Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Felsgeburt

Der deutsche Schriftsteller Thor Kunkel ist aus dem eitlen Berlin auf die ruhige Riederalp im Wallis gezogen. Wenn er gerade nicht schreibt, wandert er. Seine hier exklusiv vorliegende «Bergmeditation» ist nicht weniger als der würdige literarische Abschluss des Wanderherbsts 2013.

Felsgeburt
Thor Kunkel, photographiert von Hagen Schnauss.

In den Bergen habe ich zum ersten Mal meinen Geburtstag vergessen. Erst Tage später bemerkte ich das frische Kalenderblatt an der Wand und erinnerte mich. Was in der Berliner Bohème vielleicht als Zeichen von Luxusverwahrlosung gelten mag, hat hier oben keine Bedeutung. Ein Tag, ein Jahr, ein Jahrzehnt – manchmal dachte ich, es macht keinen Unterschied aus. 

Um ehrlich zu sein, der ausgefallene Geburtstag trug eher zu meiner Erheiterung bei: So schnell wird man zeitlos. Zumindest wenn die Gefährtin an diesem fragwürdigen Tag abwesend war. Oder kündigte sich so das Schicksal eines Weltflüchtlings an?

Ab einem bestimmten Alter empfiehlt es sich ohnehin nicht mehr, die Jahre zu zählen. Und Geburtstagskinder – solche, die sich so richtig schön freuen – haben mich von jeher enorm irritiert. Was sagt uns der status nescendi? Ein Erwachen in Blut und Schleim, so ähnlich wie es für viele auch wieder hinausgehen wird … Ist das so schön? Überhaupt – zu feiern, dass man noch lebt, lässt auf vieles, nicht aber auf allzu grosses Vertrauen in den Fortbestand der eigenen Existenz schliessen. Im Spin einer Grossstadt mag es richtiger und begründeter sein zu feiern: im Rattenrennen die spitze Schnauze zu heben und sich in dieser Schrecksekunde zu beglückwünschen, dass man auch diese Runde hinter sich hat, dass man noch immer kauft und verbraucht und somit seinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistet, auf jeden Fall noch nicht zur vernutzten und ausgemusterten Masse gehört. Und schon geht es weiter – im grossen Kreis, nicht wie hier in den Schweizer Alpen, von Ausserberg zum Baltschiedertal und der dort gelegenen Klause. Hier geht es einfach hinauf.

Ich hatte die Tour schon seit Wochen geplant, doch irgendetwas machte mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Mal war es das Wetter, mal die Frau, mal hartnäckige Behörden oder die notwendige Brotschreiberei; all das hinderte mich, meinen Rucksack zu packen. Dabei muss man doch einfach nur die Tür aufmachen, einmal tief Luft holen, und es geht los! Schon nach ein paar hundert Metern sind der ganze Schlamassel und die Ungemach des Daseins vergessen. Man ist nicht mehr da, ist weg von der deprimierenden Überbauung unserer Städte. Die Füsse wissen, wohin es geht, sie «schreiten» aus, wie es noch in den alten Bergbüchern heisst. Und die Seele reist etwas langsamer hinterher. So sortiert sie sich, lässt endlich los und wird plötzlich von der physischen Fortbewegung getragen. Wer lenkt? Die Seele ist es nicht. Fast könnte man sagen, der Wanderer sei Träger einer Bewegung, die das Denken, Fühlen und Handeln bestimme und doch nicht seinem eigenen Willen gehorche. Aristoteles sprach einst vom unbewegten Beweger; heute weiss ich, er meinte den Berg. Natürlich ist es für die meisten ein Schock zu erkennen, dass ihnen der Körper gar nicht gehört, dass er – je länger er im Sog, im Gehen ist – wie etwas Fremdbestimmtes agiert. Und dass das wichtige Persönchen, das man für die ganze Welt darstellt, eine kleine Zwangspause einlegen muss. Abends, auf einer Hütte, kommen Geist und Körper endlich gemeinsam in der Gegenwart an. Und alles ist wieder gut.

