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Europa neu denken

Die Europäische Union ist gezwungen, auf den Austritt Grossbritanniens zu reagieren. Zur politischen Einigung beschwört man weiterhin die sogenannte «europäische Identität». Doch existiert überhaupt ein gemeinsames, europäisches Gefühl? Einer der renommiertesten britischen Historiker glaubt: Nein.

Europa neu denken
Die neuen Perspektiven der Europäischen Union: Ockendons, Grafschaft Essex, Grossbritannien, Juni 2016. Photographiert von Daniel Biskup / laif.

Der Titel dieses Essays ist schamlos inspiriert von dem kürzlich erschienenen Buch «Imagining Europe: Myth, Memory, and Identity»1. Die in New York ansässigen Autoren gehen, so viel vorweg, nicht davon aus, dass es so etwas wie eine gemeinsame europäische Identität seit Jahrhunderten gibt. Stattdessen fragen sie, wie eine solche Identität in Zukunft geschaffen werden könnte, und ihre Prämisse ist es, dass eine solche Identität geschaffen werden muss – gerade im Interesse all jener Kreise, die sich eine «immer engere Union» unter den europäischen Staaten sehnlich wünschen.

Nicht alle enthusiastischen Befürworter des «europäischen Projekts» vernachlässigen ja die Frage, was es denn genau sei, das die Bewohner der am Westende der eurasischen Landmasse gelegenen Länder verbinde. Es ist, so viel wissen wir, nicht die Sprache. Ist es eine gemeinsame Geschichte? Könnte sie eine kulturelle Identität umfassen, die sich in gemeinsamen religiösen Traditionen ausdrückt? Oder geht es beim europäischen Projekt um die Zukunft, darum, eine prosperierende Gemeinschaft zu schaffen, deren Erfolg unter anderem in einer Art zentraler Regierung wurzelt, deren Hauptzwecke die Verteidigung europäischer Interessen gegen wirtschaftliche und industrielle Rivalen sind – hier ist nicht nur an die USA, sondern auch an China und die BRIC-Staaten zu denken. Aus britischer Warte lautet dann die Frage: Ist es besser, Vollmitglied eines prosperierenden Europas zu sein, selbst um den Preis eigener Souveränität, oder ist die Verteidigung der Souveränität eine so dringliche Angelegenheit, dass wir Wohlstandsverringerungen in Kauf nehmen sollten, wenn wir dafür (obschon einige Leute diesen Begriff bekritteln werden) «freier» wären – durch eine weniger enge Beziehung zur EU?

 

Grossbritannien und die Anfänge der EU

Im Spannungsfeld dieser Fragen, ja in diesem historischen Dilemma befand sich die britische Stimmbevölkerung im vergangenen Juni: Befürworter der «Stay»-Kampagne betonten unaufhörlich die drohenden wirtschaftlichen Auswirkungen eines Austritts. Befürworter der «Leave»-Kampagne hingegen wurden nicht müde, hervorzuheben, wie wichtig es sei, «die Kontrolle zurückzugewinnen». Das Wort «Souveränität» mieden sie gleichwohl – es war ihnen wohl zu unattraktiv und abstrakt.

