlaubte. Ich weiss nicht, welch wirre Gedanken durch ein Gehirn strömen müssen, um den Ukrainekrieg mit dem in unserer Verfassung gemeinten Wort «Krieg» in Verbindung zu bringen.

Ein anderes Beispiel ist die zu meiner Zeit aus Ständeratskreisen «gebastelte» Verknüpfung von Bundesbeiträgen an die AHV und der Unternehmensbesteuerung. Da hat man aus zwei gescheiterten Vorlagen eine gemacht und die verfassungsmässige Einheit der Materie mit Füssen getreten. Irgendein schlaumeierischer Professor, der das billigt, findet sich immer. Vor allem dann, wenn er dafür noch bezahlt wird. Dass die Volkskammer bei gewissen Entwicklungen überreagiert, gehört zum System. Wenn aber der Ständerat in dem Hüst und Hott sogar die Federführung übernimmt, entzieht er sich seine Legitimation gleich selber.

Nicht zuletzt seit der Verfassungsrevision von 1999, die bei allen wichtigen bundesrätlichen Vorlagen ans Parlament vorgängig eine Vernehmlassung bei den Kantonen vorschreibt, sind die Kantone sowieso fest in die Entwicklung der Bundesgesetzgebung eingebunden. Zudem führen die Kantone in Bern das «Haus der Kantone», wo 13 unterschiedliche Konferenzen der Kantonsregierungen und 16 assoziierte Organisationen massgeblich damit beschäftigt sind, die Bundesgesetzgebung im vermeintlichen Sinne der Kantone zu beeinflussen. Ganz zu schweigen von den Regierungskonferenzen der Regionen, des Metropolitanraums Zürich oder der Gebirgskantone.

Auch ohne Ständerat sind die Kantone also ein gewichtiger Partner bei neuen Bundesvorlagen. Dass im Nationalrat die kantonale Gewichtung auch berücksichtigt wird, ist allein deshalb schon gegeben, weil auch für den Nationalrat die Kantone die Wahlkreise darstellen. Es ist also völlig abwegig zu meinen, der Nationalrat lasse die kantonalen Interessen ausser Betracht. Jüngstes Beispiel ist der Entscheid für die Bundeshilfe für die Stahl- und Aluminiumindustrie, den der Ständerat aus ordnungspolitischen Gründen eigentlich hätte korrigieren müssen, wenn er noch die «chambre de réflexion» wäre.

Umgekehrt wurde bei der OECD-Mindestbesteuerung der Föderalismus vom Ständerat vehement «eingeklagt». Und so hat das Parlament mit der Einführung des sogenannten Leadkantonkonzepts zwar dem jeweiligen Leadkanton die Veranlagungs- und Verfügungshoheit über die Ergänzungssteuer belassen, gleichzeitig aber die anderen beteiligten Kantone mehr oder weniger «entmachtet». Da wäre eine Bundeslösung mit einer gleichmässigeren Ertragsverteilung an die Kantone die administrativ viel weniger aufwendige und gerechtere Lösung gewesen. Ob im Einzelfall ein Kanton über alle anderen beteiligten Kantone bestimmt oder in jedem Fall der Bund diese internationale Ergänzungssteuer gesetzeskonform sowie mit der nötigen Konstanz und Verlässlichkeit umsetzt, ist ein unnötiges Ränkespiel um Macht im Föderalismus.

Die jetzt beschlossene Umsetzung wird die Diskrepanz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Rahmenbedingungen innerhalb der Kantone (auch für die Bewohner) nochmals stark vergrössern und voraussichtlich unnötige Unterschiede bei der Praxisanwendung schaffen. Es wäre Sache des Ständerates gewesen, hier mit dem gesamtheitlichen und föderalen Blick von Bundesbern aus eine schweizweit einheitliche und in der Praxisanwendung klare und konstante Lösung zu finden.

Warum nicht ein Einkammersystem?

Die Entscheide in der Ständekammer entlaufen ihrer angedachten Funktion immer mehr. Zu viele monetäre, parteipolitische und opportunistische Einflüsse spielen bei der Entscheidungsfindung mit. Es wäre deshalb im Rahmen einer Verfassungsrevision unbedingt zu prüfen, ob sich die Standesvertretungen nicht den Grundsätzen der Bundesräte – mindestens teilweise – unterordnen sollten: keine bezahlten Nebenämter (mögliche Ausnahme: eigene Unternehmen und die Weiterführung bestehender Arbeitsverhältnisse) und kein Einsitz in Geschäftsleitungen von Parteien mehr. So würde sich die Spreu automatisch vom Weizen trennen. Das Mandat im Ständerat wäre wieder primär dem föderalen Prinzip des Staatsaufbaus mit einer sauberen Aufgabenteilung samt entsprechenden Rechten und Pflichten untergeordnet. Monetäre, parteipolitische und opportunistische Interessen der einzelnen Mitglieder würden in den Hintergrund gedrängt oder teils ganz verschwinden. Die Repräsentation in der Volkskammer muss allumfassend bleiben, weshalb hier Einschränkungen weniger opportun sind.

Ohne das Ständemehr bei Volksabstimmungen in Frage zu stellen, liesse sich bei einer Verfassungsrevision als Alternative sogar die schon 1848 lange favorisierte Idee eines Einkammersystems (wie auch immer aufgebaut) prüfen. Gerade in sich schnell wandelnden Zeiten könnten Entscheide rascher und mit viel weniger Bürokratie herbeigeführt sowie alsdann der Umsetzung zugewiesen werden. Das heutige Zweikammersystem garantiert zwar eine bessere Heranreifung des Entscheides, beinhaltet aber auch bewusste und unnötige Machtspiele zwischen den Kammern und führt (zu) oft zu schlechten Kompromissen. Eine seriöse und sachbezogene Beratung einer Vorlage in einem ausgewogenen Einkammersystem (zum Beispiel keine Mehrheit für Gross- und Stadtkantone mit dementsprechenden Vertretungen der kleineren Land- und Gebirgskantone) kann gegenüber dem heutigen System absolut gleichwertige Lösungen ergeben.

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