«Europa kann viel von der Schweiz lernen»
Nationalismus, Bürokratismus und Demokratiedefizite haben die Europäische Union in eine tiefe Krise gestürzt. Eine Bürgerrepublik von unten mit Anleihen am Schweizer Vorbild könnte das Modell sein, das Europa nun braucht.
Herr Höffe, bei aller Kritik in einzelnen Fragen: Ist die Europäische Union nicht eine beispiellose Erfolgsgeschichte? Seit sie existiert und sich ausbreitet, gibt es immer mehr Wohlstand und immer mehr Frieden.
Dass die EU die grösste politische Innovation seit dem Zweiten Weltkrieg ist, gilt zweifelsohne. Und doch ist es vermessen zu sagen, dass wir den Frieden, den Wohlstand und die Rechtsstaatlichkeit, die wir in Europa seit langem geniessen, nur den Institutionen der EU zu verdanken hätten. Ein Vergleich mit so ureuropäischen Staaten wie der Schweiz oder Norwegen zeigt doch: Den Frieden verdanken die Bürger Europas nicht der EU, sondern dem Friedenswillen der Staaten und der Nato. Das Rechtsprojekt geht auf die Tatsache zurück, dass die Einzelstaaten glücklicherweise Rechtsstaaten sind, und den Wohlstand schulden sie dem Unternehmertum und dem Arbeitswillen der Bürger, nicht etwa Brüssel oder Strassburg. Es besteht daher die Gefahr, dass sich die EU diese Errungenschaften auf die Fahne schreibt und sich dabei – in einer Art von verbalem Imperialismus – selbst immer wieder mit ganz Europa gleichsetzt. Dazu gehört auch, dass Politik, Medien, aber auch Intellektuelle wie selbstverständlich von Europa sprechen, obwohl sie nur die EU meinen.
Was bewirkt diese Gleichsetzung von EU und Europa?
Sie gefährdet die Herstellung einer gesamteuropäischen Identität. Die Europäer stehen einander ja allein durch den kulturellen Hintergrund weit über die Grenzen der EU nahe. Als jemand, der 15 Jahre in der Schweiz gelebt hat, fühle ich mich intensiv mit Europäern verbunden, die noch nie zur EU gehört haben. Wenn nun seitens der EU behauptet wird, man vertrete Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand, dann gehört auch ein wenig Ehrlichkeit dazu zuzugeben, dass andere Länder wie die Schweiz und Liechtenstein, Island und Norwegen dies ebenso erfolgreich tun. Hinzu kommt ein gewisser Drang von EU-Seite, die Nicht-EU-Länder den eigenen Kriterien zu unterwerfen.
Was sind für Sie die Hauptelemente dieser Legitimationskrise?
Das Recht auf Differenz fehlt. Wir müssen doch nicht überall dieselben Mentalitäten haben und auch nicht dieselben Detailregeln. Zudem gibt es institutionelle Probleme; wenn etwa der Europäische Gerichtshof nicht unparteilich urteilt, sondern sich stets zugunsten der Vertiefung der EU ausspricht, ist das einfach ungehörig. Und es geht nicht an, einfach so weiterzumachen wie bisher, wenn etwa die Franzosen oder die Niederländer gegen eine Erweiterung der Befugnisse der Union stimmen.
Oft wird ein Demokratiedefizit beklagt. Wie liesse sich das beheben?
Das Europäische Parlament hat eindeutig zu wenig Befugnisse. Auch der Ministerrat müsste ein grösseres Gewicht haben. Demokratische Legitimation erreicht die EU nur, wenn sie einem Modell folgt, wie wir es z.B. aus der Schweiz kennen. Es müsste eine Art europäischen Ständerat geben sowie eine Vertretung der Bürger wie im Nationalrat. Die Unverhältnismässigkeit der Repräsentation verschärft das Ganze: Es ist nicht gut, dass ein Luxemburger Europaabgeordneter 28 000 Bürger vertritt, ein deutscher aber 820 000. Wer kennt bei solchen Zahlenverhältnissen überhaupt seinen EU-Abgeordneten? Infolgedessen ist die politische Partizipation des einzelnen Bürgers damit viel geringer. Darüber wird noch viel zu wenig diskutiert, geschweige denn, dass Versuche gemacht würden, es zu verbessern.
Viele Bürger haben das Gefühl, mit der EU werde ihnen ein Stück Selbstbestimmung und sogar Heimat genommen. Kann es ein europäisches Heimatgefühl überhaupt geben?
Ich denke schon. Die Identität eines normalen Bürgers ist sehr vielschichtig und reicht bis hin zu jener kosmopolitischen Perspektive, die wir längst im Internet, im Berufsleben oder in Universitäten praktizieren. Die Wirklichkeit, auch das Schicksal von Vertriebenen, zeigt uns, dass Heimat, die ich als Kind oder Jugendlicher erlebt habe, nicht die Heimat bleiben muss, mit der ich auf Dauer lebe. Heimat wächst in sich überlappenden Kreisen und verändert sich. Dass meine Heimat etwa die Schweiz oder Deutschland ist, heisst ja nicht, dass andere nicht auch ihre jeweiligen Heimaten haben dürfen.
