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Fixierung auf Details versperrt den Blick aufs grosse Ganze
Christian Marty, zvg.

Fixierung auf Details versperrt den Blick aufs grosse Ganze

Die Soziologie ist redundant und konform geworden. Statt auf Champions-League-Niveau Erbsen zu zählen, sollte sie sich wieder an der Arbeit ihrer Klassiker orientieren.

Zuweilen ist es durchaus berechtigt, nostalgisch zu sein. Zwar war früher nicht alles besser, wie der Volksmund zu wissen glaubt – manches aber ist doch deutlich aufregender und auch origineller gewesen als heute. Diesen Eindruck jedenfalls hat, wer die Soziologie der Gegenwart mit jener der 1960er-Jahre vergleicht. Unschwer ist zu erkennen: Gesellschaftsdiagnose ist mittlerweile viel langweiliger als vor einem halben Jahrhundert.

In den 1960er-Jahren ging es ums Ganze. Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen, Niklas Luhmann, Raymond Aron oder David Riesman widmeten sich nicht irgendwelchen Nebensächlichkeiten. Sie interessierten sich für die grossen Fragen: Was bedeutet der industrielle Kapitalismus für den Alltag der Menschen? Wie wirkt der bürokratische Staat auf die Lebensführung der Leute? Besitzen Moralforderungen eine asoziale Komponente? Was macht Technologie mit der «Seele» des einzelnen? Sind moderne Verhältnisse mehr oder minder endgültig – oder lässt sich an ihnen etwas Fundamentales ändern?

Die Antworten, die diese Wissenschafter darauf gaben, verfügten meist nicht nur über eine analytische, sondern auch über eine argumentative Wucht; ausserdem waren sie hervorragend geschrieben. Ein Zauberwort der Epoche hiess «Kristallisation»: Viele Beobachter waren sich einig, dass sich die westeuropäische Geschichte in einem Prozess der Versteinerung befinde. Demnach sei es unter den Bedingungen der damaligen Gegenwart zu einer Gleichförmigkeit des Lebens gekommen – die Geschäftigkeit in den Städten etwa täusche nur über die Wiederholung des Immergleichen hinweg.

Die zu Klassikern avancierten Einsprüche jener Autoren mögen aus heutiger Perspektive vielleicht als vermessene Ausführungen engstirniger Kulturpessimisten erscheinen. Allerdings: Diese Zeitdiagnostiker fühlten sich der intellektuellen Redlichkeit gegenüber äusserst stark verpflichtet; demgemäss verfolgten sie ihre Arbeit mit fast heroischem – neuerdings als antiquiert geltendem – Ernst. Das letzte Ziel war so naheliegend wie utopisch, bestand es doch darin, die Bedeutung der Welt, in die man hineingeworfen worden war, zu begreifen. So war geboten, das Wechselverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum zu begreifen.

Die neue Lust an Detailfragen

Von solch brennender Neugierde an der Stellung des Menschen im modernen Kosmos ist nicht mehr viel übrig. Heute, einige Jahrzehnte nach dem «Ende der grossen Erzählungen» (Jean-François Lyotard), ist die Sozialwissenschaft – von einigen bezeichnenderweise schon älteren Ausnahmeerscheinungen wie dem immerfort energischen Jürgen Habermas abgesehen – eine ganz andere. Statt kühner Kombination aus Zeitdiagnose und Zeitkritik betreiben etliche Fachvertreter Erbsenzählen auf Champions-League-Niveau, vornehmlich in einer Sprache, die mit Adorno nach wie vor als «Jargon der Eigentlichkeit» zu attackieren wäre: Schliesslich wird in sozialwissenschaftlichen Arbeiten von heute zunächst versucht, sich auf ein Detail eines Phänomens zu konzentrieren, um sich anschliessend als grosser Welterklärer zu geben, der eigentlich alles … immer besser weiss.

«Statt kühner Kombination aus Zeitdiagnose und Zeitkritik betreiben
etliche Fachvertreter Erbsenzählen auf Champions-League-Niveau.»

