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Europas Schuld

Die Euro-Staaten haben Schulden in furchteinflössender Höhe angehäuft. Damit haben sie sich von den Einschätzungen der Finanzmärkte abhängig gemacht, deren Macht sie nun beklagen. Wie kommen die Staaten aus dem Schulden-Teufelskreis wieder heraus?

Muss die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bald einen Anruf aus Rom befürchten, in dem eine Stimme ängstlich erklärt, Italien werde wider Erwarten dem Weg Griechenlands folgen und seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkom­men? Und würde sie sich dann wie Caesar fragen: «Et tu, Italia?»

Die ausstehenden Staatsschulden in der Eurozone türmten sich per Ende 2010 auf schier unvorstellbare 9,3 Billionen Euro. Allein 3,1 Billionen davon stammen von den sogenannten PIIGS-Ländern Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien. Sogar die Kernländer Deutschland und Frankreich haben Verschuldungsquoten, welche die in den Maastricht-Stabilitätskriterien postulierten 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei weitem übersteigen.

Die nackten Zahlen sind zweifellos furchteinflössend. Dennoch scheint es möglich, dass der Bankrott nur einzelne Staaten wie Griechenland trifft, die restlichen Problemländer sich aber noch ein paar Jahre durchhangeln können, bis das Weltwirtschaftswachstum wieder anzieht und sie aus den Schulden herauswachsen lässt. Während die Rekapitalisierung der Banken einen langen Schatten auf die Märkte wirft, gibt es einen nicht besonders beliebten, aber gangbaren Weg für die Eurozone, die benötigten Staatsfinanzen zumindest mittelfristig aufzutreiben. Es bedürfte dazu der Schützenhilfe durch die Europäische Zentralbank (EZB), die, wie im Dezember bereits einmal vorgeführt, für längere Zeiträume mehr Liquidität zur Verfügung stellt. Das ist keine dauerhafte Lösung, aber sie gewährt jene Zeit, die die Staaten brauchen, um sich zu sanieren.

Mit anderen Worten: die Rechenaufgabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig, aber wohl lösbar. Das wollen wir auf den folgenden Seiten zeigen.

Das 6-Faktor-Schuldenmodell

Wir haben ein einfaches Modell aufgestellt, das zeigen soll, wie gut die Chancen einer Lösung der Verschuldungsprobleme in verschiedenen Szenarien sind. Explodierende Staatsschulden betrachten wir als untragbar, wenn der Verschuldungsgrad selbst bei positiven Wirtschaftsszenarien in den kommenden Jahren hoch bleibt. Hingegen gilt die Staatsschuld dann als tragbar, wenn der Verschuldungsgrad trotz sich verschlechternder Wirtschaftsaussichten schrittweise unter Kontrolle kommt.

Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die Solvenz und die Liquidität. Wenn Italien seine Staatsanleihen nicht mehr auf dem Refinanzierungsmarkt losbringt, wird das Land zunächst illiquid, bevor es zuletzt die Zinszahlungen einstellt. Dasselbe würde für die USA oder Japan gelten. Wir befassen uns in unserem Modell mit der Liquiditätssituation; die Frage des Zahlungswillens eines Staates lassen wir bewusst ausser Acht. Denn selbst das hoch verschuldete Griechenland kann jederzeit Staatsvermögen veräussern, um zahlungsfähig zu bleiben. Das stellt zwar im Vergleich zur Option Staatsbankrott einen hohen Preis in Form von Ressourcentransfers ins Ausland dar (zum Beispiel durch den Verkauf von griechischem Staatseigentum). Aber erst wenn Griechenland sich diesem weiteren Ressourcentransfer verweigert, ist das Spiel definitiv aus.

Noch vor wenigen Jahren bestand die elegante Lösung der Länder für solche Fälle darin, einfach mehr Geld zu drucken, die Schulden also durch Entwertung zu verringern. Die USA, Japan und Grossbritannien können diesen Weg weiterhin beschreiten, für die Länder der Eurozone ist dieser Weg seit Einführung der gemeinsamen Währung hingegen verbaut. Sie haben die Geldsouveränität an die EZB abgetreten. Kein einzelnes Euroland kann daher in Eigenregie seine Schulden weginflationieren. Es bleibt nur ein Ausweg: die Märkte davon zu überzeugen, weiterhin Staatsanleihen zu einem tragbaren Zins zu zeichnen.

