Europäische Bilanz des Kollektivismus
1.
Alle jene wirtschaftspolitischen Ideologien, die wir behelfsmässig unter dem Sammelnamen «Kollektivismus» zusammenfassen wollen, haben dem Wirtschaftsleben fast aller Länder, insbesondere aber unserem Kontinent, mehr oder weniger fest ihren Stempel aufgedrückt. Was einst Utopie, demagogisches Schlagwort oder gelehrte Schreibtischkonstruktion war, ist nunmehr in hohem Masse Wirklichkeit geworden, überall, in einigen Ländern seit Jahren, in anderen wie beispielsweise Deutschland seit Jahrzehnten, ist der Kollektivismus am Werke gewesen – wahrlich lange genug, um uns das Recht zu der Frage zu geben: Was hat er geleistet, was ist er schuldig geblieben und was dürfen wir von ihm in der Zukunft erwarten?
Eine solche europäische Bilanz des Kollektivismus muss mit einer scheinbar paradoxen Feststellung beginnen: Der Kollektivismus befindet sich in einer tiefen inneren Krise. Wie so oft in der Geschichte steht hinter dem äusseren Triumph der Bewegung innere Leere, Ratlosigkeit, Spannung, Enttäuschung und Widersprüchlichkeit. Es war einfach und ertragreich, zu kritisieren, und es war sogar in weitem Umfange nützlich und berechtigt. Es war risikolos, radikale Programme zu entwickeln und verzwickte Theorien zu vertreten, solange man nicht gezwungen war, die Programme zu erproben und die Richtigkeit der Theorien in der Praxis zu beweisen. Nun aber, da Theorie gegen Praxis und Demagogie gegen Verantwortung eingetauscht werden müssen, nun da der Kollektivismus zeigen muss, was er kann, d.h. gerade in dem Augenblick, da er die Macht, die er erstrebte, erobert hat, ist alles plötzlich anders geworden. Jetzt ist der Kollektivismus in die Verteidigung gedrängt, und zwar in einem Augenblick, da es angesichts der wirtschaftlichen und politischen Weltlage besonders schwer ist, mit irgendwelchen wirklich überzeugenden Erfolgen aufzuwarten.
Tausende und Abertausende von Sozialisten fragen sich gewiss heute im Stillen: War es nicht Vermessenheit, dass wir das Wirtschaftsleben nach unseren Plänen lenken wollten? Stürzen wir nicht die Wirtschaft von einer Krise in die andere? Haben wir nicht ein wenig zu früh über die sogenannten bürgerlichen Nationalökonomen gespottet, die uns lehrten, wie das Riesengetriebe einer modernen Volks- und Weltwirtschaft durch Wettbewerb, Preis, Zins, Markt und Rente gesteuert wird und wie ein Maximum an den von den Menschen wirklich begehrten Gütern unter minimalstem Aufwand dadurch erzeugt wird, dass Fleiss, Initiative, Anpassungsfähigkeit und Intelligenz vom Markte belohnt und die entsprechenden Untugenden vom Markte bestraft werden? Ist es nicht doch das Praktischste, wenn durch erprobte Einrichtungen das Eigeninteresse der Menschen nach Möglichkeit mit dem Gesamtinteresse geräuschlos koordiniert wird, und gehören nicht zu diesen von uns so verdammten Einrichtungen Freiheit, Selbstverantwortung, Wettbewerb und Eigentum? Ist es wirklich besser, wenn wir dagegen eine immer allmächtiger werdende Bürokratie eintauschen? Ist das die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, die wir erträumt und für die wir gestritten haben? Haben die von uns so gehassten Soziologen nicht doch recht gehabt, die als furchtbaren Preis des Kollektivismus die Freiheit, die Würde und die angeborenen Rechte des Menschen genannt hatten? Können wir mit gutem Gewissen leugnen, dass nicht nur die Erfahrungen der totalitären Länder, sondern auch alle Überlegungen dafür sprechen? Betrügen wir uns nicht selbst, wenn wir noch immer von einem demokratischen Kollektivismus reden, der Wohlstand, Freiheit und Frieden bringt? Sind nicht heute die Länder umso ärmer, je kollektivistischer sie sind? Und sind sie nicht zugleich umso freiheitsfeindlicher? Ist es nicht zwingende Logik, dass der Kollektivismus dadurch, dass er das Wirtschaftsleben unter das Kommando des Staates bringt, die internationalen Konfliktstoffe nur noch ausserordentlich vermehrt, statt den auf so vielen internationalen Sozialistenkongressen gefeierten Frieden zu fördern? Ist Sozialismus, mit einem Wort, nicht immer National-Sozialismus, und besteht hierin irgendein wesentlicher Unterschied zwischen den Ideologien, unter denen er zur Welt kommt?
Nicht wenige Anhänger des Kollektivismus haben solchen ketzerischen Gedanken in den letzten Jahren ehrlichen Ausdruck gegeben und desillusioniert das alte Heerlager verlassen. Noch grösser ist die Zahl der Kollektivisten, die eine radikale Trennung vermeiden, aber im vollen Bewusstsein des Malaise keinen Hehl daraus machen, dass sie nicht mehr zum sozialistischen Glauben ihrer Vergangenheit stehen können. Zu ihnen gesellen sich die Gewerkschaftsführer, die klar erkannt haben, dass freie Gewerkschaften und freie Genossenschaften, wenn sie diesen Namen wirklich verdienen, nur in einer freien Wirtschaft, nicht aber in einer Kommandowirtschaft einen Sinn haben, wobei man hinzufügen darf, dass sie daher auch Selbstmord begehen würden, wenn sie durch ihre Politik die freie Wirtschaft zugrunde richten wollten.
