Ex occidente luxus
Im Materialismus des Okzidents geht der Lebenssinn verloren Der Okzident hat seine Seele verkauft, da ihm seine Metaphysik und Kultur verlorengegangen ist.
Ihm fehlt, so argumentiert der Autor, das Nebeneinander von materiellem Streben und spiritueller Identität, wie es etwa in den asiatischen Kulturen und Religionen zum Ausdruck kommt.
Es gibt zwischen dem Okzident und den nichtwestlichen Kulturen einen Zusammenprall, der sich sehr wohl als unerbittlicher Überlebenskampf rivalisierender Zivilisationen deuten lässt. Im Westen gehört es zur politischen Korrektheit, dies wider alle Realität zu verneinen. Wer dennoch die Omen des neuen Zeitalters zu erkennen vermag, huldigt häufig dem beruhigenden Glauben, man könne sich aus diesem Konflikt nach dem Motto des trendigen Multikulti «seid alle nett miteinander» heraushalten.
Rascher als man es erwarten konnte, wird im dritten Jahrtausend immer deutlicher bewusst, dass die Vormacht der Ökonomie eine Chimäre ist, die der Westen, nachdem er seinen Blutrausch in zweihundert Jahren Kolonialismus und nach zwei Weltkriegen saturiert hatte, der gesamten Welt verordnen wollte. Kaum ein Jahrzehnt vermochten sich nach dem Fall der Berliner Mauer die Illusionen der new economy und des «Endes der Geschichte» zu halten, bevor die Menschheit wieder zu ihrem jahrtausendealten courant normal von Krieg, Not und Seuche zurückkehrte. Nur Menschen, die ihre Augen gegenüber dem Elend einer aus der Transzendenz völlig herausgelösten condition humaine zu verschliessen vermochten, konnten dem Wahn verfallen, die menschliche Existenz auf das Fressen (und immer mehr Fressen) zu reduzieren. In den hausgemachten Grabenkämpfen zwischen Marxisten, Sozialisten und Liberalen verharrend, sitzt der Okzident nun in der Falle – ohne Metaphysik und mit einer Kultur, die sich im Konsum und im Alibi öffentlich finanzierter Museen, Opern und Theater erschöpft.
Fortschrittsglaube des Okzidents bezieht sich inzwischen nicht mehr auf die Verbesserung der menschlichen Natur, sondern nährt sich nur noch von der Anhebung der physischen Lebensbequemlichkeiten einer kleinen Minorität der Weltbevölkerung. Damit liess sich für längere Zeit die mephistophelische Wette um das nachhaltige Glück übertünchen. Mitdiesem Deal wurde die Seele im wahrsten Sinn verkauft, um dafür physischen Komfort zu bekommen. Nirgendwo lässt sich dies deutlicher erkennen als bei der Rentendebatte, die derzeit alle westlichen Konsumgesellschaften umtreibt. Die Menschen sorgen sich um drohende finanzielle Engpässe und Leistungskürzungen, statt sich um Grundsatzfragen des Lebenssinns und der Würde im durch die Zunahme der Lebenserwartung länger werdenden Lebensabend zu kümmern. Man würde dann vielleicht erkennen, dass die Neurose, welche die westliche Gesellschaft gegenüber Alter, Krankheit und Tod entwickelt hat, viel schmerzhafter und inhumaner ist als jede Rentenkürzung.
Rückbesinnung auf Transzendenz
Die Schnelllebigkeit unserer Zeit manifestiert sich in der Schlagzeilenmentalität, welcher das kollektive Gedächtnis verfallen ist. Weil die Vergangenheit immer rascher vom Bildschirm gestrichen wird, entsteht der Eindruck, dass die Zeitläufte immer bedrohlicher und komplexer würden. Man hat die schwierigen und gefährlichen Zeiten des Kalten Kriegs vergessen und verdrängt, und denkt nun, dass die Welt noch nie so unsicher war wie nach dem 11. September 2001. Tatsache ist, dass die Bedrohungen neue Gesichter bekommen haben, dass sich jedoch an der permanenten Existenzgefährdung, unter welcher der Mensch zu leben hat, nichts geändert hat. Im Grunde genommen ist der offene Konflikt, in welchem sich der Westen mit der islamischen Welt befindet, heilsamer als die frühere Rivalität mit einem ebenfalls durch okzidentalen Materialismus geprägten Ostblock. Die Besinnung auf die Ursachen dieses neu-alten Konflikts sollten im Westen das Bewusstsein fördern, dass die Menschen hier durch die ausschliessliche Fokussierung auf die materiellen Lebensumstände schon lange in eine Sackgasse gelangt sind und dass es an der Zeit ist, sich auf die transzendentalen Werte des menschlichen Lebens zu besinnen.
