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Feige

«La France a encore une fois été frappée par un acte lâche et sanglant.» – EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 23. März 2018 nach dem Terroranschlag von Trèbes.

Es gibt Adjektive, die wie Parasiten an bestimmten Hauptwörtern festgewachsen scheinen. «Feige» ist so eines. Ein feiger Mord, ein feiges Attentat – als wären ein Mord oder ein Attentat an sich nicht grauenvoll genug, soll das kleine Wort «feige» die Verabscheuungswürdigkeit derartiger Akte herausstreichen. Diese weitverbreitete Verwendung ist jedoch schief – und das nicht nur aus logischen Gründen, weil allenfalls nur der Mörder feige sein kann, nicht aber der Mord.

«Feige» zu sein, bedeutet, dass jemand vor einer empfundenen oder realen Gefahr zurückschreckt. «Feigling, Feigling!», rufen Kinder hänselnd, wenn eines von ihnen auf dem Dreimeterbrett steht und sich nicht überwinden kann, ins Schwimmbecken hinabzuspringen. Schon da schwingt ein Ehrbegriff mit. Dieser wird auf ernste Weise bedeutsam, wenn der Gegner nicht bloss das Wasser ist, sondern ein echter Feind. Wer nicht eingreift, wenn ein anderer Mensch bedroht wird, ist ein Feigling und entsprechend ehrlos, zumindest wenn er nicht aus Klugheit so handelt, sondern aus Furcht, selber zu Schaden zu kommen. Im Krieg gilt die Fahnenflucht eines Soldaten als «Feigheit vor dem Feind», als unehrenhafte Pflichtverletzung. Wie aber soll diese Bedeutung zu einem Attentäter passen, der sich selber in die Luft sprengt oder sich in eine Lage begibt, in der er erwarten muss, im Kugelhagel der Polizei zu sterben? Dem man Angst, persönlich zu Schaden zu kommen, also kaum vorwerfen kann?

Um das zu verstehen, muss man um die Ecke denken – denn gemeint ist etwas anderes: die Heimtücke, die Boshaftigkeit, die sich im bewussten Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer zeigt: Die Kunden des Supermarkts im südfranzösischen Trèbes ahnten nicht, dass sie sich in Gefahr begaben, und konnten sich deshalb nicht schützen. So absurd es ist, sich auszumalen, wie das denn konkret hätte aussehen sollen – Heimtücke ist nun einmal ein wichtiges strafrechtliches Merkmal zur Unterscheidung von Mord und Totschlag. Solche Heimtücke hat insofern etwas mit Ängstlichkeit zu tun, als der verblendete Attentäter vor der einzigen Gefahr zurückschreckt, die er als bedrohlich zu empfinden vermag: dass seine Tat vereitelt werden könnte. Aber für ihn ist das nur klug, nicht feige.


 

Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».

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