Insoweit äussert sich die innere Krise des europäischen Kollektivismus nach aussen in Sezessionen, Abbröckelungen und Distanzierungen. Sie macht sich aber auch dort, wo man sich Mühe gibt, den Anschein der Festigkeit und Ungebrochenheit zu wahren, in mancherlei Symptomen bemerkbar. Je mehr man sich in die Defensive gedrängt fühlt, umso nervöser und gereizter pflegt man zu werden, und die Vertreter des Kollektivismus machen davon keine Ausnahme. Hinzu aber kommt, dass man sich genötigt fühlt, der zunehmenden Kritik an Theorie und Praxis des Kollektivismus mit einer neuen Taktik Rechnung zu tragen. Das geschieht dadurch, dass man in elastischem Ausweichen unhaltbare Positionen, wenigstens in der Terminologie, aufgibt und den modernen Kritikern des Kollektivismus Reverenz erweist, indem man etwa beteuert, beileibe keine bürokratische Planwirtschaft, sondern einen genossenschaftlichen oder korporativen oder sonst wie freiheitlich durchlüfteten Sozialismus anzustreben. So undurchdacht oder schlimmstenfalls unehrlich solche Pläne auch sein mögen und so rührend auch die geistige Unbeholfenheit ist, mit der man eine zwingende Logik zugibt und doch wieder nicht zugibt, so geht doch aus alledem klar hervor, welche tiefen Wirkungen die Kritik des Kollektivismus hervorgerufen hat.
Die Erfahrungen, die man überall mit dem Kollektivismus aller Grade und Arten macht, sind jedoch so enttäuschend, dass die Verfechter des Kollektivismus mit einer solchen Taktik nicht mehr auskommen. Sie suchen nach Entlastungsgründen, die man bereits unter dem Ausdruck «sozialistische Apologetik» zusammenfassen kann. Man beruft sich darauf, dass die heutige Verarmung so vieler europäischer Länder zu einem sogenannten «Sozialismus der Not» zwinge, aber man vergisst, zu fragen, ob es sich nicht bereits um eine «Not aus Sozialismus» handelt, und man vergisst auch den Fall Schwedens, das bewiesen hat, wie doktrinären Sozialisten die schwere Aufgabe gelingen kann, eine reiche Volkswirtschaft rasch in ernsteste Schwierigkeiten zu bringen. Man gibt in vielen Ländern zu, dass es sehr schlecht um die Volkswirtschaft stünde und eher eine Verschlimmerung als eine Verbesserung zu erwarten sei, nicht um damit die Frage zuzulassen, ob nicht vielleicht der kollektivistische Wirtschaftskurs die Schuld daran trage, sondern um durch die Weckung des Gefühls eines nationalen Notstandes den hohen Wellengang des Kriegspatriotismus künstlich zu erzeugen, der den Kollektivismus der Kriegswirtschaft ermöglichte und den man nun schmerzlich vermisst.
2.
Eine solche nervöse Abwehrtaktik ist deutlicher Ausdruck der heutigen Krise des Kollektivismus. Wie tief diese Krise geht und zu welcher in der Geschichte des Sozialismus einzigartig dastehenden Lage sie geführt hat, wird uns vollends klar, wenn wir daran denken, dass die Vertreter eines «demokratischen» Sozialismus ihn in einer Art von Verzweiflung mit der Behauptung verteidigen, dass er der einzig haltbare Damm gegen den Kommunismus geworden sei. Dass ein 50%iger Kollektivismus sich als Damm gegen einen 100%igen zu rechtfertigen sucht, ist an sich bereits ein beredtes Zeichen dafür, dass sich der demokratische Kollektivismus heute in einer Lage befindet, die man, um das Mindeste zu sagen, als ungewöhnlich bezeichnen muss, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass beide Richtungen sich auf Marx als ihren Stifter und Ahnherrn beziehen. Eine solche Taktik lässt viele interessante Schlüsse zu, so viel ist gewiss. Eine andere Frage ist es, welches Vertrauen wir zur Festigkeit des gerühmten Dammes haben dürfen. In der Antwort ist starke Vorsicht am Platze. Manches ist hier ohne Zaudern zuzugeben. Zunächst ist es überaus erfreulich, dass viele Vertreter des demokratischen Sozialismus es mit dieser antikommunistischen Mission sehr ehrlich meinen und damit zum Ausdruck bringen, dass ihr Sozialismus eigentlich nur eine seltsame wirtschaftspolitische Ideologie ist, die ihrer liberalen Grundhaltung aufgepfropft ist. Sie sind sich keinen Augenblick im Zweifel darüber, dass der unüberbrückbare Graben sich nicht rechts, sondern links von ihnen befindet. Sie wissen, dass sie im Grunde genommen zu der «grossen Mitte» gehören, die sich trotz aller sonstigen Meinungsverschiedenheiten im Kampfe um Freiheit und Menschenwürde gegen den wie immer firmierten Totalitarismus vereinigt, und es ist gewiss nicht aussichtslos, diese Sozialisten von der schliesslichen Unvereinbarkeit ihrer wirtschaftspolitischen Ideologie mit ihrer liberalen Grundhaltung zu überzeugen, wenn wir sie gleichzeitig von der Ehrlichkeit und Reinheit unserer Absichten und von der Möglichkeit anderer und besserer Wege überzeugen. Auch das ist zuzugeben, dass es heute einzelne Länder in Europa gibt, in denen dem demokratischen Sozialismus wenigstens für den Augenblick die Rolle zuerkannt werden muss, zwar nimmermehr der einzige, aber doch ein nicht zu verachtender Damm gegen den Kommunismus zu sein. Für den Augenblick: hier liegt das Problem. Zwei Dinge sind es, die uns – die ehrlich antikommunistischen Sozialisten eingeschlossen – rechte Sorge machen sollten, sogar so grosse Sorge, dass wir keineswegs mehr überrascht wären, wenn sich der demokratische Sozialismus am Ende als Förderer und nicht als Gegengewicht des Kommunismus erwiese.