An einer Stelle etwas oberhalb von Ausserberg, wo sich jeder in der Kurve abbremsende Zug nach einem verreckenden Alphornbläser anhört, steige ich ein – nicht in die Wand, sondern in den Rhythmus der Landschaft. Die ersten Kilometer geht es an der Niwärch, einer alten Wasserleitung, entlang und abwechselnd über mit Nadel- und Blatthumus bedeckte Trassen fast unmerklich hinauf. Streckenweise verschwindet der Trampelpfad unter glitschigen Farnen und Knüppelholz, von dem es ölig schwarz tropft.

Es geht bergauf, die Luft ist trocken und frisch, wer es wie ich mit den Bronchien hat, der weiss den Herbst im Wallis zu schätzen. Wenn sich die Lärchen goldgelb und rostbraun verfärben und das Seidenblau des Himmels fast reiner ist als an einem Hochsommertag, dann zieht es selbst das seit Generationen hier lebende Bergvolk noch einmal hinaus. Jetzt ist die Zeit, wo man hier oben fast nur noch Einheimische trifft, sonnenverbrannte Sennen und ihre Clans, alte Dorfkönige und ihre kinderreichen Familien, angesäuselte Schafhirten oder verwegen aussehende Tramper – oder auch einfach nur Charlie Lau, unseren Bäcker, der aber selten weiter als bis zum Aletschwald kommt.

Man spürt, die Natur sammelt sich für den ersten Ansturm des Winters, der hier recht schnell und hart hereinschneien kann. Die Murmeltiere, diese klugen Lebensverschläfer, werden in wenigen Wochen ihre unterirdischen Gemächer beziehen. Bald legt sich das erste Weiss auf die Matten, und mit der Wanderschaft ist es dann erst mal vorbei.

Viel Besuch hat mein Ziel, die Baltschiederklause, wohl schon in den letzten Wochen nicht mehr gehabt. Nicht umsonst gilt sie als eine der entlegensten Hütten des Schweizer Alpen-Clubs. Ich hoffe, dass sie noch bewirtschaftet ist, denn ich wandere mit leichtem Gepäck: Eine Wasserflasche, Äpfel und etwas Trockenfleisch, mehr habe ich selten dabei. Auch wandere ich ohne Karte. Warum nicht? Für Umwege bin ich dankbar. Ich muss einfach nur gehen, die Zeit in zurückgelegte Kilometer umsetzen und den mal tosenden, mal gluckernden Baltschiederbach im Blick behalten. Denn der fliesst auf das Jägihorn zu. Und vor dessen südlichen Wänden liegt seit 1922 die von Thunern erbaute Baltschiederklause. Daran wird sich so schnell nichts ändern.

Statt mich um Wegzeichen zu kümmern oder gar auf die gepixelten Pfeile eines GPS-Handys zu achten, lasse ich die Natur auf mich wirken, mal das hervorleuchtende Moos zwischen den Felsen, mal die wolligen Gräser und Sträucher, dann wieder die letzten gaukelnden Schmetterlinge – Zitronenfalter, Apollos und silberpelzige Bläulinge –, die es immer noch gibt. Ich weiss, sie sind nur noch für kurze Zeit da, dann überführt sie der strenge Frost in eine noch stillere Welt. Die menschliche Lebenserwartung ist glücklicherweise um einiges länger. Man fragt sich trotzdem, ob ein Sommer wohl ausreichen würde, ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst – also dem eigenen Werden und Vergehen – zu entwickeln. Die Leuchtkäfer haben bekanntlich noch weniger Zeit. Ein paar Stunden, und sie liegen wieder leblos im Gras.

