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Fit durch die Polykrise

Das rein auf das Aussehen ausgerichtete Bodybuilding gerät zusehends aus der Mode. Das funktionelle Krafttraining dagegen kommt zurück – mit dem Zeitgeist.

Fit durch die Polykrise
Ein junger Mann absolviert sein Fitnesstraining an einer Street-Workout-Anlage, Bild: Keystone/Manu Fernandez.

In den letzten Jahren sind das Fitnesstraining an Maschinen und monotone Kraftübungen mit Hanteln zunehmend in Verruf geraten. Flexibles, «funktionelles Training» mit dem eigenen Körpergewicht steht hoch im Kurs und verspricht spürbaren Nutzen im Alltag oder für spezifische Sportarten, ja einen für alle Eventualitäten gerüsteten Körper. Koordinativ anspruchsvolle Übungen, die mehrere Muskelgruppen gleichzeitig beanspruchen, verdrängen vermehrt die eingelenkigen, in festen Bahnen verlaufenden Isolationsübungen an Maschinen wie der Brustpresse oder eingelenkige Hantelübungen wie Bizepscurls.

Die Überlegung dahinter: Maschinentraining und repetitives Hantelstemmen können zwar Muskelmasse und Kraft aufbauen, doch der Körper bildet keine eigentlichen Fertigkeiten aus. Da die Bewegungen immer gleich verlaufen, werden manche Muskelfasern kaum oder gar nicht beansprucht. Eingespannt in die Maschine fallen zudem wichtige Aspekte wie feinmotorische Stabilisierungsarbeit weg. Funktionelles Training soll Fitness natürlicher und lebensnäher machen.

Unter dem Aspekt der Funktionalität ist das neue Trainingsprinzip überzeugend. Funktionelles Training macht den Körper alltagstauglicher und kann sowohl sportartspezifischen als auch therapeutischen Mehrwert haben. Bodybuilder hingegen mögen zwar eine beeindruckende Muskulatur besitzen, doch ob sie diese im Alltag oder in einer Sportart sinnvoll einsetzen können, steht auf einem anderen Blatt. Kräftig auszusehen, zählt für sie mehr als die Kraft selbst. Bodybuilder sind eher Künstler und Ästheten als Athleten. Mit Gesundheit hat ihre Praxis nur am Rande zu tun.

Zurück zu vernünftiger Fitnesskultur

Doch Funktionalität ist kein aus der Geschichte entrückter Wert an und für sich. Je nach Kontext ist sie mal wichtiger, mal nicht. Trainingslehren sind nie bloss rationale Optimierungsmassnahmen, sondern tragen stets auch unausgesprochene oder unbewusste, zeitgebundene ideologische, kulturelle, soziale und politische Elemente in sich. Betrachtet man funktionelles Training unter diesem Blickwinkel, erscheint sein Boom nicht als Ausdruck einer nach frivolen körperästhetischen Eskapaden – endlich! – zur Vernunft zurückgekehrten Fitnesskultur, sondern als ein Teil im veränderten kulturellen Puzzle des Zeitgeists.

«Kräftig auszusehen, zählt für sie mehr als die Kraft selbst. Bodybuilder sind eher Künstler und Ästheten als Athleten. Mit Gesundheit hat ihre Praxis nur am Rande zu tun.»

In der Hinwendung zum funktionellen Training zeigt sich eine wachsende Skepsis gegenüber einer autonomen Körperästhetik, die sich selbst genug ist: Körperkunst um der Körperkunst willen ist wie l’art pour l’art. Ähnliche Tendenzen gibt es auch im zeitgenössischen Kunstbetrieb, wo autonome Kunst ohne unmittelbare gesellschaftliche Funktion zunehmend kritisch beäugt wird; und ebenso im heutigen wissenschaftlichen Betrieb, in dem Forschung ohne direkt ersichtlichen Nutzen oft unter Rechtfertigungsdruck steht. Die Haltung, dass nur zählt, was eine messbare gesellschaftliche Funktion erfüllt – und alles andere als dekadent gilt –, hat auch hier Konjunktur.

Man kennt dieses Muster aus links- wie rechtsautoritären Regimen: Autonome Kunst und eine selbstreferenzielle Ästhetik sind ein Fetisch bürgerlicher Dekadenz und liberalen Ausweichlertums! Pumpen für die pure Form, das kann’s doch nicht sein! In diesem Sinne war Bodybuilding in der Sowjetunion als Sinnbild westlicher Dekadenz und als Hort asozialen Individualismus verpönt.

Für schwere Zeiten gewappnet

Die Skepsis gegenüber autonomer Körperästhetik und die gleichzeitige Huldigung des Funktionalen hängen aber auch zusammen mit einem wachsenden Krisenbewusstsein. Die Körper der Gegenwart sollen nicht mehr nur so aussehen, als seien sie stark, gesund, fit und belastbar. Das war in relativ sicheren Zeiten möglich. Heute, in der viel beschworenen Polykrise, müssen sie es auch tatsächlich sein. Schwäche und Dysfunktionalität, so mag mancher denken, kann man sich nicht mehr erlauben. Wer weiss, was noch kommt!

Und da wir obendrein in einer Ära der umfassenden Vernetzung – von Multi-, Trans- und Interdisziplinarität leben –, ist es nur folgerichtig, dass auch die Muskeln nicht mehr isoliert trainiert werden. In diesem Licht ist funktionelles Training keine selbstevidente Disziplin, sondern ein Sittenbild der Gegenwart.

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