Unser erstes Bedenken gilt der Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit des demokratischen Sozialismus im Kampfe gegen den Kommunismus. Wer die Geistesgeschichte des modernen Sozialismus kennt, weiss, dass ihm Marx – der «rote Preusse» – zwei Seelen eingepflanzt hat, die in seiner eigenen Brust wohnten: Unversöhnt stehen hier nebeneinander das naturrechtlich-demokratisch-liberal-humanitäre Element, das der Sozialismus mit dem Liberalismus gemeinsam hat, und ein ganz entgegengesetztes, das man als antiliberal-machtpolitisch-romantisch bezeichnen kann. Diese beiden Elemente geben dem modernen Sozialismus so sehr den Charakter des innerlich Zerrissenen, dass ein italienischer Historiker den Marxismus als «una delle più singolari contaminazioni che la storia delle idee ci offra» hat bezeichnen können1. Hin- und hergeworfen zwischen den liberalen Idealen der Freiheit und den Leidenschaften des Klassenkampfes, mit denen sich Machthunger und antihumanistische Begeisterung für die Kollektivität verbinden, bietet uns der demokratische Sozialismus gar zu oft das Schauspiel des Doppelbödigen, um nicht zu sagen Doppelzüngigen. Gewiss gibt es eindrucksvolle Ausnahmen, aber immer und immer wieder, wenn wir in diesem oder jenem Lande den demokratischen Sozialismus bereits für die Sache einer Politik gewonnen glaubten, die den kommunistischen Totalitarismus genauso entschieden ablehnt wie den faschistischen, werden wir zu unserer Enttäuschung daran erinnert, dass auf eine so ambivalente und so qualvoll zerrissene Bewegung kein Verlass ist.
Hinzu kommt eine zweite Überlegung, die uns in unserer Skepsis gegenüber dem Anspruch des modernen Sozialismus, ein Damm gegen den Kommunismus zu sein, noch bestärkt. Demokratischer Sozialismus und Kommunismus sollten in bezug auf ihre letzten Ziele und Ideale durch eine ganze Welt getrennt sein, da der eine einem demokratisch-liberalen, der andere einem totalitären Staat anhängt. Wir sahen schon, dass nicht einmal hierauf unbedingter Verlass ist. Wodurch aber unterscheiden sie sich in der Wirtschaftspolitik? Im wesentlichen nur darin, dass der demokratische Sozialismus das kommunistische Programm so weit verdünnt, bis ein solcher gemässigter Kollektivismus aufhört, ein sofort tödlich wirkendes Gift für den liberaldemokratischen Rechtsstaat zu sein. Dass diese politischen Apotheker sich in der Dosierung des Giftes sehr täuschen können, steht auf einem anderen Blatte. Ebenso wenig soll uns hier die Frage beschäftigen, ob das Gift nicht auch in der verdünnten Dosis wenn nicht sofort, so doch langsam und vom Apotheker ungewollt die liberale Demokratie umbringt. Was uns hier interessiert, ist etwas anderes. Wenn das Wirtschaftsprogramm des demokratischen Sozialismus darin besteht, vom Kommunismus einen mehr oder weniger hohen Diskont abzuziehen, so dürfen wir fragen, ob nicht die 50%igen gegenüber den 100%igen auf die Dauer doppelt im Nachteil sind, indem sie zwar auf der einen Seite die Massen an die Richtung eines solchen Programmes gewöhnen, den Kommunisten aber den Vorsprung seiner radikalen Verwirklichung lassen. Das wird so lange der Fall sein, als der demokratische Sozialismus sich nicht endlich von diesem abgestandenen Programm der Sozialisierung und der Planwirtschaft lossagt und den Mut hat, völlig neue Wege der Wirtschafts- und Sozialreform zu gehen, ohne Rücksicht darauf, dass er vielleicht uns selbst auf diesen Wegen begegnet. Wenn aber nun der demokratische Sozialismus, wie es heute in den meisten Ländern Europas der Fall ist, sein verdünntes kollektivistisches Programm in die Praxis umsetzt, so gerät er gegenüber dem Kommunismus vollends in eine Lage, die ihm überaus gefährlich wird. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage, die dann zu erwarten ist, erleichtert es jetzt den Kommunisten, ein Wirtschaftssystem zu kritisieren, nicht – wie es der Wahrheit entspricht – weil es zu viel, sondern weil es zu wenig Kollektivismus enthalte. Der sogenannte «Mittelweg» des gemässigten Sozialismus bringt die Marktwirtschaft um die Möglichkeit, gegenüber dem Kommunismus ihre wohlstandschaffende Kraft zu beweisen. Gleichzeitig aber sind die an der Regierung befindlichen Sozialisten der demagogischen Kritik der Kommunisten schutzlos preisgegeben. Mit anderen Worten: Der demokratische Sozialismus genügt, um eine Volkswirtschaft zu ruinieren, aber er genügt ganz gewiss nicht, um der kommunistischen Demagogie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Gegenteil, er ist unter Umständen durchaus geeignet, diese Segel nur noch umso praller aufzublähen. Sehen wir uns heute in Europa um, so gibt es mehr als ein Land, das uns eine heute prophetisch anmutende Feststellung des italienischen Soziologen Gaetano Mosca ins Gedächtnis zurückruft: «Das Experiment des sogenannten ‹gemässigten Sozialismus›, das die Existenz des Privateigentums provisorisch und dem Namen nach zulassen, es aber gleichzeitig bis zur Bedeutungslosigkeit belasten und einschränken würde, hätte in Westeuropa noch weniger Aussicht auf Bestand als eine ausgesprochene und aufs Ganze gehende Diktatur des Proletariats. Ein solches System würde immer heftigen Angriffen von Seiten der echten Kommunisten ausgesetzt sein, ohne jedoch das Prestige und die Stärke zu haben, sie zu unterdrücken. Es würde auch nicht den wirtschaftlichen Spielraum zu seiner Verfügung haben, der unerlässlich wäre, um die Verschwendung gutzumachen, die jeder Versuch, eine gemässigte Form des Sozialismus durchzuführen, mit sich bringen würde. Infolge seines Versagens und der Enttäuschungen, die es hervorrufen müsste, würde es entweder sehr bald in reinen Kommunismus entarten oder dazu führen, dass sich das jetzige politische und wirtschaftliche System in eine bürokratische und militärische Diktatur verwandelt.»2
