Europa ja, aber als Föderation
Kommunale Selbstverwaltung und Föderalismus sind Dämme gegen den Kollektivismus.
Bernhard Ruetz kommentiert «Europäische Bilanz des Kollektivismus» von Wilhelm Röpke.
Was würde Wilhelm Röpke von der Europäischen Union halten? Wäre sie in seinen Augen das grosse Friedensprojekt, die Überwindung nationalstaatlicher Rivalität und das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Kultur? Oder würde er die «Eurokratie» anprangern und den Zentralismus kritisieren? Mit grosser Wahrscheinlichkeit letzteres. Röpke ist ein unbequemer Denker mit begriffsscharfer und feuriger Sprache, ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Freiheit. In seinen Werken bekennt er sich als Europäer: Europa habe eine gemeinsame Kultur und sei die Wiege der westlichen Welt, im Guten wie im Schlechten. Eine europäische Freihandelszone könne den nationalstaatlichen Protektionismus überwinden – über diesen Status würde er wohl bis heute kaum entscheidend hinausgehen. Der springende Punkt ist für ihn: «Es bleibt der Hang, vor jedem auftauchenden Problem in die behördliche Regelung zu flüchten – in Europa in der besonders absurden Form, für ein auf nationaler Stufe sich als unlösbar erweisendes Problem die Lösung auf internationaler Stufe von supranationalen Behörden zu erwarten.»
Röpke ist ein konservativer Liberaler mit Augenmass für das Menschliche. Sein ganzes Streben geht dahin, den Kollektivismus als freiheitsgefährdenden Prozess zu entlarven. Dabei richtet er sich nicht nur gegen dessen totalitäre Ausformung, sondern auch gegen moderate Spielarten von Sozialisten, Populisten und Technokraten. Ihre Argumente für mehr Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und Effizienz klingen oft verlockend. Aber, so ist Röpke überzeugt, sie schränken die persönliche Freiheit im Namen des Kollektivs ein, bedrängen die Lebenskreise von Familien und Kleingruppen und machen die Gesellschaft ärmer. Werte und Moral, so sein Credo, entstehen in diesen kleinen Einheiten, bevor sie sich im Grossen entfalten können. Daher zielen Kollektivisten stets auf die Beseitigung solcher Lebenskreise. Den totalen Kollektivismus hat Röpke selbst erlebt und dagegen aufbegehrt. Er verlor unter den Nationalsozialisten seine Professur in Marburg und musste emigrieren. Zunächst ging er mit seiner Familie nach Istanbul, dann nach Genf, wo er fortan lehrte und wirkte. 1942 publizierte er sein Hauptwerk «Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart». Es wurde umgehend von Heinrich Himmler auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. In der föderalistischen und weltverbundenen Schweiz fand Röpke seine geistige Heimat und sein Lebensideal. Mit der Schweiz vor Augen wollte er positiv auf die Entwicklung Europas einwirken.
Röpke ist ein Skeptiker der Macht und deshalb ein Föderalist. Macht braucht Gegenmacht, sonst wird sie missbraucht, lautet seine Überzeugung. Kommunale Selbstverwaltung und Föderalismus sind Dämme gegen den Kollektivismus. Es sei kein Fortschritt, den Wirtschaftsnationalismus auf die europäische Ebene zu heben: «Ja, er ist weit schlimmer, weil sich im Falle der Ausdehnung über den ganzen Kontinent diese Tendenzen weit ungehemmter auswirken können.» Eine zentrale, hochgradige Subventionierung der Landwirtschaft ist für Röpke ein abschreckendes Szenario. Ebenso wäre er heute wohl einer der härtesten Kritiker der Zentralbanken mit ihren weit geöffneten Geldschleusen und der Tiefzinspolitik. Solche massiven Eingriffe widersprechen allem, was er über das Wesen der Marktwirtschaft geschrieben hat. Europa ja, aber als Föderation, lautet seine Devise. Als Sohn eines Landarztes war er in einer dörflichen und überschaubaren Lebenswelt aufgewachsen, mit selbständigen Bauern, Handwerkern und Kaufleuten. Marktwirtschaft ist für ihn kein Selbstzweck, sondern die Folge einer politisch föderalen, auf Vertrauen und Verantwortung basierenden Gesellschaft. Wenn der geistig-moralische Wurzelboden fehlt, kann eine Gesellschaft zwar kapitalistisch organisiert sein, doch sie ist unfrei und den kollektivistischen Kräften offen ausgesetzt. Die drei Begriffe Markt, Moral und Föderalismus sind für Röpke eng miteinander verflochten und Voraussetzung für ein Europa als Einheit in der Vielheit.