
Fixierung auf Details versperrt den Blick aufs grosse Ganze
Die Soziologie ist redundant und konform geworden. Statt auf Champions-League-Niveau Erbsen zu zählen, sollte sie sich wieder an der Arbeit ihrer Klassiker orientieren.
Zuweilen ist es durchaus berechtigt, nostalgisch zu sein. Zwar war früher nicht alles besser, wie der Volksmund zu wissen glaubt – manches aber ist doch deutlich aufregender und auch origineller gewesen als heute. Diesen Eindruck jedenfalls hat, wer die Soziologie der Gegenwart mit jener der 1960er-Jahre vergleicht. Unschwer ist zu erkennen: Gesellschaftsdiagnose ist mittlerweile viel langweiliger als vor einem halben Jahrhundert.
In den 1960er-Jahren ging es ums Ganze. Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen, Niklas Luhmann, Raymond Aron oder David Riesman widmeten sich nicht irgendwelchen Nebensächlichkeiten. Sie interessierten sich für die grossen Fragen: Was bedeutet der industrielle Kapitalismus für den Alltag der Menschen? Wie wirkt der bürokratische Staat auf die Lebensführung der Leute? Besitzen Moralforderungen eine asoziale Komponente? Was macht Technologie mit der «Seele» des einzelnen? Sind moderne Verhältnisse mehr oder minder endgültig – oder lässt sich an ihnen etwas Fundamentales ändern?
Die Antworten, die diese Wissenschafter darauf gaben, verfügten meist nicht nur über eine analytische, sondern auch über eine argumentative Wucht; ausserdem waren sie hervorragend geschrieben. Ein Zauberwort der Epoche hiess «Kristallisation»: Viele Beobachter waren sich einig, dass sich die westeuropäische Geschichte in einem Prozess der Versteinerung befinde. Demnach sei es unter den Bedingungen der damaligen Gegenwart zu einer Gleichförmigkeit des Lebens gekommen – die Geschäftigkeit in den Städten etwa täusche nur über die Wiederholung des Immergleichen hinweg.
Die zu Klassikern avancierten Einsprüche jener Autoren mögen aus heutiger Perspektive vielleicht als vermessene Ausführungen engstirniger Kulturpessimisten erscheinen. Allerdings: Diese Zeitdiagnostiker fühlten sich der intellektuellen Redlichkeit gegenüber äusserst stark verpflichtet; demgemäss verfolgten sie ihre Arbeit mit fast heroischem – neuerdings als antiquiert geltendem – Ernst. Das letzte Ziel war so naheliegend wie utopisch, bestand es doch darin, die Bedeutung der Welt, in die man hineingeworfen worden war, zu begreifen. So war geboten, das Wechselverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum zu begreifen.
Die neue Lust an Detailfragen
Von solch brennender Neugierde an der Stellung des Menschen im modernen Kosmos ist nicht mehr viel übrig. Heute, einige Jahrzehnte nach dem «Ende der grossen Erzählungen» (Jean-François Lyotard), ist die Sozialwissenschaft – von einigen bezeichnenderweise schon älteren Ausnahmeerscheinungen wie dem immerfort energischen Jürgen Habermas abgesehen – eine ganz andere. Statt kühner Kombination aus Zeitdiagnose und Zeitkritik betreiben etliche Fachvertreter Erbsenzählen auf Champions-League-Niveau, vornehmlich in einer Sprache, die mit Adorno nach wie vor als «Jargon der Eigentlichkeit» zu attackieren wäre: Schliesslich wird in sozialwissenschaftlichen Arbeiten von heute zunächst versucht, sich auf ein Detail eines Phänomens zu konzentrieren, um sich anschliessend als grosser Welterklärer zu geben, der eigentlich alles … immer besser weiss.
«Statt kühner Kombination aus Zeitdiagnose und Zeitkritik betreiben
etliche Fachvertreter Erbsenzählen auf Champions-League-Niveau.»
Mit der Überspezialisierung aufs Detail ging der sozialwissenschaftliche Blick für das grosse Ganze verloren. So folgten auf inhaltliche auch methodische sowie formale Veränderungen: Abstrakte Theorie verlor gegenüber der empirischen Bestätigung an Bedeutung, und essayistische Pointierung wich soziologischem Jargon. Das produziert heute eine fortwährende Flut von Arbeiten, die genauestens zeigen wollen, wie viel Prozent einer Probandengruppe auf etwaige Fragen mit «ja, stimme zu» respektive mit «nein, stimme nicht zu» antworten.
Egal, ob es sich hierbei um die Freizeitgestaltung jugendlicher Migranten, um das Paarungsverhalten homosexueller Männer oder um den Karriereverlauf unterprivilegierter Frauen geht: Typischerweise wird das Leben von Individuen, die «Mikroebene», mittels einer statistisch auswertbaren Befragung, mit dem «Interview», erforscht, wobei die Ergebnisse in Journals (wissenschaftlichen Fachzeitschriften) publiziert werden, die auf alles Wert legen ausser auf Sprachfluss – und grundsätzlich nur von anderen Soziologen gelesen werden. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaften will man seiner «Peer Group» so möglichst «exakt» zeigen, wie sich die Menschen der Gegenwart verhalten.
Kommt es zur Publikation der Forschungsarbeit vor einem grösseren Publikum, spricht man der…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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