Der vielgerühmte «Mittelweg» des demokratischen Sozialismus enthüllt sich also als ein sehr schlüpfriger Pfad, der am Abgrund endet. Jedenfalls ist es kein Weg, auf dem man verweilen kann. Man muss umkehren oder abstürzen, das wird immer stärker der Eindruck, den uns die europäischen Erfahrungen hinterlassen. Von besonders verhängnisvoller Bedeutung ist hier noch ein weiterer Umstand, der mit wenigen Worten gestreift werden muss. Es handelt sich um die Stellung, welche die sozialistische Ideologie den Gewerkschaften in mehr als einem Lande eingeräumt hat, ohne der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass damit eine Monopolmacht geschaffen werden könnte, die gefährlicher als jede andere ist, da sie im Namen des sozialen Fortschritts zur Ausbeutung der Konsumenten führt, die Produktivität und Arbeitsdisziplin untergräbt und von den Kommunisten leicht zu einer strategischen Schlüsselstellung gemacht werden kann. Hier ist nicht die Gelegenheit, zu untersuchen, inwieweit oder unter welchen Voraussetzungen das Gewerkschaftswesen, wie es sich heute in führenden Industrieländern entwickelt hat, mit irgendeiner wie immer gearteten Wirtschaftsordnung vereinbar ist. Unzweifelhaft aber dürfte es sein, dass die Stellung, die der demokratische Sozialismus den Gewerkschaften verschafft, seine Wirtschaftspolitik ausserordentlich erschwert, ja ihr geradezu widerspricht und dass er auch in dieser Hinsicht sich in klaren Nachteil gegenüber den Kommunisten setzt. Während der demokratische Sozialismus keinen Widerspruch darin zu sehen scheint, eine kollektivistische Wirtschaftspolitik durchzuführen und gleichzeitig die Machtstellung der Gewerkschaften zu festigen, ist der Kommunismus auch hier von einer unsentimentalen Logik. Solange er nicht an der Macht ist, tut er alles, um durch Ausnutzung der gewerkschaftlichen Macht den Wirtschaftsprozess zu verwirren. Hat er aber die Macht errungen, so zögert er keinen Augenblick, die Gewerkschaften aus freien Organen der Arbeiterschaft zu jener staatshörigen «Arbeitsfront» zu degradieren, die dem Wesen eines totalitären Kollektivismus entspricht. Der Kommunismus macht also auch hier skrupellosen Gebrauch von der Inkonsequenz des demokratischen Sozialismus.
Syndikalistische Anarchie ist das Gegenteil von Kollektivismus als einer bestimmten Wirtschaftsordnung. Insofern wäre es ungerecht, den Kollektivismus für die Unordnung, die Produktionseinbusse und den Machtmissbrauch unmittelbar verantwortlich zu machen, welche die Syndikalisierung unserer Welt mit sich gebracht hat. Mittelbar besteht aber eine Verantwortung ganz gewiss, denn das schädliche Übermass an Macht haben ja die Gewerkschaften in vielen Ländern erst dadurch gewonnen, dass eine bestimmte Politik sozialistischer oder unter sozialistischem Einfluss stehender Regierungen die Voraussetzungen hierfür geschaffen hat. Nur im Rahmen einer sozialistisch inspirierten Gesamtpolitik ist es zu verstehen, dass in mehr als einem Lande der Wirtschaftsprozess zu einem ruinösen Wettlauf zwischen einer ständigen Verteuerung der Arbeit und einer Währungspolitik geworden ist, die den Geldumlauf fortgesetzt so erweitert, dass die Lohnerhöhungen nicht zur Arbeitslosigkeit führen – ein Wettlauf, der auch unter dem romantischen Namen der «Politik der Vollbeschäftigung» bekannt ist. So sind die Gewerkschaften mehr und mehr zu wichtigen Gliedern einer Wirtschaftspolitik geworden, die im Namen der Planwirtschaft alles ungewiss macht, nur dies eine nicht, dass Löhne und Steuern nur noch nach oben, die Zinssätze aber nur noch nach unten hin beweglich erscheinen – einer Wirtschaftspolitik, die schrittweise zu einer Auflösung der bestehenden Wirtschaftsordnung führt. Nichts beleuchtet diese Lage greller als jene kleine Nachricht, die uns neulich berichtete, dass die kommunistische Tageszeitung Englands «The Daily Worker» einen Notschrei an ihre Leser ergehen liess, weil sie vornehmlich durch die Fünftagewoche, steigende Drucker- und Setzerlöhne und steigende Preise für Zeitungspapier in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei und daran denken müsse, durch Entlassungen und durch Betriebsrationalisierung Kosten zu ersparen. So mag im Einzelfalle diese Entwicklung auch für die Kommunisten schmerzlich fühlbar werden. Dass sie dem Kommunismus im Ganzen und auf längere Sicht das Werk erleichtert, kann nicht zweifelhaft sein.
3.