Unser Modell berücksichtigt pro Land sechs Parameter, um die Wirksamkeit der Massnahmen gegen die Verschuldungsproblematik zu messen: die Nominalschuld, den Zinssatz auf die Staatsobligationen, das nominale BIP, die Wachstumsrate des BIP, die Inflationsrate und den Budgetüberschuss des Staatshaushalts. Diese sechs Parameter erlauben eine robuste Untersuchung der gängigen Entwicklungsszenarien und Vorschläge zur Lösung der Schuldenkrise.1

«Inflationslösung» wird durchschaut

Beginnen wir mit der Frage: Lassen sich Schulden weginflationieren? Unter der Vor­aussetzung der Stabilität aller anderen Faktoren bewirkt eine höhere Euro-Inflation eine Reduktion der Schuld im Verhältnis zum BIP. Es ist dann aber auch wahrscheinlich, dass der Markt die Situation durchschaut und die Zinsen steigen lässt, um die höhere Inflation zu reflektieren. Damit wäre der Vorteil eliminiert – ein in unserem Modell durchaus realistisches Szenario. Bei einem Verschuldungsgrad von über 100 Prozent des BIP sind höhere Zinsen jedoch Gift. Diese Situation ist heute bereits in Italien und Griechenland zu beobachten. Deshalb sind tiefe Zinsen bei solch hohen Verschuldungsgraden absolut zwingend, wenn sich ein Land aus der ungemütlichen Lage befreien können soll.

Klar ist: es bedarf eines rigorosen Sparkurses. Ein rigoroser Sparkurs mit einhergehenden Budgetüberschüssen muss dafür sorgen, die Verschuldung innerhalb eines Zeitraums von sagen wir zehn Jahren wieder auf eine tragfähige Ebene zu bringen, so dass die Sparpolitik gelockert werden kann oder die Zinsen wieder auf ein erträgliches Niveau sinken. Ohne rigiden Sparkurs ist keine glaubwürdige Gesundung möglich, da sich sonst die Schulden schneller auftürmen, als das BIP wachsen kann.

Nun sind wir an einem heiklen Punkt angelangt: Ein solcher Sparkurs ist politisch schwierig umzusetzen. Nach keynesianischer Lehre behindert ein Sparkurs das Wachstum der Wirtschaft, weil Investitionen ausbleiben. Dieser Einwand ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Um die negativen Effekte der Sparprogramme zu kompensieren, verlangen die vorgeschlagenen Anpassungsprogramme deshalb den Verkauf von Staatsvermögen und Liberalisierungsschritte wie Subventionsabbau oder einen freieren Arbeitsmarkt. Solche Anpassungsprozesse sind freilich ebenfalls schwierig durchzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst bei hoch verschuldeten Staaten zielführend sind und am Ende aus ökonomischer Einsicht eben dennoch umgesetzt werden, ist gemäss unserer Modellrechnung hoch.

Szenarien für Italien: Lösung ist möglich

Zwei Staaten stehen besonders im Mittelpunkt: Griechenland und Italien. Die Schulden Italiens belaufen sich mittlerweile auf fast 2 Billionen Euro, was rund 115 Prozent des BIP ausmacht. Die Situation ist umso beängstigender, wenn man berücksichtigt, dass sich die italienische Wirtschaft einer Rezession nähert. Trotzdem ist noch immer eine Lösung möglich, sobald sich die globale Wirtschaft von der Wachstumsschwäche erholt und die Markt­teilnehmer wieder willens sind, italienische Staatsanleihen zu zeichnen.

Gehen wir von positiven Grundannahmen aus und rechnen für Italien mit einer Inflation von 1 Prozent und einem langfristigen jährlichen Wachstum des inflationsbereinigten BIP von 1,5 Prozent, was dem durchschnittlichen Wachstum Italiens in der Zeit von 1998 bis 2008 entspricht. Die durchschnittlichen Zinskosten betragen in unserem Hochzinsszenario 6 Prozent, im moderateren Fall 4 Prozent. Beide Annahmen beruhen auf langfristigen Werten aus der Vergangenheit, liegen aber klar unter den 7,11 Prozent, die Italien Anfang Januar für die Emission 10jähriger Anleihen zu bezahlen hatte.

Selbst mit diesen generösen Annahmen zeigt sich: ohne jegliche Anpassung am fiskalpolitischen Programm – das heisst mit einem laufenden Defizit von 4 bis 5 Prozent des BIP – verschlimmert sich die Lage Italiens zusehends. Erst wenn Italien dank Sparmassnahmen einen Haushaltsüberschuss von 4 Prozent erzielen kann, sinkt die Verschuldung langsam. Die Hoffnung ist dann, dass in der zweiten Hälfte der Spardekade das Wachstum mit einer wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik wieder angekurbelt werden kann. Die Umsetzung verlangt sehr harte Massnahmen, die viel Geduld erfordern. Sie sollten Italien jedoch erlauben, sich ohne Staatsbankrott selbst aufzufangen – eine gewaltige, aber lösbare Aufgabe.