Mit der Überspezialisierung aufs Detail ging der sozialwissenschaftliche Blick für das grosse Ganze verloren. So folgten auf inhaltliche auch methodische sowie formale Veränderungen: Abstrakte Theorie verlor gegenüber der empirischen Bestätigung an Bedeutung, und essayistische Pointierung wich soziologischem Jargon. Das produziert heute eine fortwährende Flut von Arbeiten, die genauestens zeigen wollen, wie viel Prozent einer Probandengruppe auf etwaige Fragen mit «ja, stimme zu» respektive mit «nein, stimme nicht zu» antworten.

Egal, ob es sich hierbei um die Freizeitgestaltung jugendlicher Migranten, um das Paarungsverhalten homosexueller Männer oder um den Karriereverlauf unterprivilegierter Frauen geht: Typischerweise wird das Leben von Individuen, die «Mikroebene», mittels einer statistisch auswertbaren Befragung, mit dem «Interview», erforscht, wobei die Ergebnisse in Journals (wissenschaftlichen Fachzeitschriften) publiziert werden, die auf alles Wert legen ausser auf Sprachfluss – und grundsätzlich nur von anderen Soziologen gelesen werden. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaften will man seiner «Peer Group» so möglichst «exakt» zeigen, wie sich die Menschen der Gegenwart verhalten.

Kommt es zur Publikation der Forschungsarbeit vor einem grösseren Publikum, spricht man der eigenen Tätigkeit gern vehement «Aktualität», «Relevanz» oder «Anwendbarkeit» zu – und vermischt sie dabei mit Politik. So enden insbesondere Arbeiten der nachrückenden Akademikergeneration oft mit dem gleichen, so vollmundigen wie wütenden Furor: Die «kolonialistische», «heteronormative», «patriarchale», auf Unterdrückung aller Minderheiten gerichtete Welt des «alten weissen Mannes» sei das Zentrum des Problems – und die «Perspektivierung» der postkolonialistischen, nichtbinären, genderfeministischen, auf Befreiung der Menschheit zentrierten Welt sei Teil der Lösung.

Man lese zur Probe allenfalls einen Klassiker dieser Form der Sozialforschung, namentlich Judith Butlers empiriefreie theoretische Abhandlung «Undoing Gender» oder aber einen einschlägigen Titel wie den unter anderem von Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband «Postkoloniale Soziologie» – in diesem finden sich gleich etliche Abhandlungen jener Sozialforschung: «Empirische Befunde» gehen da, so ist bereits im Untertitel zu erfahren, einher mit «politische[n] Interventionen». Demgemäss versteht sich der Band auch nicht zuletzt als «programmatischer Aufruf», wie ganz am Ende des einleitenden Aufsatzes zu lesen ist, als programmatischer Aufruf zu einer politisierten empirischen Sozialwissenschaft.

Geistige Gipfeltreffen

Diese Form der Sozialwissenschaft ist so konform, so redundant und damit auch so langweilig, dass es keine Überraschung ist, dass sie ausserhalb ihres eigenen Radius inzwischen kaum mehr beachtet wird: Vor allem in deutschsprachigen Gebieten lösen entsprechende Arbeiten nur noch selten Beachtung aus. Wer beginnt schon mit der Lektüre eines Textes, dessen Ende bereits bekannt ist? Eines Artikels etwa, der einstimmt in den allseits bekannten, seit Jahren dröhnenden Tenor?

Wäre es deshalb nicht von Vorteil, wenn die hiesige Sozialwissenschaft stärker auf ihre Klassiker Bezug nähme? Wenn sie die Fragen, die diese gestellt haben, häufiger formulieren würde? Wenn sie die Antworten, die diese gegeben haben, öfters bedenken würde? Gäbe ihr dieser unzeitgemässe Schritt nicht etwas von jenem Zauber zurück, den sie mal besessen hat, als sie in der Universitätswelt den Status einer Schlüsselwissenschaft einnahm?

«Wäre es deshalb nicht von Vorteil, wenn die hiesige Sozialwissenschaft stärker auf ihre Klassiker Bezug nähme? Wenn sie die Fragen, die diese gestellt haben, häufiger formulieren würde? Wenn sie die Antworten, die diese gegeben haben, öfters bedenken würde?»