Nunmehr kehren wir zu unserer Feststellung zurück, dass der europäische Kollektivismus sich heute in einer ernsten inneren Krise befindet, weil er sich gegen die eigenen Zweifel und Skrupel und gegen die Kritik von aussen zu wehren hat. Die Enttäuschung mit seinen Leistungen ist so gross, dass er schon zu jener apologetischen Taktik greifen muss, von der soeben die Rede war. Er hat Europa Dinge gebracht, die vielen Sozialisten selbst keine rechte Freude machen können: Formulare ohne Ende, Schlangestehen vor Läden und Ämtern, stetige Einengung der Sphäre, in der das geplagte Individuum sich ohne behördlichen Schein und Stempel bewegen kann, Übermacht der Bürokratie, wachsende politische Intoleranz und rücksichtslose Ausnutzung einer Regierungsmajorität durch die Sozialisten in einzelnen Ländern, Gesetze und Verordnungen mit ihren Strafen, permanente Krise der Demokratie, Polizei aller Art, Devisen- und Preiskontrolle, Willkür, Korruption. In einem Lande wird jemand zu Gefängnis verurteilt, weil er Wein aus einem seiner Keller in einen anderen über die Strasse hinwegschafft und damit zwar keines der zehn Gebote, wohl aber irgendeine absurde Verordnung übertritt. In einem anderen Lande ist es nicht möglich, einem befreundeten Arzt ein Automobil zu leihen, weil es nicht aus dem Bereich der lokalen Behörde verbracht werden darf. In einem anderen Lande wird von einem Minister der ehrwürdige Grundsatz «My home is my castle» als verabscheuungswert und eines sozialistischen Landes unwürdig erklärt. In diesem selben Lande wird eine Hausfrau eingesperrt, weil ein schnüffelnder Regierungsinspektor verschimmeltes Brot in der Speisekammer gefunden hatte. In einem dritten Lande gibt es erwachsene Menschen, die vom Preiskontrolleur dazu angestellt sind, etwa die Länge von Blumen in den Blumenläden zu messen und die Innehaltung der minutiösen Preisvorschriften zu überwachen. Oder ist das andere Land glücklicher, wo die Korruption so gross ist, dass allen Kontrollen zum Trotz das eingeführte Benzin zum grössten Teil dem schwarzen Markte zufliesst?
Jedermann weiss weitere Beispiele beizusteuern, und das beweist, dass es sich nicht etwa um Ausnahmen, sondern um regelmässige Begleiterscheinungen des Kollektivismus handelt. Wahrscheinlich sind die Menschen nie zuvor so von einer befehlenden Minderheit herumgestossen worden wie in unserer Zeit des Kollektivismus, die einer seiner amerikanischen Herolde etwas voreilig als das «Jahrhundert des gemeinen Mannes» bezeichnet hat. Wahrlich ein hoher Preis für ein Wirtschaftssystem, das uns von Armut und Ungerechtigkeit erlösen soll. Berechtigen uns die bisherigen Erfahrungen wenigstens dazu, eine Erfüllung dieses Versprechens zu erwarten? Die Antwort kann nur ein unumwundenes und entschiedenes Nein sein.
Was will der Kollektivismus? Wenn wir seine Geschichte bis auf den heutigen Tag prüfen, so dürfte sich ergeben, dass wir drei verschiedene Ziele unterscheiden müssen. Das erste und wohl älteste ist das einer Änderung der Verteilung zugunsten derjenigen, von denen angenommen wird, sie seien zu kurz gekommen, ein Ziel, das durch Social Service, Steuer- und Ausgabenpolitik des Staates oder andere Mittel erstrebt werden kann. Da es sich hier um keine dem Kollektivismus eigentümliche Forderung, sondern um eine solche handelt, die bis zu einer gewissen Grenze ohne eine Änderung der wirtschaftlichen Struktur erfüllt werden kann, soll sie uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Uns soll vielmehr der Kollektivismus allein in einem doppelten Sinne interessieren: als eine Bewegung, der es in erster Linie um eine Änderung der Wirtschaftsordnung, und als eine solche, der es in erster Linie um eine Änderung der Eigentumsverhältnisse geht. Die erste ist vorzüglich mit dem Namen von St. Simon, die zweite mit demjenigen von Karl Marx verknüpft, und beide Bewegungen – St. Simonismus und Marxismus – gehen heute wirr durcheinander.
Jene Richtung des Kollektivismus, die wir unter dem Namen des St. Simonismus zusammenfassen können, kümmert sich primär nicht darum, wem die Produktionsmittel gehören, und auch nicht primär um eine Art von «sozialer Gerechtigkeit», sondern um eine Änderung der Grundsätze, die den Wirtschaftsprozess regulieren. Anstelle der Marktwirtschaft soll die Planwirtschaft, die Kommandowirtschaft oder die zentral geleitete Wirtschaft treten. Anders der Marxismus. Hier tritt in den Vordergrund das Problem des Eigentums und seine Lösung durch die «Sozialisierung» des Privateigentums. Das Eigentümliche der heutigen Lage besteht nun darin, dass wir beide Tendenzen sich miteinander verschmelzen sehen. Man will Planwirtschaft, «gelenkte Wirtschaft» oder wie man es sonst mehr oder weniger euphemistisch nennen mag, und man will zugleich die «Wirtschaftsdemokratie», «Sozialisierung», «Nationalisierung» oder «Vergesellschaftung», d.h. die Ersetzung des Privateigentums durch ein Eigentum, das sich trotz allen prüden Umschreibungen immer wieder als Staatseigentum enthüllt. Beides sind aber ganz verschiedene Dinge, was nicht immer beachtet wird. Beides muss daher auch getrennt von uns kritisiert werden.
Der Drang nach Sozialisierung im heutigen Europa ist wie eine Epidemie, die bald hier, bald dort aufflackert, um dann nach den rasch folgenden Enttäuschungen wieder abzuklingen. Jedes Mal, wenn eine Nation davon gepackt wird, fragt man sich: Was wollen die Leute eigentlich? Vieles deutet hier ja auf das Irrationale einer geistigen Massenepidemie. Man will «sozialisieren», weil nun eben etwas grundsätzlich Neues geschaffen werden soll, weil es so modern ist wie der Existentialismus oder weil versichert wird, es sei demokratisch und antifaschistisch, und auf diesem von Phrasen umnebelten Wege ist man jetzt in Deutschland sogar zu der Absurdität gelangt, Gemeindebetriebe noch einmal zu «sozialisieren», indem man sie in Staatsbesitz überführen zu müssen glaubt. Wenn wir aber die Herolde der Sozialisierung in die Enge treiben, keine nebelhaften Phrasen mehr dulden und auf einer vernünftigen Beantwortung der Frage bestehen, warum sie sozialisieren wollen, so werden die Klügsten uns antworten: «weil wir das Problem des Eigentums an den Produktionsmitteln lösen wollen».