Ich nähere mich meinem ersten Rastplatz. Das Baltschiedertal ein menschenleeres Hochtal zu nennen ist nicht verkehrt, obwohl man unterwegs immer wieder noch höher gelegene menschliche Ansiedelungen ausmachen kann: Bergdörfer unter dem Gärsthorn, die sich, aus der Ferne betrachtet, von der Grössenordnung her kaum von weidenden Schwarznasen1 unterscheiden. Der Blick in die Weite dieser Schöpfungslandschaft öffnet auch innere Räume; wer sich hier «unendlich klein» fühlt, der macht mit Sicherheit etwas verkehrt. Die Mischabelgruppe mit Dom, Tätschhorn und Lenzspitze im Rücken, geht es immer weiter auf die Ausläufer des westlichen Aarmassivs zu. Auf der anderen Seite schliesst sich das obere Lötschental an, es ist mit etwas Kletterei von der Klause gut zu erreichen. Nach einer Brücke über den Baltschiederbach führt ein schmaler Weg eine teils grasige, teils mit Lärchen bestandene Flanke hinauf, ein Bachlauf leitet zu einem verlassenen Ort. Die Karte sagt Eiiltini – inneres Senntum. Aha. Doch die Stallungen sind ebenso leer wie die Häuser. Im Vergleich mit einer Bündner Maiensäss eine eher spartanische Ansammlung von improvisorischen Bleiben. Ein von Hand beschriftetes Schild weist auf Trinkwasser hin – hier haben offensichtlich gute Menschen gewohnt. Vielleicht wohnen sie auch immer noch hier, zumindest die Sommermonate über, denn echte Sennen führen nach wie vor ein nomadisches Leben.

Vor einer Terrasse, deren Architektur auch auf einen Campingplatz irgendwo in Brandenburg passen würde, mache ich Rast. Die Vorstellung, allein zu sein, trügt allerdings: Zwei Berg-Hobos grillen gleich nebenan vor einer dicht gezimmerten Bude. Sie sind überrascht, mich zu sehen, und fragen, ob ich etwas abhaben will – Maiskolben, verdächtig aussehende Parasolpilze und Brathähnchen «von einem Bauern aus Eggen». Im übrigen weht eine ordentliche Fahne zu mir her­über, sie haben Selbstgebrannten dabei. Aus den vielen Aprikosen, die es hier gibt, wird nicht nur Marmelade gemacht. Dass sie Schafzüchter sind – Schwarznasenzüchter – aus Visp, macht uns quasi zu Nachbarn. Und dass ich in der Lage bin, ihren Dialekt zu verstehen, das finden sie «für einen Deutschen» gar nicht schlecht. Sie würden sich selbst kaum verstehen, die «swer sprak», sagt der eine.

«Trilli-tralli, trilli-tralli!» Was immer sie damit meinen. Ich setze mich jedenfalls an ihre Träscha – wie die Feuerstelle hier heisst.

Die Baltschiederklause ist ihnen auch ein Begriff. «Einmal hat mir gereicht», meint der mit dem Ohrring und der getönten Brille. Er meint auch, ich sei noch weit von der Klause entfernt. Am Ende des Tals, da ginge es erst richtig los. «Elende Durststrecke.» Dabei blickt er stirnrunzelnd auf seine Uhr. Später erzählt er auch von einer Hüttensau namens Tanja und dass ich ja nachts aufpassen soll. «Was das Servicepersonal heute alles anstellt, um sich noch was beizuverdienen.» Später stellt sich heraus, dass er eine andere Hütte in einem anderen Tal meint – in Tirol … Es sind die üblichen derben Spässe, wie sie Männer machen, die selbst auf dem Trockenen sitzen.

Dennoch sind diese beiden aufrichtigen Kerle geradeheraus mit dem, was sie sagen. Denn wenn es hier oben in aller Abgeschiedenheit eine Pflanze gibt, die blüht und gedeiht, dann ist es die Wahrheit. Sie ist vielleicht die schönste Blume der Alpen. Hier raubt ihr kein moralinhaltiges und ideologisches Unkraut das Licht. Man sagt es so, wie es ist. Und so ist es gut. Jeder, der die Berge bewusst abseits der ausgetretenen Pfade durchstreift, weiss, wie stark diese schlichte Blume riecht. Sie ist auch der Grund, warum ein Bergwanderer den anderen grüsst. Warum man jemanden einlädt, wenn man von etwas im Überfluss hat. «Gäbe wer, solange wer hey!», heisst der Volksspruch, der bis heute Gültigkeit hat. Die Standesdünkel haben hier nicht etwa aufgehört zu bestehen – es hat sie vielmehr nie wirklich gegeben. Das Gefühl einer ungewissen Zukunft sitzt von jeher mit den Menschen am Tisch; das stärkt die Gemeinschaft, vor allem in Zeiten der Not. Ja, die staatlichen Subventionen hätten vieles erleichtert, aber die Schafzüchterei sei dennoch ein «ziemlich defizitäres Geschäft», merkte der Jüngere an.