Gibt es Gestalten des europäischen Geisteswesens, die uns bezüglich des Gedankens der Universalität als Vorbild dienen können?
Zum Beispiel Immanuel Kant. Als Königsberger war er zum einen seiner eigenen Region stark verbunden, zugleich aber äusserst neugierig fremden Ländern und Sitten gegenüber. Mit seinem Kosmopolitismus in Politik und Pädagogik, in der Ethik und Erkenntnistheorie ist er der bedeutendste Vertreter des Universalismus, der Europa seit der Zeit der Aufklärung geprägt hat. Und selbst sein Aufklärungsbegriff spiegelt dies wider: Aufklärung, so Kant, brauchen wir über die Verhältnisse in der Welt, aber sie beginnt doch bei uns. Ich muss selber den Mut haben, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen.
Hat uns diese Mentalität nicht auch ein Toleranzverständnis gebracht, das bisweilen in Gleichgültigkeit dem Andersartigen gegenüber zu kippen droht?
Toleranz bezeichnet ja die Fähigkeit, anderen ihren Wert und ihr Recht zu lassen, obwohl man das Eigene betont und für wichtig hält. Das setzt etwas voraus, was wir vergessen haben: dass man etwas Eigenes vertritt und lebt. Bisweilen leiden wir aber unter der Angst vor dem Eigenen aus der Befürchtung, man könnte uns der Angst vor dem Fremden bezichtigen.
In Deutschland wird immer wieder gefragt, ob der Islam zu Deutschland gehöre. In der Schweiz gab es den Minarettstreit und schliesslich 2007 eine Volksabstimmung, die zu einem Baustopp führte. Wie ist es mit Europa – gehört der Islam dazu?
Man muss unterscheiden zwischen den Muslimen, die selbstverständlich, mit allen Bürgerrechten und -pflichten, zu Europa gehören, und dem Islam als solchem. Hier ist zu fragen, welchen kulturellen Beitrag der Islam für Europa geleistet hat. Für das Judentum gilt weit mehr, dass es Europa wirtschaftlich und kulturell stark geprägt hat. Das kann auch für den Islam dann zutreffen, wenn Muslime in absehbarer Zeit verstärkt das tun, was durchaus schon in Ansätzen geschieht: nämlich in Wissenschaft, Literatur oder Unternehmertum zu einem Faktor kultureller Leistungen zu werden. Eine kulturelle Offensivität aber, wie sie z.B. von Saudi-Arabien betrieben wird, indem man etwa riesige Moscheen baut, die das Stadtbild und die europäische Identität zu verändern suchen, muss nicht sein. Es ist selbstverständlich, dass muslimische Gemeinden in Europa ihre Moscheen bauen dürfen. Und doch gilt: Christen dürfen in islamischen Staaten keine neuen Kirchen bauen, nicht einmal die schon Bestehenden hinreichend pflegen. Dann darf man erwarten, dass die Muslime nicht mit Monumentalmoscheen für eine architektonische Grosspräsenz in christlichen Ländern kämpfen.
Was die wirtschaftliche Verfassung der Union angeht: Besteht nicht die Gefahr, dass ein zentralistisches Gebilde wie die EU immer stärkere Freiheitseingriffe vornimmt?
Diese Gefahr ist nicht zu leugnen. Wenn man darauf achtet, dass die EU mit 7 Prozent der Weltbevölkerung 25 Prozent des Weltbruttoinlandsproduktes, aber 50 Prozent der Sozialstaatsausgaben hat, und so viele Eingriffe in Fällen tätigt, wo der Markt besser funktioniert, kann man durchaus von einer Art EU-Sozialismus sprechen. Und «Markt» ist ja nicht nur ein ökonomischer Begriff. Europa verdankt auch seinen kulturellen Reichtum der freien Konkurrenz, nämlich u.a. der vielgeschmähten Kleinstaaterei, da die einzelnen Landesfürsten auch zu Reputationszwecken miteinander wetteiferten. Der Staat ist nicht in der Regel die bessere Instanz. Wir brauchen ihn vor allem für den Rechtsrahmen – aber für viele andere Bereiche nicht.
Viele sprechen schon von «Vereinigten Staaten von Europa» nach amerikanischem Muster.
Das wäre sicherlich das falsche Vorbild für eine Bürgerrepublik Europa. Die Staaten der USA wurden ja durch eine einheitliche Sprache, ein einheitliches Rechtssystem und einen gemeinsamen Feind, das übergriffige Heimatland, zusammengebracht. Das gilt für Europa nicht. Europa kann hier viel mehr von der Schweiz lernen. Mit ihrer Mehrsprachigkeit und der gegenseitigen kulturellen Befruchtung, aber auch mit dem Nebeneinanderherleben und dem Geltenlassen kann die Schweiz durchaus ein Vorbild für Europa sein. Meine Idee der Bürgerrepublik, in der die Europäer die europäische Sache als die Ihre begreifen, bedeutet ja, dass dieser Prozess von unten kommen muss. Europa darf kein Top-down-Projekt bleiben. Den Bürgern muss vielmehr die Möglichkeit gelassen werden, gemeinsame Interessen zu erkunden und zu festigen.