Zur Natur der menschlichen Existenz gehört die beständige Auseinandersetzung mit der Polarität von Materialismus und Immaterialismus, Immanenz und Transzendenz, Realismus und Idealismus. Im Verlaufe der neuzeitlichen Geschichte des Okzidents obsiegte die Position des tertium non datur, der Unvereinbarkeit beziehungsweise Unauflösbarkeit dieser Gegensätze. Die im 19. Jahrhundert entstehende Industriegesellschaft, die sich dezidiert für Materialismus, Realismus und Immanenz entschieden hatte, konnte demzufolge in der Religion nurmehr ein Überbleibsel aus abergläubischen Zeiten und in der Kultur eine angenehme, aber letztlich unproduktive Beigabe zum Leben sehen. Lange Zeit galt dies als der erfolgreichste Weg zur Akkumulation von privatem und kollektivem Reichtum. Die sich in alle Teile der Welt ausbreitenden europäischen Kolonialimperien schienen dies zu bestätigen, wobei geflissentlich übersehen wurde, dass es die militärische, und nicht die ökonomische oder technologische Übermacht des Westens war, die es ihm erlaubte, grosse Teile Asiens und Afrikas zu unterwerfen und auszubeuten.
Praktiziertes Nebeneinander
In Tat und Wahrheit gibt es einen ganz anderen Weg, den man als das Nebeneinander von materiellem Streben und spiritueller Identität bezeichnen könnte. Die Fähigkeit zu diesem fruchtbaren Nebeneinander manifestiert sich in besonders ausgeprägter Weise in den asiatischen Kulturen und Religionen. Es seien hier zwei aufschlussreiche Beispiele, der Hinduismus und der Schintoismus, kurz beleuchtet, welche die indische beziehungsweise die japanische Kultur massgeblich geprägt haben. In beiden Fällen handelt es sich um Religionen, die weder einen einzigen allmächtigen Gott noch absolute Unterordnung der Gläubigen reklamieren. Der Hindu kann auch in Kultstätten anderer Religionen seiner Andacht nachgehen, und der Schintoismus koexistiert mit dem Buddhismus. Eine grosse Mehrheit der Japaner bekennt sich zu beiden Religionen. Ferner kennen Hinduismus und Schintoismus keine kirchlichen Hierarchien und Katechismen wie der Katholizismus und keine Kanzeln und Predigten wie der Protestantismus. Der Gläubige ist völlig auf sich selbst zurückgeworfen, frei, aber natürlich auch für sich selbst verantwortlich. Das Konzept einer Pflichtabgabe, ja gar einer durch den Staat erhobenen Kirchensteuer, ist sowohl dem Hinduismus als auch dem Schintoismus völlig fremd. Bezahlt werden die Dienstleistungen, die man beansprucht, sei es eine Taufe oder ein anderes, aus besonderem Anlass gewünschtes Ritual im Schrein oder im Tempel.
Die Pragmatik des Hinduismus und Schintoismus prägt die indische und die japanische Kultur. Japans einzigartige Adaption an die Moderne, die es während der Meiji Restauration erfolgreich umzusetzen vermochte, war nur dank der Pragmatik des Schintoismus möglich. Es ist aufschlussreich, dass Japan in die Katastrophe seines kurzlebigen Imperialismus stürzte, als es den Westen nicht nur in seinen technologischen und institutionellen Errungenschaften, sondern auch in seiner Mentalität imitierte, den Schintoismus zur Staatsreligion erklärte und den gottgleichen Kaiser auf die kümmerliche Figur eines Wilhelm II reduzierte. Nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg entledigte man sich dieser Fehlentwicklung rasch, und die Religion kehrte ins Reich des Privaten zurück, wo sie schon immer hingehört hatte.
Schintoismus und Buddhismus haben zusammen mit einem guten Schuss Konfuzianismus und Taoismus das japanische Ethos geprägt. Auf ihm gründet der eigentümliche contrat social, den das Nachkriegsjapan mit grossem Erfolg realisiert hat. Dieser Gesellschaftsvertrag sorgte dafür, dass sich Japan nach der Katastrophe des Imperiums ohne die Brüche an die Spitze der technologischen Entwicklung und der Weltwirtschaft katapultieren konnte. Dieser Gesellschaftsvertrag, der auf einem einzigartigen quid pro quo von kollektiver Sicherheit und individueller Leistungsbereitschaft beruht, wird auch jene westlichen Analytiker Lügen strafen, die vorschnell einen sozio-ökonomischen Abstieg Japans prognostizieren.Individualismus und Weltoffenheit
Eine arrogante westliche Welt, die sich angewöhnt hatte, Indien mit Massenarmut und Katastrophen gleichzusetzen, hat in den letzten Jahren den überraschenden Aufstieg des Landes zur «Software Supermacht» macht» zur Kenntnis nehmen müssen. Diese Entwicklung, die sich bemerkenswerterweise vor allem im stark hinduistisch geprägten Westen und Süden des Landes abspielt, hat entscheidend mit dem Ethos des Hinduismus zu tun. Dieses wird zum einen vom unter allen Weltreligionen wohl radikalsten Individualismus, und zum andern von einer in der Religion angelegten, aussergewöhnlichen Weltoffenheit geprägt. Die kollektivistische Denkweise der monotheistischen Religionen liegt dem Hinduismus völlig fern, und mit seiner Toleranz bei Ritualen und Glaubensinhalten gibt er dem einzelnen Gläubigen selbst in letzten Dingen einen Ermessensspielraum, der in den meisten Religionen und Konfessionen durch eine obrigkeitlich verfügte Dogmatik drastisch eingeschränkt wird.