«So wie das Leben», tröste ich ihn.

Da müssen sie lachen, und wir trinken einen hochprozentigen Fingerhut auf die Wahrheit. Was immer es ist, es schmeckt fast wie Cointreau, aber dann doch eher nach Aprikosenschnaps oder wie eine Mischung aus beidem. Der Ältere will mir noch eine Flasche verkaufen, aber ich lehne ab. Wenn man kein Geld hat für spontane Käufe, ist das Leben tatsächlich ein ganzes Stück einfacher; man kann auf Impulse, die aus der Schmelze einer weitverbreiteten kommerziellen Liederlichkeit stammen, nicht reagieren. Nirgends ein unwiderstehliches Angebot oder ein Schnäppchen, dem man zusprechen könnte. Man fühlt sich – um dem Erhalt des eigenen Selbstwertgefühls Rechnung zu tragen – geradezu verpflichtet, jedes – auch das netteste – Angebot als Überfluss abzutun. Wie befreit geht man dann durch den Tag.

Halb vier. Natürlich bin ich viel zu spät dran, ich muss schnell Höhe gewinnen. Immer wieder kommt mir aber der breite Bach in die Quere, und es wird heiss. Sehr heiss sogar. Erst jetzt merke ich, wie ausgetrocknet ich bin und dass es doch besser gewesen wäre, die Wasserflasche an der Quelle von Eiiltini zu füllen. Andererseits bin ich ja von Bächen umgeben. Das Wasser des Baltschiederbachs wird von mehreren Gletschern gespeist, es ist eiskalt und sicher nichts für Mikroben. Entkeimungstabletten habe ich nie dabei, wir sind hier schliesslich nicht im Sudan. Weiter geht es, dem gurgelnden und fauchenden Wasser nach in die feinsandige Schwemmebene hinein, mal über Geröllhalden und Moränen hinweg, mal über wacklige, von Menschenhand gezimmerte Stege. Das Jägihorn ist jetzt deutlich zu sehen. Ein anfliegender Heli verrät mir dann auch die Lage der Hütte, die ansonsten vor den graubraunen Felswänden unsichtbar ist. Einmal in ihren Konturen erfasst, wirkt sie zum Greifen nahe. In endlos langen Kehren und mit Sicht auf den Üssren Baltschiedergletscher führt der Weg nun hinauf.

Wo immer die unbelebte Materie in Bewegung geraten ist, wo sich Elementarkräfte streiten, entstehen Strukturen von ästhetischem Reiz: die Oberflächenformen des Gletschers, seine gleichmässigen Querspalten und Eiswülste, das Netz der Wasseradern am Gletschertor. Selbst das Geschiebematerial auf den Moränen entbehrt nicht einer gewissen Struktur. Aus der Indifferenz des gefrorenen Wassers entstehen überall ohne menschliches Zutun Formen und Muster. Die Natur scheint gar nicht anders zu können; jede scheinbar regellose Zusammenballung bringt – wie die Chaosforschung hinlänglich bewiesen hat – selbstähnliche Fraktale hervor, die das Grösste im Kleinsten spiegeln. Nichts anderes macht – nüchtern betrachtet – den Reiz einer Berglandschaft aus. Wer eine Weile sucht, der wird in jedem Hochtal der Schweiz einen Stein finden, der dem Matterhorn gleicht, winkelgenau. Meine Frau fand einen nur wenige Meter vor unserer Haustür.

Man darf nie vergessen, was diese Erkenntnis auch für den Menschen bedeutet. «Ein organisches Wesen ist ein Mikrokosmos», notierte sich Darwin 1868, «ein kleines Universum, gebildet aus einem Wirt von selbstreproduktiven Organismen, die winzig klein und so zahlreich wie die Sterne sind.» Dass alles organische Leben aus energetischen «Verknotungen» besteht, Ursache des Verschlingens oder Verschlungenwerdens, Ursache von Anziehungen sexueller oder bestialischer Art, diese «Vorgehensweise» der Natur wirft einmal mehr die Frage nach ihrem charakteristischen Wesenszug auf. Und mit welchem Recht glaubt der Mensch, dieses Wesen jemals überwinden zu können?