Nun besteht dieses Problem wirklich. Ich bin sogar der Meinung, dass die Aufgabe, das Eigentum in unserer Zeit des Riesenbetriebes neu zu definieren, eine der dringendsten und für das Schicksal unserer Zivilisation entscheidendsten ist. Offenbar hat der Eigentümer eines Riesenbetriebes andere Rechte und Pflichten als der Eigentümer einer Handwerksstätte oder eines Bauernhofes, und wahrscheinlich würde unsere Zivilisation auch ohne Atombombe zugrunde gehen, wenn es nicht gelänge, unsere Proletarier irgendwie zu Eigentümern zu machen. Was aber sollen wir dazu sagen, wenn man die Verstaatlichung – die man auch «Sozialisierung» oder sonst wie nennen mag – als eine Lösung dieses Problems ansieht?
Das Mindeste, was wir dazu sagen müssen, ist, dass die Verstaatlichung das Problem überhaupt nicht löst. Ja es ist so weit von einer Lösung entfernt, dass sie wohl das Letzte, um nicht zu sagen das Dümmste, ist, worauf man bei ruhiger Besinnung verfallen kann. Warum? Weil das Problem des Eigentums in unserer Zeit das konzentrierte Eigentum ist und weil es absurd ist, ein Problem der Konzentration durch Hyperkonzentration lösen zu wollen. Wer die Verstaatlichung für eine Lösung hält, muss logischerweise der Meinung sein, dass es genügt, einen Gärtnerburschen aus einer privaten Gärtnerei in einen öffentlichen Park zu versetzen, an dessen Eigentum zu einem ultramikroskopischen Partikel teilzuhaben er sich schmeicheln darf.
Sie ist nicht nur keine Lösung des Problems des Eigentums, sondern nur seine äusserste Verschärfung. Denn sieht sich der Arbeiter nach einer umfassenden Verstaatlichung statt einer grossen Zahl von Arbeitgebern nur noch einem einzigen gegenüber, der zugleich mit der Regierung, der Polizei, der militärischen Autorität und den Gerichten identisch ist, so wird er seinen früheren Zustand als ein Paradies der Freiheit empfinden, aber nicht einmal mehr die Freiheit haben, das zu sagen. Das Allerschlimmste aber wäre, wenn es diesem allmächtigen Staate gelänge, ihn durch unablässige monopolistische Propaganda sogar des Gefühls für die Freiheit und des selbständigen Denkens zu berauben.
Das alles ist so selbstverständlich, dass sich keine weitere Diskussion lohnt. Die einzig interessante Frage ist, wie ein so absurder Gedanke wie derjenige der Verstaatlichung als einer Lösung des Eigentumsproblems überhaupt eine solche Gefolgschaft hat finden können. Es ist dies eine sehr beunruhigende Frage, weil sie die Antwort nahelegt, dass wir es hier mit einem Symptom der kollektiven Psychopathologie unserer Zeit zu tun haben. Es ist ein Stück reinster Mystik, wenn man meint, die berühmte Trennung des Arbeiters von seinen Produktionsmitteln dadurch wiederaufheben zu können, dass man den privaten Eigentümer durch den Staat ersetzt. An dieser Mystik ändert sich auch dann nichts, wenn wir es mit einem Staat zu tun haben, dem man das Prädikat «demokratisch» zugestehen kann. Oder will man dem Arbeiter eines Staatsbetriebes etwa einreden, dass er sich nun als Miteigentümer betrachten darf, der sich selbst anstellt, sich selbst entlässt, sich selbst bestraft, sich selbst die Löhne festsetzt, sich selbst die Arbeitszeit bestimmt und auf dem kleinen Umwege über den Staat selbst die Früchte seiner Arbeit ohne jeden Abzug geniesst? Und ein Staat, der die ungeheure Macht in sich vereinigt, welche die Konzentration des Eigentums in seiner Hand bedeutet – wie lange kann er denn überhaupt wirklich demokratisch bleiben? Und noch eins: Wenn ich meine Monatsrechnung an die städtischen Elektrizitätswerke bezahle, ist es für mich der geringste Trost, dass sie sich im Besitz der Gemeinde befinden? Welcher Unterschied besteht aber zwischen einem Kaufvertrag und einem Dienstvertrag?
Nun aber kommt zu allem Überfluss noch hinzu, dass die Verstaatlichung, die so sehr das Gegenteil einer Lösung des modernen Eigentumsproblems ist, nach schlechthin allen Erfahrungen zu schweren Produktionseinbussen führt. Diese Erfahrungen sprechen eine so eindeutige und auch von den Sozialisten nicht mehr zu überhörende Sprache, dass es kaum eine Übertreibung ist, wenn man sagt: Das sicherste Mittel, um ein Unternehmen in einen Defizitbetrieb zu verwandeln, ist in der Regel seine Verstaatlichung3. Dass sich die Hoffnung, ein verstaatlichter Betrieb würde weniger von Streiks heimgesucht oder in ihm würde fleissiger gearbeitet werden, als eine Illusion erwiesen hat, weiss jeder Zeitungsleser, und wenn er sich die psychologische Absurdität der Verstaatlichung, von der ich soeben gesprochen habe, klargemacht hat, wird er sich einer solchen Hoffnung von vornherein nicht hingegeben haben. Man berichtet, dass jüngst in Süddeutschland Gewerkschaften, denen man – in Verlegenheit, was man mit den enteigneten Betrieben von Nationalsozialisten machen soll – damit ein grosszügiges Geschenk machen wollte, dankend abgelehnt haben, da sie eine Defizitwirtschaft voraussähen, die ihnen nur schaden könne.