Grossbritanniens Verhältnis zu Europa änderte sich von Grund auf, als das Vereinigte Königreich 1973 der Europäischen Gemeinschaft (EG) beitrat. Zuvor war man Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation gewesen. Die EG von 1973 war aber eine völlig andere Körperschaft als die Europäische Union des frühen 21. Jahrhunderts. Die Zollunion beispielsweise war damals soeben erst eingerichtet worden, es gab noch Grenzkontrollen, während die Freizügigkeit für Arbeitnehmer noch Fernziel war. Man muss sich die Fähigkeit damals amtierender Politiker wie Harold Wilson oder Edward Heath, Plattitüden von sich zu geben, ohne sich Gedanken über deren Bedeutung zu machen, vergegenwärtigen: da fragt man sich doch heute, ob sie damals überhaupt erfassten, was vom «europäischen Projekt» erwartet wurde. Oder gingen sie sogar davon aus, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sich so entwickeln würde, wie es kam? Damals wie heute gilt: Politiker sind oft mehr darauf erpicht, die Flügel ihrer Parteien ins Gleichgewicht zu bringen, als darüber nachzudenken, was in einer Jahrzehnte entfernten Zukunft aufgrund ihrer Entscheidungen geschehen könnte2. Im völligen Kontrast dazu steht Margaret Thatchers Vorgehensweise! Thatcher hatte ein gerissenes Gespür für die wirtschaftlichen Vorteile der EG und unterstützte vehement die Idee eines «einzigen Markts». Zeitgleich hoffte sie, dass durch die Vergrösserung der EG-Mitgliederzahl der Enthusiasmus all jener Brüsseler, Bonner und Pariser verdünnt werde, die eine immer engere politische Union herbeisehnten. Eine schöne Idee. Es muss heute aber nicht mehr eigens erwähnt werden, dass die nationalen Regierungen seither mit immer grösseren Einschränkungen ihrer Souveränität kämpfen – und zwar nicht erst seit der Unterzeichnung der Verträge von Lissabon. Auch dass die Einführung der ironischerweise «Euro» genannten Gemeinschaftswährung in einer Serie von Ereignissen gipfelte, die die EU in ihren Fundamenten erschütterten, ist jedem Europäer heute präsent. Woher also soll da die Einigkeit kommen?

 

Verfassungspatriotismus

Mit Jürgen Habermas insistiert einer der herausragenden Denker der Moderne, dass eine gemeinsame politische Identität auch unter Berücksichtigung der verschiedenen kulturellen Traditionen Europas erreicht werden könne. Habermas – bekannt für seine Schriften zur «öffentlichen Sphäre» – skizziert einen europäischen «Verfassungspatriotismus», der auf Referenden und einem erstarkenden Engagement der EU-Bürger für die Entscheidungen der EU-Zentralorgane beruht3. Es ist diskutabel, ob das Konzept eines «Verfassungspatriotismus» allzu viel Bedeutung hat. Doch Habermas hat recht, wenn er beunruhigt ist über das undemokratische System der Entscheidungsfindung im Herzen der EU. Es handelt sich um ein «demokratisches Defizit», das dadurch entsteht, dass die EU-Legislation von einer nicht gewählten, weit von den Bürgern entfernten Kommission ausgeht. Es ist indes auch zu bezweifeln, dass eine am schweizerischen Modell orientierte europäische Ordnung funktionieren könnte, denn dieses Modell funktioniert in der Schweiz vor allem deshalb, weil das Land klein ist und die in vielerlei Hinsicht autonomen Kantone winzig. Kommt hinzu, dass manche Kantone Produkte einer Verfassungsgeschichte sind, die bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreicht, und so über einen langen Zeitraum hinweg eine unverwechselbare politische Kultur erzeugt wurde, die kaum nachzuahmen ist. Ich war einmal Ohrenzeuge, als ein bekannter österreichischer Politiker öffentlich sagte, dass es keinen Sinn mache, die Öffentlichkeit die europäischen Kommissare und andere hochrangige Vertreter der EU bestimmen zu lassen, da doch ohnehin niemand all die aus verschiedenen Ländern stammenden Leute kenne. Immerhin: heute kennt jeder einen Jean-Claude Juncker – seiner nimmermüden Forderung nach «mehr Integration» sei Dank. Es ist deshalb nicht abwegig, eben diesem Jean-Claude Juncker eine gewisse Mitverantwortung am Brexit zu attestieren, hätten doch echte Kompromisse Grossbritannien wohl in der EU halten können, wenn auch vielleicht eher als ausserordentliches Mitglied.

Im Gegensatz zur Geschichte der Schweiz ist Europas Geschichte eine der Teilung und Trennung. Es gehörte zu den Absichten der EG-Gründer, ein neues Europa zu schaffen, in dem Kriege zwischen Nachbarn, besonders natürlich zwischen Frankreich und Deutschland, unmöglich sind. Mit Fug und Recht ist diesbezüglich einzuwenden, dass es eher die Nato als die EU war, die zu dieser westeuropäischen Friedenszeit führte. Klar ist auch, dass die stürmische europäische Geschichte vor dieser Friedenszeit zur Kreation einer europäischen Identität kaum geeignet ist. So schreiben die Autoren von «Imagining Europe» etwas flapsig: «Wer wir Europäer gewesen sind, ist nicht so wichtig wie die Antwort auf die Frage, wer wir sein wollen.»4 Und genau damit formulieren sie, vielleicht unbewusst, die grosse Sorge vieler Bürger: dass man uns nicht etwa sagt, wer wir sein wollen, sondern vorschreibt, wer wir sein müssen: europäische Brüder und Schwestern.