Szenarien für Griechenland: Bankrott akzeptieren

Noch schwieriger zu lösen ist der Fall Griechenlands. Das beste Szenario rechnet mittelfristig mit einem moderaten Anpassungsprogramm und mittelhohen Zinssätzen, was einen Budgetüberschuss von 3 Prozent und Zinssätze von 5 Prozent ergibt. Diese Zinssätze sind allerdings weit von dem entfernt, was der Markt aktuell verlangen würde. Trotz dieser Annahmen würde sich der Schuldenberg innerhalb einer Dekade nicht abbauen lassen, sondern lediglich stabilisieren. Unglücklicherweise lässt sich die kontinuierliche Zusatzverschuldung selbst mit einem Überschuss von 3 Prozent nicht stoppen, solange die Zinsen so hoch sind. Mit einem realistischeren Szenario von 7 Prozent Zinsen und einem Haushaltsüberschuss von 5 Prozent steigt die Verschuldung noch weiter. Letzteres würde Griechenland zwingen, grosse Teile seines Staatsvermögens zu verkaufen, was gesellschaftlich kaum akzeptabel erscheint.

Gibt es noch einen Ausweg für Griechenland? Nehmen wir an, das reale BIP-Wachstum erhole sich für den Rest der Dekade schnell auf 3 Prozent pro Jahr und die Griechen könnten durch eine verschärfte Besteuerung und Verkäufe von Staatsvermögen während zwei aufeinanderfolgenden Jahren einen Haushaltsüberschuss von 10 Prozent erzielen. In diesem Falle würde die Verschuldung bis 2020 auf dasselbe Niveau fallen, das Italien heute hat – aber auch das nur unter der zusätzlichen Annahme, dass die Märkte wieder Vertrauen fassen und sich Griechenland neu mit 4 Prozent refinanzieren könnte. Wunder geschehen zwar, dieses hier aber wahrscheinlich nicht! Es gibt keinen vertrauens­würdigen Ausweg für Griechenland ohne Bankrott und scharfen Schuldenschnitt.

Ein oft zitiertes Beispiel eines Landes, das sich trotz schwieriger Wirtschaftsbedingungen aus der Schuldenfalle befreien konnte, ist Brasilien. So wird immer wieder eingewandt, Brasilien habe es im Jahre 2002 auch geschafft, sich vom Schuldenproblem zu befreien, also sei dies in Griechenland auch möglich. Die Verschuldung Brasiliens betrug aber nur einen Bruchteil derjenigen Griechenlands (oder auch Ita­liens). Trotzdem dauerte Brasiliens Weg zurück zum Wachstum vier Jahre und Brasilien konnte lediglich 10 Prozent seiner Verschuldungsquote abbauen. Gleichzeitig mahnt das Beispiel Brasiliens auch zur Vorsicht: eine sich abschwächende Währung allein hilft nicht. Brasiliens Lage besserte sich vor allem, weil der Anteil ausländischer Schulden sich mit dem aufwertenden Real verkleinerte (ganz abgesehen davon, dass Brasilien ein ressourcenreiches Land mit einem grossen Binnenmarkt ist). Lösungen mit einer «neuen Drachme», die den Weg für mehr Wachstum freimachen soll, verkennen das Problem der in Euro festgesetzten Schulden Griechenlands sowie die grosse Herausforderung, beim Euro-Austritt laufende Verträge zu ändern.

Die Banken und der Privatsektor scheinen im Falle Griechenlands zu einem gewissen Schuldenschnitt bereit, der sowohl Kapitalabschreiber als auch eine Senkung des Couponzinses beinhaltet. Aber kann dies helfen? Alle Annahmen, die eine Verschuldung Griechenlands reduzieren würden, sind mit einem Schuldenschnitt von 60 Prozent viel grosszügiger gerechnet, als was die derzeitigen Gläubigerverhandlungen bisher hergaben. Die momentanen Bemühungen sind für Griechenland also auch in diesem Punkt ungenügend.