Das alles darf nicht als eine Einladung zu einer doktrinären Ablehnung jeder Art von Verstaatlichung aufgefasst werden. Kann sie das vom Marxismus selber in den Mittelpunkt gerückte Eigentumsproblem nicht lösen, so ist damit nicht entschieden, ob sie nicht vielleicht andere Probleme lösen könnte. Ich will nicht ironisch davon reden, dass die Verstaatlichung zur Lösung des Problems geeignet sein kann, wie jemand ohne praktische Bewährung im Wirtschaftsleben auf dem Umwege über die Politik eine Direktorenstelle erlangen kann. Aber es ist einer ernsten Diskussion würdig, ob die Verstaatlichung nicht unter Umständen die zweckmässigste Antwort auf ganz bestimmte Fragen der rationellen Produktionsgestaltung, des Monopols oder der Geldpolitik wäre. Zu dieser Diskussion will ich für diesmal nur das freie Geständnis beisteuern, dass selbst in dieser Richtung meine Skepsis gegenüber der Verstaatlichung in den letzten Jahren nur immer weiter zugenommen hat. Vor allem habe ich mich davon überzeugt, dass selbst dort, wo, wie im Falle der sogenannten Versorgungsbetriebe, die Herstellung des Wettbewerbs schwierig oder technisch unmöglich ist, die Verstaatlichung keineswegs die beste Lösung des Monopolproblems ist. Diejenigen Machtpositionen sind ja die gefährlichsten, die mit gutem Gewissen ausgenutzt werden, wie die Gefahr immer dann am grössten ist, wenn man sich ihrer nicht versieht. Zu diesen gefährlichsten, weil mit gutem Gewissen ausgenutzten Machtpositionen gehören in unserer modernen Gesellschaft vor allem drei: die bereits genannten Gewerkschaften, die zentralisierten Genossenschaften4 und schliesslich die öffentlichen Monopole. Gerade der laute Protest, den eine solche Feststellung hervorzurufen pflegt, beweist, in welchem gefährlichen Grade sich diese modernen Machtklumpen auf eine mystifizierte öffentliche Meinung stützen können. Hier ist noch ausserordentlich viel Aufklärungsarbeit zu leisten, aber es scheint, als ob man sich wenigstens über den gefährlichen Charakter der Staatsmonopole heute kaum noch grossen Illusionen hingäbe5.
4.
Durch Verstaatlichung wird also in der Regel nichts weiter erreicht, als dass in einem Augenblick, da alle Kräfte auf die Wiederherstellung einer befriedigenden wirtschaftlichen Ordnung konzentriert werden sollten, Unordnung, Überorganisation und Unwirtschaftlichkeit noch weiter um sich greifen und im Namen der Demokratie die Macht des Staatsapparates potenziert wird. Ausser dem Umstand, dass sie Pfründen schafft, löst sie kein Problem, das den Sozialisten wesentlich ist. Vor allem schliesst sie keine neue Wirtschaftsordnung ein. Nur: Je weiter die Verstaatlichung fortschreitet, um so funktionsunfähiger wird die durch den Preis gesteuerte Wirtschaft. Auch ein Sozialismus, der in erster Linie die Verstaatlichung betreibt, wird früher oder später vor die Frage nach der Wirtschaftsordnung gestellt werden, die an die Stelle der ruinierten Marktwirtschaft treten soll. Ob diese oder jene Betriebe verstaatlicht werden sollen, ist die eine Frage; ob die aus Staats- und Privatbetrieben zusammengesetzte Volkswirtschaft durch den Preis oder durch das Kommando des Staates gesteuert werden soll, ist die andere. Aber schliesslich mündet die erste Frage in die zweite. Dann haben wir es nicht mehr mit dem Sozialismus als einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, sondern mit dem Sozialismus als Wirtschaftsordnung zu tun, nicht mehr mit Marxismus, sondern mit St. Simonismus, nicht mehr mit Verstaatlichung, sondern mit Planwirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft, Kommandowirtschaft, kurzum mit jenem Wirtschaftssystem, das die Impulse des Marktes durch den Staatszwang, die durch das Risiko geschärfte Übersicht von Millionen über die wesentlichen Tatsachen des Wirtschaftslebens durch die rohe Einsicht einzelner Wirtschaftslenker und die Planwirtschaft der Konsumenten durch diejenige eines Ministers und seiner Untergebenen ersetzt. Nominell mag das Privateigentum an den Produktionsmitteln unter einer solchen Wirtschaftsordnung unangetastet bleiben wie im deutschen Falle eines Kollektivismus, der nun schon länger als ein Jahrzehnt andauert. Aber es wird seines Sinnes beraubt, da es jetzt einer Wirtschaftsordnung unterworfen wird, die dem Eigentümer das Recht der freien Verfügung und Entscheidung nimmt. Es ist der wirtschaftliche Prozess als Ganzes, der nunmehr nach anderen Gesetzen als früher abläuft. Was und wie viel von der einzelnen Ware produziert werden soll, wie viel verbraucht und wie viel investiert werden soll, wo investiert werden soll, was und wie viel im einzelnen ein- und ausgeführt, aus welchen Ländern es eingeführt und nach welchen Ländern es ausgeführt werden soll, ob man verreisen darf, welchen Beruf man ergreifen und welche Stelle man annehmen soll, an welchem Orte was produziert werden soll, nach welchen Massstäben die mit diesem ächzenden Wirtschaftsapparat noch erzeugten Produkte verteilt werden sollen – das wird jetzt durch die politischen Instanzen bewusst, zentral, nach einem mehr oder weniger willkürlichen und starren Plan und vor allem durch Zwang und Befehl entschieden. Das ist die kollektivistische Wirtschaftsordnung, die, abgesehen davon, dass ausserdem noch nach Herzenslust «sozialisiert» wird, diesem geplagten Kontinent in einem von Land zu Land verschiedenen Grade auferlegt worden ist. Es wird «beschlagnahmt», «genehmigt», «freigegeben», «abgeliefert», «angemeldet», «gesperrt», «berichtet», «bestraft», «zugeteilt», «eingesetzt», «verteilt», «geprüft», «überwacht» und vor allem «verboten». Oben wird geplant, geschätzt, gelenkt, gesteuert oder mit jener frivolen Willkür entschieden, mit der Roosevelt nach dem Geständnis Morgenthaus im Anfang des «New Deal» den Goldpreis am Frühstückstisch wie ein Lotterielos zu wählen pflegte. Unten wird vor allem gewartet, ein Formular nach dem anderen ausgefüllt und täglich verdrossen der Kampf mit den wachsenden Schwierigkeiten aufgenommen, bis die Tatkräftigen, wenn sie können, auswandern und die anderen in Lethargie oder Hoffnungslosigkeit versinken. Währenddem aber geht der Wirtschaftsprozess überraschenderweise ganz andere Wege, als geplant war.