 

Institutionengeschichte

Die Geschichte des Vereinigten Königreichs, besonders jene Englands, hat Wurzeln zurück bis ins Mittelalter. Ein grundlegender Unterschied zwischen Britannien und Europa ist die Kontinuität der britischen Institutionen: das Parlament, das auf dem Common Law basierende Recht, die Universitäten und die Krone sind sehr alte Institutionen, die mit wenig bis gar keinen Unterbrechungen die Zeiten überdauert haben. Nirgends in Europa gibt es Vergleichbares. Italien und Deutschland etwa sind Schöpfungen des neunzehnten Jahrhunderts. Die energischen Bemühungen, nationale Identitäten zu schaffen, haben in beiden Ländern desaströse Konsequenzen gezeitigt. Frankreich wurde für immer verändert durch die 1789er Revolution und die anschliessenden politischen Unruhen. In Spanien haben viele altehrwürdige Institutionen überlebt, doch ein Zentralisierungstrend hat diese Kontinuität ausgebremst, und die Wunden des Bürgerkriegs sind noch immer nicht ganz verheilt. Polen gehörte in verschiedenen Zeiten zu verschiedenen Orten. Bei den kleineren Ländern ist Belgien eine opportunistische, bis heute zutiefst gespaltene Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts – viele Belgier glauben eben gerade deshalb so leidenschaftlich an Europa, weil sie nicht an Belgien glauben. Die Überbleibsel der Sowjetunion mussten institutionelle Strukturen und Attribute souveräner Staatlichkeit aus dem Nichts schaffen (darunter Währungen, die von vielen zugunsten des Euro aufgegeben wurden). Luxemburg wiederum spielt eine Rolle, die seiner Winzigkeit widerspricht. Herr Juncker hat seine helle Freude an seiner Metamorphose vom Premierminister Zwerg-Ruritaniens zum europäischen Präsidenten. Bleibt zu hoffen, dass ihn nicht das Schicksal früherer Luxemburger ereilt, die in der europäischen Politik mitmischten: König Johann von Böhmen, der blind in die Schlacht von Crécy ritt. Oder Wenzel von Luxemburg, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der die Hunde auf seine Frau hetzte und von deutschen Prinzen entthront wurde.

Wie auch immer: es geht mir um die politische Kultur, die sich in Grossbritannien stets von den Pendants Kontinentaleuropas unterschied. Wenn wir seine Pionierrolle in der Industriellen Revolution in der Rezeptur unseres Cocktails mit mitberücksichtigen, klaffen Britannien und die europäischen Nachbarn im 18. und 19. Jahrhundert noch weiter auseinander. In allen diesen Ländern ist die Geschichte wichtig, doch in Britannien ist die Verbindung mit der Vergangenheit besonders intim und dauerhaft: Es hat schon seinen Grund, dass Touristen auch im Jahr 2016 noch von den Traditionen des royalen Londons träumen.

Und in Brüssel? In Brüssel sollen selbst fundamentalste, geschichtlich bedingte Unterschiede der politischen Kulturen bestenfalls verschwiegen werden. Man druckt Schulbücher in dem Bestreben, europäische Geschichte als gemeinsames Unterfangen darzustellen. Diese pädagogischen Anstrengungen beinhalten eine Verzerrung der Vergangenheit – nur schon durch die Annahme, dass so etwas wie eine gewisse «europäische Identität» über die Jahrhunderte existiert habe, eine Art sechster, europäischer Sinn, der über kurz oder lang zur Einigung Europas geführt habe5. Woher kommt diese Idee?