Die weiteren Aussichten…

Für die gefährdeten PIIGS-Länder ergeben sich aus unseren Modellrechnungen in der Kurzfassung folgende Perspektiven:

Portugal hat grosse Teile seiner Textil- und Schuhindustrie an China und andere Schwellenländer verloren. Die neue Regierung schreitet mit der Sparpolitik fort, die es dem Land ermöglichen sollte, seine Schul­den zurückzuzahlen. Sollten die Sparbemühungen trotzdem ungenügend sein, ist Portugal ein Kandidat für einen tiefen Schuldenschnitt. Aufgrund seiner geringen Grösse ist das Land glücklicherweise kein systemisches Risiko für Gesamteuropa.

Irlands Hauptproblem ist der Kollaps des Immobilienmarkts nach jahrelangem Boom. Der Staat hat die Banken zu einem geringen Schuldenschnitt verpflichtet und etliche vor dem Konkurs gerettet. Der finanzielle Aufwand des Staates war jedoch derart gross, dass sich eine moderate Verschuldung von nur 40 Prozent des BIP in untragbare Höhen verwandelte. Irland hat sich einem längeren und härteren Restrukturierungsprozess unterzogen als alle anderen Länder. Das Problem bleibt gravierend, jedoch nicht unlösbar. Zudem sind die Gesamtschulden vergleichsweise klein, also kein Systemproblem.

Italien ist am Rande einer unkontrollierbaren Situation. Kleine Schuldenschnitte tragen ausser weiterem Schaden für das Rating wenig zur Lösung bei. Eine konsequente Restrukturierung muss nun bald einsetzen und sollte so lange von Verkäufen staatlicher Vermögen begleitet sein, bis die Märkte wieder genügend Vertrauen haben, Italiens Staatsanleihen im vollen Umfang zu zeichnen.

Griechenland ist bankrott, doch glücklicherweise klein. Ein Austritt aus dem Euro würde die Situation nicht ändern. Ein Schuldenschnitt von 50 Prozent bei gleichzeitig weiterhin hohen Zinsen stellt das Land wahrscheinlich erneut vor ähnliche Probleme. Nur wenn gleichzeitig eine Schuldenrestrukturierung mit sehr langen Laufzeiten (beispielsweise 30 Jahre) versehen wird, gewinnt das Land Zeit, die Pro­bleme langfristig lösen zu können.

Spanien leidet unter seinem bis vor kurzem noch prosperierenden Immobi­liensektor. Doch der negative Effekt von dessen Kollaps auf Immobilienpreise, Beschäftigung und Staatseinnahmen ist bereits eingetreten. Wenn die neue Regierung schnell vorwärts macht und möglicherweise eine Restrukturierung des Bankensektors anstrengt, kann die Lage stabilisiert werden. Gemessen am BIP ist die Verschuldung Spaniens viel besser unter Kontrolle als in vielen anderen Ländern. Der Verschuldungsgrad wird allerdings über die kommenden fünf Jahre steigen.

Im Idealfall muss nur Griechenland restrukturiert werden. Doch selbst wenn es schlimmer kommt, lässt sich festhalten: solange das ausufernde Schuldenproblem auf Griechenland, Irland und Portugal beschränkt bleibt, sind die Beträge im gesamteuropäischen Rahmen und mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) verkraftbar.

Dessen ungeachtet bleibt Vorsicht geboten, was die Situation der Banken anbelangt, die da und dort wahrscheinlich saniert werden müssen. Der Europäische Stabilitätsfonds verfügt insgesamt über Mittel von 440 Milliarden Euro, wovon einiges schon gebraucht wurde. Inklusive zusätzlicher Reserven aus dem Euroraum und mit den Mitteln des IWF stehen 750 Milliarden Euro bereit – im Vergleich zu den 3,1 Billionen ausstehender Schulden der PIIGS-Staaten. Gesamthaft gesehen scheint demnach eine lockere Geldpolitik der EZB eine einfachere und darum realistische Lösung zu sein, um die notwendigen Mittel aufzubringen; ein Prozess, den die EZB im Dezember mit der Ausgabe länger laufender Mittel bereits eingeleitet hat.

Weitere Reformen sind sicherlich notwendig und werden wahrscheinlich zu einer Art Fiskalunion in Europa führen. Unabhängig von der Frage, ob damit solche Schuldenkrisen zukünftig verhindert werden können, kommen diese Bemühungen aber für das aktuelle Schuldenproblem viel zu spät. Deshalb ist es höchste Zeit, nun die gravierenden, aber noch lösbaren Fälle von den unlösbaren zu trennen und Lösungen für die betroffenen Staaten zu überlegen. Je früher, desto besser!

 


1 Die ausführliche Studie auf Englisch ist unter www.gmo.com abrufbar.

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