Insbesondere mit Blick auf zwei zwischen Soziologie und Philosophie arbeitende Autoren ist zu erkennen, was die deutschsprachige Sozialwissenschaft sein könnte – wenn sich diese denn in Zukunft stärker auf ihre Herkunft besänne. Der eine, Adorno, musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor dem Nazi-Regime nach Amerika flüchten; der andere, Gehlen, machte dank seinen opportunistischen Zugeständnissen an dieses Regime eine steile Karriere.

Beide Soziologen traten an Tagungen, in Radio- oder in Fernsehsendungen auf, um die zentralen Probleme der Epoche zu diskutieren. Während sie sich grundsätzlich einig waren, dass die Gesellschaft in eine «Erstarrung» gerate, gab es bei ihnen in bezug auf etwaige Auswege aus dieser Situation erhebliche Differenzen. Als Reaktion auf einen Vortrag Gehlens meinte Adorno: «Die moderne Kultur erhält trotz ihres stationären Verhaltens immer noch Sprengstoff, der den gegenwärtigen Zustand zerstören und neue Bahnen eröffnen kann.» In einem Kommentar entgegnete der Gemeinte: «Schon lange habe ich das Wort ‹verwirklichen› gestrichen, das sich bei Ihnen noch kürzlich fand.»

Bei so fundamentalen, eloquent und mit gegenseitigem Respekt geführten Debatten zwischen Antipoden ist es kein Wunder, warum eine breite Öffentlichkeit in den Bann dieser Denker geriet: Ihre Auftritte waren gesellschaftliche Ereignisse, ihre Bücher erzielten riesige Auflagen, die Theoretiker wurden zu Berühmtheiten.

Wege in die Zukunft

Von einem solchen Stellenwert in der Öffentlichkeit können die allermeisten Sozialwissenschafter (und vor allem jene, die eine Monografie aus der Sparte «Das unternehmerische Selbst», «Das hybride Subjekt», «Der entgrenzte Mensch» usw. usf. vorlegen möchten) nur träumen. Was also tun? Vorneweg: Vielleicht nicht die schlechteste Idee ist es, sich einmal strikt gegen die hier geschilderte Entwicklung zu stellen. Man müsste so gerade nicht das tun, was Anfang März der Schweizer Sozialwissenschafter Marko Kovic an einer Tagung der ZHAW Winterthur zum Thema «Kritisches Denken an Hochschulen» in geradezu exemplarischer Weise gemacht hat, nämlich mit einer Verbindung zwischen einer unklaren Definition eines Begriffs und einer kleinen Menge an Empirie all das, was nicht in seine Agenda passt, als «unkritisch» zu brandmarken.

Man müsste vielmehr das tun, was Adorno in «Jargon der Eigentlichkeit» beispielhaft vorgemacht hat, nämlich einen theoretisch informierten, empirisch gesättigten und intellektuell unzeitgemässen Einspruch gegen eine geistige Entwicklung formulieren. Neben scharfen Spitzen gegenüber «antiintellektuelle[n] Intellektuellen» gab Adorno dort wie andernorts immer wieder auch zu verstehen, was es braucht, um der in Erstarrung zu geratenden Sozialwissenschaft Leben einzuhauchen: «Sprengkraft», «Abenteuerlust», «Skepsis» sowie «Ironie», zudem die «Reflexion der Reflexion» und eine Weigerung, «sich (…) ins Rechte zu setzen». Sprengkraft, Abenteuerlust, Skepsis und Ironie, ja – dies wäre der Sozialwissenschaft zu wünschen, bekäme sie so doch jenen Zauber zurück, den sie besessen hat, als sie ironischerweise unter der Herrschaft von alten, weissen Männern gestanden ist.

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Schafherde, erstellt mit der KI-Software Generai.
Der autoritäre Konformismus

Am Wandel des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern seit der Coronakrise zeigt sich, dass Konformismus ein besonderer Autoritarismus ist. Durch ihn macht das Individuum die Zwänge, mit denen es rechnet, zu seiner eigenen Sache. Damit einher geht ein grosser Gedächtnisverlust.

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