 

Eigenwahrnehmung eines (Sub-)Kontinents

Der Mythos von Europa kann bis ins antike Griechenland zurückverfolgt werden – schön, sagt man sich. Aber: es bleibt doch der Mythos der Vergewaltigung einer phönizischen (also heute libanesischen) Prinzessin durch den Lustgreis Zeus. Dabei geht es nicht um einen Kontinent. Und Europa ist doch ein Kontinent, oder? Klassische Vorstellungen der Kontinente wurden stets von ihrem Verhältnis zum Mittelmeer bestimmt. Nur so betrachtet erschien und erscheint Europa als Kontinent – und nicht als eine nördlich von Afrika gelegene, aus Asien herausragende Halbinsel, als Subkontinent. Wir nehmen also Kontinente nicht vorrangig aufgrund geografischer Tatsachen, sondern aufgrund kultureller Annahmen wahr. Zypern wird deshalb meist als «europäisch» wahrgenommen – obschon es Asien näher liegt –, weil die Bevölkerung griechischer Herkunft ist. Auch von den Kanaren wird gemeinhin angenommen, sie seien europäisch, nicht afrikanisch – da sie politisch zu Spanien gehören und seit dem Ende des 15. Jahrhunderts hauptsächlich von Iberern besiedelt wurden6. Alle grösseren Mittelmeerinseln wurden zum einen oder anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte von Asien oder Afrika aus regiert, selbst wenn heute alle Teil grösserer europäischer Staaten sind – bis auf Zypern (das ohnehin ein spezielles politisches Problem darstellt) und Malta, dessen katholisches «Europäertum» in Frage gestellt wird von den Einwohnern, die maghrebinisches Arabisch sprechen. Und ist Armenien eigentlich europäischer als Aserbaidschan? Beide nehmen am Eurovision Song Contest (ESC) teil – ein guter Indikator des «Europäertums», wenn auch einer, der auch Israel sowie, in jüngster Zeit, Australien mit einbezieht. Jedenfalls entsteht angesichts der ESC-Resultate der Eindruck, dass regionale Loyalitäten das Wichtigste seien, und es entsteht eben gerade kein gemeinsames europäisches Gefühl – wo doch Skandinavier oder Slawen selbst dann füreinander stimmen, wenn sie Auftritte kaum je dagewesener Grässlichkeit abliefern. Es bleibt der Befund: Im grösseren Massstab betrachtet, haben Kontinente verschwommene oder, wie im Falle von Europas Fernem Osten, überhaupt keine Grenzen.

 

Die «christliche Identität»

Selbstverständlich ist Armenien seit ältester Zeit christlich, während Aserbaidschan überwiegend muslimisch geprägt ist. Eine Annahme der ersten Enthusiasten der europäischen Einigung war die (katholische oder protestantische) «christliche Identität» Europas, die später auf Juden ausgeweitet wurde (was zum Begriff «judäochristlich» führte). Wo diese Annahme die Türkei verortet, das einzige Land, das zwei Kontinente verbindet und eine eng mit Südeuropa verwobene Geschichte hat, ist eine offene Frage. Sowohl eine gewisse kulturelle Distanz als auch das Gefühl, dass die Grenzen der EU nicht direkt neben Iran und dem Irak liegen sollten, haben das Interesse an einer EU-Inte-gration der Türkei gedämpft – während Erdogan durch seine ottomanischen Anwandlungen keine neuen Freunde in Europa gewonnen hat. George Osborne, Ex-Schatzkanzler der Regierung Cameron, vertrat während der Referendumskampagne eisern die Ansicht, dass die Türkei «heute» niemals in die EU aufgenommen würde – nun ja, selbstverständlich nicht; aber es misslang ihm, Befürchtungen über eine mögliche Öffnung der EU für Millionen Türken zu zerstreuen. Es wäre ein Fehler, alle, die über einen möglichen türkischen Beitritt besorgt waren, Rassisten oder Islamophobe zu nennen.