Wie hat sich diese kollektivistische Wirtschaftsordnung bewährt? Das ist die Frage, bei der ich am Schluss am wenigsten zu verweilen brauche, denn die Sprache, welche die Erfahrungen der letzten Jahre sprechen, ist so eindeutig, dass man sich mit der lapidaren Feststellung begnügen kann: Die kollektivistische Wirtschaftsordnung hat im Durchschnitt und auf die Dauer eine Verlangsamung und Verwirrung des Wirtschaftsprozesses und eine schlechtere Versorgung der Bevölkerung gebracht, während sie in einzelnen Ländern, wie in Deutschland, bereits völlig zusammengebrochen ist. Mit wenigen Ausnahmen beherrscht in Europa das Krankheitsbild der kollektivistischen Inflation, die wir auch «zurückgestaute Inflation» nennen, die Szene, und wo sie sich eingenistet hat, treibt sie die Volkswirtschaft einer schweren Krise zu. Es hat sich herausgestellt, dass eine moderne Volkswirtschaft die Steuerung durch Wettbewerb und freie Preisbildung schlechterdings nicht entbehren kann. Wer diese Steuerung zerstört, richtet mehr Unheil an, als wenn er Güter in Massen vernichten würde, denn er vergreift sich an der Volkswirtschaft als einem lebendigen Organismus und verurteilt sie zu Siechtum und Lähmung.
Nur im Lichte dieser Erkenntnis erschliesst sich uns die Lösung des grossen Problems der wirtschaftlichen Genesung unseres alten Kontinents. Furchtbar sind die Lücken, welche der Krieg im Güterbestande Europas angerichtet hat, aber noch schlimmer als dieses Defizit an Gütern ist die Lähmung des Wirtschaftslebens als eines kontinuierlichen Prozesses der richtigen und maximalen Produktion, eine Lähmung, die so viele Länder Europas stagnieren und manche dahinsiechen lässt. Die Aufgabe besteht nicht darin, mit den keineswegs unerschöpflichen Reserven Amerikas immer wieder neu aufreissende Löcher zu stopfen. Es gilt vielmehr, die Hilfe Amerikas in den Dienst einer neuen europäischen Wirtschaftspolitik zu stellen, die nicht nur die Volkswirtschaft der einzelnen Länder besser aufeinander abstimmt, sondern sie vor allem von innen her ordnet und belebt. Eine solche Wirtschaftspolitik kann aber ehrlicherweise nur eine solche sein, die dem kollektivistischen Marasmus ein Ende macht. Wir möchten der Wirtschaftspolitik noch weitere Ziele und höhere stecken, aber ehe nicht der feste Boden einer funktionierenden wirtschaftlichen Ordnung wieder errungen ist, welche die gelähmten Produktivkräfte Europas entbindet, ist alles andere umsonst. Niemand sollte sich das eindringlicher vor Augen halten als jeder, der an der Struktur unseres abendländischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems manches ändern möchte, damit es menschlicher, stabiler und ausgeglichener sei. Solange die ökonomische Peristaltik Europas gestört und gelähmt ist, müssen zunächst alle Anstrengungen auf dieses vorderste Ziel gerichtet werden, das Wirtschaftsleben wieder in einen geräuschlosen, stetigen und freien Prozess der Maximalproduktion der richtigen Güter zu verwandeln. Wir müssen wählen nicht nur zwischen Kollektivismus und Freiheit, sondern zugleich zwischen Kollektivismus und wirtschaftlicher Gesundung – das ist der Schluss, der sich heute als Endsaldo einer europäischen Bilanz des Kollektivismus ergibt. Man könnte den Bankrott nicht vernichtender konstatieren.
Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 27 (1947-1948), Heft 6
Carlo Antoni: Considerazioni su Hegel e Marx. Neapel 1946, S. 41. ↩
G. Mosca: Elementi di scienza politica, Teil II, Kapitel 6, zitiert nach der Übersetzung «The Ruling Class». New York 1939, S. 486 f. ↩
Besonders interessant ist in dieser Hinsicht der Bericht, den eine zur Hälfte aus Sozialisten bestehende Kommission des belgischen Senats vor kurzem nach einer Reise nach Frankreich über die französische Nationalisierungspolitik erstattet hat. Die Kommission hat eine vernichtende Kritik geübt und vor einer Nachahmung in Belgien gewarnt (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1214, vom 22. Juni 1947). Vgl. auch E. Schmidt: Le problème de l’étatisation. Gent, 1947. ↩
In Frankreich weiss man bereits ein Lied davon zu singen, welch eine gefährliche Monopolmacht Gebilde wie die Société générale des coopératives de consommation und die Fédération nationale de groupements d’achat darstellen. ↩
Hierzu folgende Zeitungsnotiz: «Man steht in der Ostzone auf dem Standpunkt, dass es nicht auf die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht ankomme, sondern darauf, in welcher Hand eine solche Akkumulation liegt. Die Folge ist, dass aus dem weitgehend konzernfreien sächsischen Maschinenbau nun ein Staatskonzern geworden ist.» (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 714, vom 15. April 1947). ↩