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EZB, ESM und Target2

Mit wie vielen hundert Millionen stehen die Euro-Schuldnerstaaten bei den Euro-Gläubigerstaaten wirklich in der Kreide? Wie genau funktioniert das ominöse europäische Zahlungssystem Target2? Und wer bezahlt am Ende die Rechnung? Randbemerkungen aus aktuellem Anlass.

In medias res: allein aufgrund des bestehenden Euro-Rettungsschirms schulden die Euro-Peripheriestaaten den Euro-Kernstaaten rund 600 Milliarden Euro. Unbeachtet bleiben dabei die Schulden im Rahmen des Zahlungssystems Target2 der Europäischen Zentralbank (EZB). Im Jahr 2007 waren es 60 Milliarden Verbindlichkeiten von Zentralbanken südlicher Länder gegenüber jenen des Nordens, im Jahr 2010 schon 260 Milliarden, dann im Jahr 2011 500 Milliarden, nunmehr eine Billion Euro, morgen vielleicht zwei Billionen. Eine Grenze nach oben hat die EZB nicht gezogen. Das seien alles reine Verrechnungsposten, wiegelt sie ab. Das sehen wir anders. In Wirklichkeit erhalten die Schuldner durch das EZB-Zahlungssystem erstklassiges Geld gegen drittklassige Sicherheiten. Mit diesen Schulden kaufen sie in den Gläubigerstaaten und in den grossen Finanzzen­tren (auch in der Schweiz) Real- und Finanzkapital und tragen so zur Bildung von Preisblasen bei. Über den Euro-Mindestkurs der SNB bleibt auch die Schweiz von dieser Schuldenblase nicht unberührt. Was den Gläubigerstaaten am Ende bleibt, sind einige windige Forderungen, eine Art Zwangs-Eurobonds, die sie zeichnen müssen, ob sie nun wollen oder nicht. So kann ein Zahlungssystem nicht funktionieren. Eine Reform ist dringend angesagt. Wir plädieren dabei erst einmal für eine Bekämpfung der Symptome, insofern die Ursache ausser Reichweite liegt. Aber gehen wir der Reihe nach.

Der griechische Investor…

Wenn ein Kunde bei seiner Geschäftsbank in Griechenland Euro abheben will, um eine grössere Investition im Ausland zu tätigen, so wird die Bank zuerst einmal in Schrecken versetzt. Sie hat, wie andere Banken, kurzfristige Einlagen hereingenommen, diese langfristig ausgeliehen und wird durch die Abhebung des Kunden an den Rand der Illiquidität getrieben. Will sich nun die Bank auf dem griechischen Interbankenmarkt Geld besorgen, so wird sie erfahren, dass das Angebot knapp ist und die Zinsen extrem hoch. In dieser Notlage hilft die Europäische Zentralbank auf dem Umweg über die griechische Zentralbank.

Die EZB versorgt ihre nationalen Zentralbanken seit Beginn der Bankenkrise 2007/08 so reichlich mit Geld, dass die griechische Zentralbank in der Lage ist, der griechischen Geschäftsbank gegen Sicherheiten wie beispielsweise griechische Staatsanleihen die gewünschte Liquidität zu einem Zins von zurzeit 0,75 Prozent zu gewähren. Dieses konkurrenzlos günstige Angebot für die Geschäftsbanken führt mit der Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes zu einer vermehrten Refinanzierung des Finanzsektors der Peripherieländer direkt bei den heimischen Zentralbanken. Diese wiederum verfügen dank EZB über nahezu beliebig viel Geld und beginnen es untereinander zu verleihen.

Wenn sie sich Geld untereinander verleihen, statt es direkt bei der EZB zu borgen, können sie – mit impliziter Duldung der EZB – die Zustimmungspflicht der EZB umgehen und fast nach Belieben schalten und walten. Und das geht so: Durch Weiterreichen der erhaltenen Sicherheiten beschafft sich die griechische Zentralbank, um im Beispiel zu bleiben, über das Zahlungsverkehrssystem Target2 zusätzliches Zentralbankgeld bei einer Zentralbank des Euro-Systems, beispielsweise bei der Deutschen Bundesbank, und lässt dort mit offenem Ende diese Verbindlichkeit anschreiben. Als Teilnehmer an Target2 sind alle Zentralbanken des Euro-Systems verpflichtet, untereinander solche künstlich verbilligten Kredite zu gewähren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass solche Target2-Kredite nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Euro-Krisenstaaten, neuerlich insbesondere in Italien und Spanien, sehr beliebt geworden und folglich enorm angestiegen sind. Target2-Kredite dienen vor allem dazu, den Bankensektor der südlichen Staaten zu refinanzieren, der
das ins Ausland (auch in die Schweiz) verlagerte Fluchtkapital ersetzen muss. Mittlerweile umfassen die dadurch aufgelaufenen Verbindlichkeiten der peripheren Staaten etwa eine Billion Euro, von denen sich Ende Juni 729 Milliarden Euro in Forderungen bei der Deutschen Bundesbank niedergeschlagen haben. Dies entspricht zwei Dritteln aller Vermögenswerte der Deutschen Bundesbank.