Wir waren viele, bevor wir eins wurden, und werden es wieder sein.

Wo der Weg zu einem verlassenen Bergwerk abzweigt (hier oben wurde tatsächlich einst Molybdän abgebaut), geht es an einem umgedrückten Gedenkkreuz vorbei. INRI 1953, demnach kein so altes Kreuz. Bei der Frömmigkeit der Walliser ist es dennoch ein Wunder, dass es nicht längst wieder kerzengerade steht. Andererseits: Was von tonnenschweren Schneemassen plattgewalzt wurde, lässt sich von Menschenhand nicht mal so im Vorbeigehen richten. Die Natur hat hier oben das letzte Wort. Wer das vergisst, wer sich verkombiniert oder verschätzt, der muss sich nicht wundern, wenn ihn die ganz grosse Fliegenklatsche erwischt.

Der Weg verläuft sich jetzt immer wieder oder stellt sich als Kuhpfad heraus. Unterhalb des Stockhorns, wo sich der flache, von Kalkstein getrübte Baltschiederbach in zahllosen Wasserläufen verliert, heisst es zum ersten Mal spuren. Der Untergrund ist hier manchmal fast schlammig. Die Vorstellung, auch nur so eine Art Dinosaurier zu sein, der in der Meeresmolasse seinen Fussabdruck hinterlässt, dieser Gedanke trägt im abnehmenden Licht des Tages zur Heiterkeit bei. Und tröstet über nasse Füsse hinweg. Im halb ausgetrockneten Flussbett sehe ich später Millionen glatte, ovale, augenlose Gesichter. Fast gleichförmig vom Wasser abgeschliffene Kiesel belegen, dass ein Stein im Strom seine Ecken und Kanten verliert. Zerklüftete, in sich brüchige, höchst individuelle Steine dagegen finden sich nur am Rande des Stroms. Ich könnte heulen; nicht, weil mich der Widerstand inzwischen schmerzt, den meine Beine noch immer leisten, sondern weil ich begreife: Es geht eben nur so oder so. Man stirbt als einer, man stirbt als keiner.

Mensch oder Stein, es scheint dasselbe.

Und je länger man geht, je länger man in diese metaphysische Landschaft eintaucht, die einen ihrerseits von allen Seiten durchdringt, umso deutlicher spürt man die in den Gesteinen gespeicherte Lebenslust: Jeder Kiesel, jedes noch so kleine Körnchen hat nur diesen einen sehnlichen Wunsch. Die von Menschen künstlich aufrechterhaltene Grenze zwischen dem organischen und dem anorganischen Reich beginnt zu zerfliessen. Man ahnt, dass es so etwas wie tote Materie gar nicht gibt, denn alles, was lebt, entspringt ja dem inneren Drang zur Struktur. Deren schönste Ausprägungen, die Kristalle, balancieren auf dem schmalen Grat zwischen organischer und anorganischer Existenzweise. Im Binntal, südöstlich von hier, sind die Felsen stellenweise regelrecht von Kristallen durchwachsen. Dort trifft man auch heute noch mit Geologenhämmerchen bewaffnete Strahlertrupps an – Kristallsucher, die es hier bereits in der Römerzeit gab.

Hier, im Baltschiedertal, sind es «Steinmännchen», denen man immer wieder begegnet: figurenartige Gesteinsformationen, die als Wegmarkierungen dienen. Manche davon haben eine beachtliche Grösse. Da sich der Pfad immer wieder verliert, erfreut sich der Wanderer an ihrer wachsenden Zahl. Wie die Ureinwohner eines verwunschenen Hochtals stehen sie plötzlich überall und weisen den Weg. Ob diese Steine, falls sie denn reden können, zu denen gehören, die Gott loben und preisen? Wo die Menschen schweigen, werden die Steine schreien; das steht nicht nur in der Lutherbibel geschrieben. Damit war wohl das Zeugnisablegen, aber auch das Erbarmen gemeint. Doch Steine werden bekanntlich sehr selten und schon gar nicht von Worten erweicht. Um ihnen beizukommen, wurden die härteren Hämmer erfunden, doch «nur fallendes Wasser höhlt wohl den grauen Fels», wie es schon bei Chastelain de Couci, einem Troubadour des 12. Jahrhunderts, heisst. Paracelsus, der in der Schweiz geborene Alchemist, Astrologe, Laientheologe und Philosoph aus dem 15. Jahrhundert, empfahl, nicht auf Felsen zu säen; eine spanische Volksweisheit besagt, dass Bestechlichkeit den härtesten Stein aushöhle und schliesslich zerbreche.