Die von Präsident Sarkozy initiierte «Mittelmeerunion» war teilweise eine Beschwichtigung für Länder, die gerne der EU beigetreten wären, deren Mitgliedschaft aber aufgrund der geografischen Lage oder Religion (oder nicht zuletzt aus Angst vor weiterer Massenmigration, und zwar nicht nur aus der Türkei, sondern auch aus Marokko und weiteren Ländern) ausgeschlossen wurde. Eigentlich ist ja eine Plattform, die es Ländern, die sonst nicht einmal miteinander reden, ermöglicht, Umweltfragen und weitere die Mittelmeerregion betreffende Belange zu diskutieren, sehr willkommen – doch bis dato waren die Resultate enttäuschend: die Motive, die Mittelmeerunion ins Leben zu rufen, stehen schräg in der Landschaft. Doch immerhin haben solche zwischen verschiedenen Regierungen gelagerte Körperschaften den Vorteil, Frieden und Handel zu befördern, ohne in die Souveränität der Mitgliedstaaten einzugreifen7.

 

Das römische Reich und das antike Griechenland

Es ist höchste Zeit für ein Geständnis: Von einem Sinn für «Europäertum» kann, auch wenn wir noch weiter zurückschauen in der Geschichte, nicht die Rede sein. Zwar umfasste das Heilige Römische Reich einen guten Teil der heutigen europäischen Länder – Deutschland, Österreich, die Tschechische Republik, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, die Schweiz, Italien –, aber die Möglichkeiten der Kaiser, in die Angelegenheiten ihrer Beherrschten einzugreifen, waren jenseits der Gebiete, die zum familiären Erbe der herrschenden Dynastien gehörten, sehr beschränkt: das Haus Hohenstaufen im 12. und 13. Jahrhundert, das Haus Luxemburg im 14. Jahrhundert und jenes der Habsburger für einen Grossteil der Zeit danach. Unbeleckt von historisch verbürgter Evidenz wurden dennoch Behauptungen aufgestellt, dass eine Art europäischer Identität bis ins 8. Jahrhundert zurückreiche. Wie also eine bekannte Expertin für die Herrschaft des frühmittelalterlichen Massenmörders Karls des Grossen ihre Abhandlung über ihn mit dem Untertitel «The Formation of a European Identity»8 versehen kann, ist und bleibt ein Rätsel, das leider auch ihr Buch nicht beantworten kann.

Auch die Idee, dass die Wurzeln der europäischen Zivilisation nicht nur in Judentum und Christentum liegen, sondern im antiken Griechenland, ist nicht wirklich haltbar. Das «Europäertum» ist in dieser Sicht ein rationalistischer Versuch, die Wurzeln unserer Welt in Plato und Aristoteles (egal, wie gross die Differenzen zwischen ihnen auch sein mögen!) zu sehen, in der griechischen Wissenschaft und Kunst sowie im Wiederaufleben des Klassischen in der italienischen Renaissance9, die mit der Verwendung des Begriffs «Europa» einherging. Aber die Idee eines gemeinsamen, bis ins antike Athen zurückreichenden europäischen Erbes wurde entwickelt, um die verfrühte Aufnahme Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft im Jahr 1981 zu rechtfertigen. Dieselbe Annahme stand auch hinter der Entscheidung, Griechenland in den Euroraum aufzunehmen, einerlei, wie weit es auch immer von der Erfüllung der diesbezüglichen Kriterien entfernt war. Es ist müssig, auf die desaströsen Konsequenzen für die Eurozone und für Griechenland einzugehen.

Auch die Frage, ob denn wenigstens die athenische Demokratie, die bekanntlich Frauen und Sklaven ausschloss, ein probates Modell für uns sei, muss gestattet sein. Und zu guter Letzt könnte man auch die kulturelle Kontinuität vom antiken Griechenland über Byzanz und die ottomanische Herrschaft bis in das Griechenland unserer Tage bezweifeln, und zwar ganz ohne jene Extremen zu unterstützen, die bestreiten, dass die heutigen Griechen überhaupt von den antiken abstammen. Besonders Historiker der Islamischen Wissenschaft haben insistiert, dass es – mehr noch als das Verdienst von Byzanz – ein Verdienst des Islams sei, die griechischen Wissenschaften erhalten und erweitert zu haben10. Dieses Argument wurde bereits überstrapaziert – trotzdem illustriert es, dass in der weiter entfernten europäischen Vergangenheit mit Spanien und Portugal zwei wichtige europäische Länder zu einem Grossteil unter muslimischer Herrschaft standen und Sitz blühender Kulturen waren, die Juden, Christen und Muslime für gemeinsame intellektuelle Unternehmen zusammenbrachten.