…kauft in der Schweiz

Target2-Salden lassen sich am besten mit einem Schwarzen Peter vergleichen. Erst wird geleugnet, dass es ihn im Spiel überhaupt gibt. Dann wird zugestanden, dass es ihn gibt, doch wird beschwichtigend darauf hingewiesen, dass er sich nicht in den eigenen Karten befinde. So schreibt der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, die EZB habe durch ihre ausserordentlich expansive Geldangebotspolitik und die geringen Sicherheitsanforderungen die Entstehung der Target2-Schulden überhaupt erst ermöglicht. Die Geldpolitik sei also Ursache des Problems. Auch die NZZ folgt dieser Ansicht: «Target-Salden begrenzen wäre reine Symptombekämpfung.»1 Dies stimmt zwar in bezug auf die absolute Höhe der möglichen Salden, jedoch nicht in bezug darauf, dass diese überhaupt existieren können. Die Ursache der Probleme des Euro-Systems ist das Zusammenspiel von fehlerhaftem institutionellem Design des Target2-Systems und expansiver Geldpolitik der EZB. Dabei ist klar: Würde der Geldhahn wieder auf Normal zurückgedreht, so könnten die peripheren Zentralbanken auch nicht mehr ihre maroden Geschäftsbanken mit Krediten aus fragwürdigen Sicherheiten stützen. Geschäftsbanken müssten sich wie jede andere Bank liquide halten oder ausscheiden. Aber eben – warum sollte dies geschehen, wenn die Zentralbanken südlicher Länder so günstig zu Geld kommen und die Zentralbanken im Norden zum Mitmachen verpflichtet sind?

Zurück zur EZB-Spitze. Sie will den ihr zugespielten Schwarzen Peter nicht behalten, sondern ihn einem weiteren Spieler, dem EZB-Zentralbankrat, zuschieben. Dieser sei, sagt sie, von Vertretern aus Peripheriestaaten dominiert und setze so die fragwürdige Geldpolitik durch. Damit erreiche die dortige Mehrheit zwei Ziele auf einen Schlag: Sie rette die Geschäftsbanken der südlichen Staaten vor dem Konkurs und motiviere sie gleichzeitig über die Geldschwemme, die notleidenden Staatsanleihen ihrer Heimatstaaten zu kaufen. Das stimmt in der Tat. Und es ist sogar doppelt gefährlich: In den Peripheriestaaten erlahmen so – erstens – die Anreize der Geschäftsbanken, sich selbst zu helfen; denn der Nachschub an Liquidität ist gesichert. Stattdessen werden Staaten und Banken (über den Erwerb von Staatsanleihen) – zweitens – stärker voneinander abhängig und zu einem systemischen Komplex.2

Und Mario Draghi?

Das prominenteste Mitglied des EZB-Zentralbankrats ist der Präsident, Mario Draghi. Er kann sich nicht so einfach als Opfer der Mehrheitsinteressen des Zentralbankrats ausgeben, weil er dessen Tagesordnung bestimmt. Er kann das Ansinnen der EZB-Ratsmehrheit, die Geschäftsbanken zu stützen, jederzeit als EU-vertragswidrig von der Tagesordnung absetzen. Denn im EU-Vertrag ist eine klare Aufgabenteilung vorgesehen. Die EZB ist für die Geldpolitik zuständig; die Mitgliedstaaten sind für die Finanzpolitik verantwortlich.3 Die Subventionierung der Geschäftsbanken ist aber (wenn überhaupt) Sache der Finanzpolitik und gehört daher nicht in den Bereich des EZB-Rates oder auf dessen Tagesordnung. Draghi aber belässt das Traktandum auf der Tagesordnung. Er will auf beiden Klavieren spielen und steuert daher den Euro in systemische Risiken.