Welcher Theorie man auch folgen mag, man kann viel Praktisches von ihnen lernen: Dass zwei gleich harte Steine schlecht mahlen, das trifft auch auf zwei gleichgeartete oder gleich «harte» Menschen zu. Die Unterschiede sind wichtig für das Miteinander. Kein Stein wie der andere, kein Mensch wie der andere – vielleicht ist das die unbedingte Erkenntnis hier am Ende des Tals.

Vor glattgestrichenen, schwefelgelben Federwolken lege ich die letzten hundert Höhenmeter zur Hütte zurück. Endlich taucht sie auf, eine aus Stein gemauerte Zuflucht wie in einem Alpin-Film der 1930er Jahre. «2783 Meter» steht über der Tür. Die bemalten Fensterläden verströmen einen Hauch von gelebter Helvetik, freilich einer vergangenen Zeit.

Der Weg steckt mir jetzt wie Blei in den Knochen. Wenn es darum ginge, ein kollektives Ziel unserer Spezies vorzuschlagen, ich würde die Verbesserung unserer physischen Komponenten an erster Stelle benennen. Da müsste in Zukunft noch einiges gehen.

Erschlagen vom Kampf mit der Schwerkraft geniesse ich den Sonnenuntergang über dem Bietschhorn, dessen wolkenumlagerte Spitze kupferrot zu leuchten beginnt, als stünde ein Vulkanausbruch unmittelbar bevor. Ausser mir sind noch zwei alte Berggänger da, verschlossen wirkende Männer, die aus dem Lötschental kamen und sich nur durch Augenzeichen zu verständigen scheinen. Endlich kommt die Wirtin – sie heisst tatsächlich nicht Tanja – und fragt, ob ich Nachtessen wolle: Es gibt Kartoffeln, Speck und getrocknete Bohnen, eine Walliser Spezialität. Da sagt man am Ende des Tages nicht nein.

Letzte Streiflichter, dann ist der mächtige Berg nur noch ein Schattenschnitt, der sich unter den anderen einreiht. Hier draussen weht ein eisiger Wind vom Gletscher herauf. Der Tee, den mir die Hüttenwirtin bringt, kühlt im Rekordtempo ab. Auch die beiden alten Berggänger zieht es nun in die Wärme der Hütte hinein. Ich bleibe trotzdem noch eine Weile hier draussen, während die Dunkelheit wie ein graues Schemen heraufkriecht. Von den weissen Spitzen des Mischabels ist bald nichts mehr zu sehen; schliesslich reicht der Tiefblick nicht mehr zum Ausgang des Baltschiedertals. An den westlichen Hängen dagegen glitzern jetzt die Lichter der hochgelegenen Dörfer wie glimmende, bernsteinfarbene, vom Himmel gefallene Sterne.

Ich notiere: Hier erst, auf einem der vorgelagerten Dächer der Welt, blickt man fast sehnsüchtig zu den fernen Lagerfeuern der Menschen zurück. Man wünscht sich, dass sie ewig so leuchten mögen in der kosmischen Nacht, die sich mit der Nacht der westlichen Halbkugel vermählt und der sie noch weniger bedeuten dürften als einem Nachwanderer die Glühwürmchen, die er unterwegs sieht. Da war mal etwas – was war es, bevor es wieder verlosch?

Man glaubt die Steine schon jetzt schreien zu hören. Schlaft gut, ihr Menschen.

 


Der vorliegende Text ist auch Bestandteil von Thor Kunkels neuem Buch «Wanderful. Bergmeditationen», das im Frühjahr 2014 bei Eichborn erscheint. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!