 

Deutschland gestern, Deutschland morgen?

Das Problem bleibt: die Grenzen von «Europa» wandern. Norman Davies, der bedeutende Historiker Polens, hat die Geschichte Europas neu erzählt, indem er sich an die im Osten Deutschlands gelegenen Länder hielt, die von der Geschichtsschreibung bisher vernachlässigt wurden11. Aber auch in seiner Betrachtung fällt auf: jener Teil Osteuropas, der lange unter türkischer Herrschaft stand – Albanien, Rumänien und Bulgarien, die entweder in die EU wollen oder schon Mitglieder sind –, wird sehr viel spärlicher betrachtet als das katholische oder protestantische Europa. Andere Historiker der Geschichte Europas rückten andere Länder in den Mittelpunkt: Brendan Simms’ «Europe – the Struggle for Supremacy» sieht die deutschsprachigen Länder des Heiligen Römischen Reiches vom 15. Jahrhundert an als Angelpunkt vieler Bemühungen um Dominanz über weite Teile Europas12. Unvermeidlicherweise fallen die westlicher gelegenen Teile Europas aus dem Blick, obschon Simms in seinen Kapiteln über die Rolle Nachkriegsdeutschlands bei der Schaffung eines neuen Europas nachdenkt (eine Rolle, die er resolut gutheisst). Dabei sollte doch just dieser Punkt Anlass zu mancher Debatte unter den Kommentatoren des gegenwärtigen Europas sein: das Ausmass, bis zu dem die EU dem wiederaufstrebenden Deutschland eine dominante Rolle in Westeuropa zugestand, wird sichtbar in der kompromisslosen Haltung, die die deutsche Regierung in der Eurokrise einnimmt – eine Haltung, in der nicht wenige eine Wiederauferstehung der Deutschen Mark sahen. Trotzdem fiel die Reaktion auf die überschiessende wirtschaftliche und politische Stärke Deutschlands in der EU nicht nur negativ aus. Ein italienischer Kommentator, Angelo Bolaffi, präsentierte Deutschland als nachahmenswertes Modell für andere europäische Länder, besonders für Italien: «Deutschland, das Modellland». Es sei Aufgabe Deutschlands, in Europa Führungsstärke («egemonia») zu zeigen – um so die Union zu retten. Es ist wenig überraschend, dass dieses Buch bald auf Deutsch übersetzt wurde und sich seither grosser Beliebtheit in Deutschland erfreut13. Dass ein Autor jüdischer Herkunft kein Problem hat, anzuerkennen, wie gründlich das Deutschland des 21. Jahrhunderts seine schreckliche Vergangenheit aufgearbeitet hat und zu einem sowohl von Nazi- als auch DDR-Vorgängern grundverschiedenen Land geworden ist, beeindruckt.

 

Nicht ein Mythos, sondern viele – und alle unzureichend

Wir halten fest: Europa ist nicht ein Mythos, sondern viele Mythen. Mythen, die nicht selten in einer Verklärung der antiken Vergangenheit wurzeln, Mythen als Ausdruck wechselnder Vorstellungen davon, was Europa ist, wo sein Zentrum liegt – oder liegen sollte. Einerlei, ob wir mit Bolaffi oder Simms annehmen, das Gravitationszentrum Europas liege in Deutschland, oder ob wir davon ausgehen, dass es in Brüssel sei: wir finden uns vor ein Rätsel gestellt. Seltsamerweise behauptet keiner, das Gravitationszentrum Europas liege im Vereinigten Königreich. Dabei haben England und Grossbritannien intensiv an der Geschichte des europäischen Kontinents mitgewirkt – längst nicht nur durch Englands Könige, die ja im Mittelalter über weite Teile Frankreichs herrschten. Darüber hinaus hat England eine ganz eigene politische Kultur entwickelt, wobei es auch von seiner Insellage profitieren konnte. Das hat aber nicht etwa zu Provinzialität geführt: «Nebel im Ärmelkanal, Kontinent abgeschnitten» ist eine verzerrte Wiedergabe von Grossbritanniens Beziehung zu Europa. Trotzdem liegt es auf der Hand, dass ein Land mit einer so eigenständigen politischen Kultur und einer so reichen Geschichte der Kontinuität mit Unbehagen neben vielen anderen EU-Mitgliedern sitzt.