Die indische und die japanische Kultur tragen in ausserordentlichem Masse dem Wesen, der Natur des Menschen Rechnung und setzen ihn nicht den dies- und jenseitigen Zwängen aus, die ihn in vom Monotheismus geprägten Kulturen zum emotionalen Krüppel werden lassen. Nirgendwo lässt sich dies eindrücklicher zeigen als bei der Einstellung zum Tod. Jenseits aller Betriebsamkeit, die letztlich nur dazu dient, vom beschwerlichen Warten auf das Ende abzulenken, und die, so man zu den Glücklichen zählt, das Leben eine Zeit lang lebenswert machen kann, ist das Menschsein nichts anderes als das Bewusstsein des Todes. Die Konfrontation des Individuums mit seiner Sterblichkeit prägt sein Leben, so es sich aus der Dumpfheit von Gewohnheit und Verdrängung zu lösen vermag. Den Tod mit der Vorstellung einer Sünde, gar einer Erbsünde zu verbinden, ist aus dieser Sicht wohl die verhängnisvollste intellektuelle Fehlleistung, welcher die Menschheit je hat anheimfallen können.
Der Tod als das schlechthin Private
Der Mensch in seiner animalischen Existenz hat naturgemäss Angst vor dem Tod, da dieser das Überleben der Gattung bedroht. Etwas ganz anderes ist die Todesangst, die das Individuum als intellektuell bewusstes Wesens heimsucht. Im Mittelpunkt der westlich geprägten Neuzeit steht die Vorstellung von der Mündigkeit des Menschen. Als Bürger, als Gestalter seines Lebens und seiner Umwelt, als Konsument soll er mündig sein können. Verfassungen, Erziehungstheorien und Wirtschaftslehren orientieren sich an diesem noblen Ziel. Das Fatale an der Entwicklung im Okzident besteht darin, dass sie an der wichtigsten Aufgabe, der Mündigkeit zum Tod, gescheitert ist. Ausgerechnet beim Ereignis, welches das Leben des Menschen am nachhaltigsten prägt, verfällt der Westen in die Verdrängung, in Atavismen, welche die schlimmste aller Unmündigkeiten nach sich ziehen. Es erklärt sich diese Entwicklung daraus, dass ungeachtet aller Säkularisierung der Okzident bei einem Todesverständnis verharrt, dem die lichte Freiheit, die aus den asiatischen Religionen zu gewinnen ist, abgeht.Ahnenverehrung, Wiedergeburt und Nirwana sind zutiefst humanistische Konzepte, mit der unvermeidlichen Sterblichkeit des Menschen umzugehen. Hölle, Himmel, Erbsünde und Jüngstes Gericht sind demgegenüber zutiefst menschenfeindlich und das Resultat einer verhängnisvollen Fehlentwicklung des menschlichen Geistes. In Asien ist der Tod als das schlechthin Private der Obrigkeit entzogen. Es gibt keine geistlichen Würdenträger, die für sich beanspruchen können, darüber mitzubestimmen, was mit einem nach dem Tode geschieht. Die Ahnenverehrung integriert den Tod in den Clan, in die Grossfamilie und nimmt ihm dadurch die Vereinsamung, in welche die Christenmenschen durch das Warten auf den Jüngsten Tag gestürzt werden. Wiedergeburt und Nirwana nehmen dem Tod den Schrecken, der ihm durch die Höllenqualen der Monotheisten angehängt wird. Die von der westlichen Moderne reklamierte Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit muss, so kann beim Anbruch eines neuen, von nichtwestlichen Kulturen bestimmten Zeitalters einmal mehr festgestellt werden, Stückwerk bleiben, solange der Okzident nicht mit dem Tod ins reine kommt.
Urs W. Schöttli wurde 1948 in Basel geboren. Nach dem Philosophiestudium an der Universität Basel war er von 1978 bis 1982 Generalsekretär und von 1983 bis 1994 Geschäftsführender Vizepräsident der Liberalen Internationalen. 1983 bis 1990 war er Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» in Indien, 1998 bis 2001 in Japan, und seit 2002 berichtet er aus China.