Doch wie können sich die Target2-Gläubigerstaaten Deutschland, Niederlande, Luxemburg und Finnland in ihrer Minderheitenposition dagegen schützen, dass sie noch mehr Target2-Kredite aufgebürdet erhalten? In Deutschland wollen Bürger die Bundesregierung bzw. die Bundesbank wegen Untätigkeit verklagen. Manche halten solche Forderungen für unrealistisch. Das sind sie jedoch nicht. Denn die Euro-Mitgliedstaaten haben nach wie vor die Eigentumsrechte an den nationalen Zentralbanken. Die Deutsche Bundesbank gehört der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die deutsche Bundesregierung. Sie hat das Recht und die Pflicht, im Auftrag der Bürger dafür zu sorgen, dass das deutsche Eigentum nicht zugrunde gerichtet wird. Die Bundesregierung kann somit auf eine Revision des Target2-Vertrages einwirken, wenn auch nicht auf die Target2-Politik. Sie kann sich nicht damit beruhigen lassen, dass die Target2-Salden nur Verrechnungsposten darstellten. Die Salden entstehen, weil die EZB über ihre nationalen Zentralbanken Banken in peripheren Staaten unterstützt, was nicht ihre Aufgabe ist. Gerade dies berechtigt die betroffenen Mitgliedstaaten, Protest einzulegen und einen Ausgleich der Target2-Salden durch die Target2-Schuldnerstaaten zu fordern.

Dagegen steht das bereits erwähnte Argument von Bundesbankpräsident Weidmann, die Target2-Salden stellten nur die Folge der übermässig expansiven Geldpolitik der EZB dar. Diese sollte zurückgefahren werden. Das ist zwar richtig. Doch wenn die Ursache ausser Reichweite ist, kann es besser sein, die Symptome zu bekämpfen, als gar nichts zu tun. Werden die Salden ausgeglichen, so läuft eine expansive EZB-Geldpolitik über den Kanal des Zahlungsverkehrssystems ins Leere.

Draghi und sein Stab wollen freilich nichts von einem Ausgleich der Target2-Salden wissen. Als Hilfsargument tritt jetzt die Behauptung auf, bei einem Saldenausgleich breche die Währungsunion auseinander. Diese Behauptung ist jedoch, wie ein Blick nach Amerika zeigt, falsch. Ähnlich wie in der Euro-Zone wird auch in den Vereinigten Staaten ein zweistufiges System mit einer zentralen Notenbank und verschiedenen Distrikt-Notenbanken in der Peripherie betrieben. Die dort entstehenden Salden sind mit den Target2-Salden des Euro-Systems vergleichbar. Bis zum Jahr 2007 wurden die entstandenen Salden durch Umschichtung der Aktiva der Distrikt-Banken ausgeglichen. Seither wird darauf verzichtet. Damit soll auch dort (wie in der Euro-Zone) in Liquiditätsschwierigkeiten geratenen Banken geholfen werden. Der Unterschied zum Euro-System besteht aber darin, dass das FED einen Konzern darstellt, in dessen Eigentum sich auch die Distrikt-Banken befinden. Aufgrund dieser solidarischen Haftung kann es mit den Salden des Zahlungsverkehrs schalten und walten, wie es will. Im Euro-System ist diese Beliebigkeit indessen nicht möglich. Die nationalen Zentralbanken gehören den Mitgliedstaaten und lassen daher eine uneingeschränkte Verfügung der EZB über die nationalen Target2-Salden nicht zu.

Die Risiken in den Bilanzen der nationalen Zentralbanken sind von den jeweiligen nationalen Steuerzahlern zu schultern. Konkret: wird die Bilanz der Deutschen Bundesbank schief, muss das deutsche Finanzministerium, mithin letztlich der deutsche Steuerzahler, Eigenkapital nachschiessen. Daher tun solide Euro-Länder gut daran, potentielle Klumpenrisiken in den Bilanzen der Zentralbanken, die durch den Ausfall eines anderen Landes entstehen könnten, zu vermeiden. Dies sollte nicht durch Ad-hoc-Interventionen der Regierungen erfolgen, die die Unabhängigkeit der Zentralbanken gefährden, sondern durch Änderung der institutionellen Regeln, die einen Ausgleich im Zahlungsverkehrssystem festlegen.

Im Sinne ihrer Bürger als Eigentümer sind daher die Regierungen der Euro-Mitgliedstaaten angehalten, ihre Rechte gegenüber der EZB nachhaltig zu vertreten und eine Ergänzung des Target2-Vertrages einzufordern. Tun sie dies nicht, nehmen sie ihre ureigene Aufgabe nicht wahr.

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