Was tun? Unverwechselbare Charakterzüge, die auch andere Länder auszeichnen, müssen von der EU anerkannt werden, und sie sollten als Element eines radikalen Reformprogramms für die EU dienen. Das Angebot im europäischen Supermarkt darf nicht einfach nur «one size fits all» sein. Ein neues Europa ist vonnöten; der Schock des britischen Referendums sollte die europäischen Politiker zum Nachdenken über das weit verbreitete Unbehagen gegenüber dem europäischen Projekt bringen. Aber die Insistenz, mit der auch weiterhin auf immer grössere Integration hingearbeitet wird, sowie das Entsetzen gewisser Regierungen angesichts nur schon des Gedankens, auch andere Länder könnten ihre Bürger auffordern, ihre Ansichten über die Zukunft in der Union zu äussern, offenbaren den systemischen Vertrauensmangel der höchsten EU-Ränge in die Demokratie. Das Brexit-Votum kann als vernichtende Anklage gelesen werden. Eine Anklage wider die Arroganz und Distanziertheit all jener, die versuchten und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen dessen, was Europa werden solle, durchzusetzen. Nicht Grossbritannien hat die EU im Stich gelassen – die EU hat alle ihre Mitglieder im Stich gelassen.


Übersetzt aus dem Englischen von Gregor Szyndler.


David Abulafia
ist Professor für die Geschichte des Mittelmeers in Cambridge. Seine Geschichte des Mittelmeerraumes – «Das Mittelmeer. Eine Biographie» (S. Fischer, 2013) – sorgte international für Aufsehen. Abulafia ist Mitglied der British Academy sowie der Academia Europaea, daneben amtet er als Vorsitzender von «Historians for Britain», einer Vereinigung von Historikern, die sich für einen grundlegenden Wandel der Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU einsetzt.


1 Chiara Bottici & Benoît Challand: Imagining Europe. Myth, Memory, and Identity. Cambridge: Cambridge University Press, 2013. – Siehe auch: Jeffrey T. Checkel & Peter J. Katzenstein: European Identity. Cambridge: Cambridge University Press, 2009.
2 Oliver Lewis: Lessons from the 1975 EU Renegotiation. London: Historians for Britain, 2014; http://forbritain.org/bfb060-historians-report-mr_r.pdf
3 Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp, 2011; zitiert nach: Bottici & Challand: Imagining Europe, S. 32 f.
4 Bottici & Challand: Imagining Europe, S. 37.
5 Bottici & Challand: Imagining Europe, S. 101–145.
6 Martin W. Lewis & Karen Wigen: The Myth of Continents. A Critique of Metageography. Oakland: University of California Press, 1997.
7 David Abulafia: The Great Sea. A Human History of the Mediterranean (Updated Edition). London, 2014, S. 639. – Auf Deutsch: Das Mittelmeer. Eine Biographie. Frankfurt a.M.: S. Fischer-Verlage, 2013.
8 Rosamond McKitterick: Charlemagne. The Formation of a European Identity. Cambridge: Cambridge University Press, 2008.
9 Denys Hay: Europe. The Emergence of an Idea. Edinburgh: University Press, 1957.
10 Jim Al-Khalili: Pathfinders. The Golden Age of Arabic Science. London: Penguin, 2012.
11 Norman Davis: Europe – a History. Oxford: Oxford University Press, 1996.
12 Brendan Simms: Europe – the Struggle for Supremacy. 1453 to the Present. London: Basic Books, 2013.
13 Angelo Bolaffi: Cuore Tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea. Rom: Donzelli, 2014. – Auf Deutsch: Deutsches Herz: Das Modell Deutschland und die europäische Krise. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014.

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