(1) Europa global
Wer die Rolle Europas in der heutigen Welt diskutiert, muss sich fragen, wie Europa es mit der Globalisierung hält – oder besser: in welchem Verhältnis die Europa- und Globalisierungsdiskurse stehen und was wir lernen können, wenn wir beide vergleichen.
«Unter jenen, die über Europas Zukunftsvision schreiben und sich darüber auslassen, wie der alte Kontinent klammheimlich den amerikanischen Traum verblassen lässt, scheint niemand etwas von Demographie zu verstehen», schrieb kürzlich der amerikanische Historiker Walter Laqueur in seiner essayistischen Einschätzung Europas im 21. Jahrhundert.* Mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung schildert er Europa eher als Problem, denn als Wertegemeinschaft. Die präsentierten Zahlen sind eindrücklich. Nach den offiziellen Daten der UNO lebten um 1900 21 Prozent der Weltbevölkerung in Europa, 2050 seien es noch 7 Prozent, weitere 50 Jahre später schliesslich 4 Prozent. Die nationalen Einzelszenarien (wie etwa erwartete 32 Millionen Deutsche oder 15 Millionen Italiener am Ende dieses Jahrhunderts) sind noch plastischer – von den Folgeproblemen der Überalterung und der möglichen massiven Immigration ganz zu schweigen. «Ist es denkbar», fragt Laqueur, «dass ein Erdteil mit geringen, schrumpfenden und obendrein überalterten menschlichen Ressourcen das 21. Jahrhundert dominieren werde?» Europas Rolle in der Welt als eine der Dominanz? Eigentlich hatte sich die Welt doch gerade von der wirtschaftlichen und politischen Dominanz Europas entwöhnt und war dabei, auch die kulturellen Überbleibsel abzuschütteln.
So oder so – wenn wir nach Europas Rolle in der Welt fragen und gleichzeitig Europa als Idee nehmen und nicht allein als Gefüge von staatsrechtlichen Formationen, dann stellt sich die Frage des Verhältnisses, in dem es dabei zu einer anderen prominenten Idee der letzten Jahre stehe, nämlich jener der Globalisierung. Dabei geht es nicht um Europas Anteil am Welthandel, seine Militärmacht oder seine demographische Fitness, um die Laqueur sich sorgt und deren Ausblendung er den amerikanischen Europaliebhabern vorwirft. Auch reduziert sich diese Frage nicht auf Europas Verhältnis zu Amerika. Es geht vielmehr darum, in welchem Verhältnis die Europa- und Globalisierungsdiskurse zueinander stehen und was wir lernen können, wenn wir sie näher betrachten.
Zunächst einmal können wir nach der geographischen Griffigkeit der beiden Termini fragen. In Sachen Globalisierung ist dies eindeutig. Sie betrifft im Prinzip die Welt, Punktum. Anders steht es mit «Europa». Notorisch unterdefiniert, ist die Frage der geographischen Grenzen ein Topos fast eines jeden Europa-Essays, obwohl «Europa» überhaupt zuerst als geographische Bezeichnung für einen Teil Griechenlands in die Welt kam. In der Gegenwart ist die geographische Definition aber keine einfache Sache. Während die Globalisierung also geographisch per se determiniert ist, bleibt «Europa» eine definitorische Aufgabe, deren Lösung sich nicht von selbst versteht.
Die Unschärfe des Europa-Begriffs geht über die geographische Dimension hinaus. In der politischen Rede etwa meint «Europa» immer sehr viel mehr als nur einen Erdteil. Er steht für eine politische Manifestation, deren Gestalt unklar ist, und nicht zuletzt dies macht ihn für den politischen Diskurs so geeignet. Helmut Kohl zum Beispiel wusste unübertrefflich auf der Klaviatur der Europabegrifflichkeit zu spielen. Auch Tony Blair versteht dieses Geschäft – vor allem vor einem kontinentalen Publikum. Über Europa reden zu dürfen, so scheint es, ist ein Geschenk, und je höher die Abstraktionsebene und je feierlicher der Rahmen, um so besser.
Wie anders der Globalisierungsbegriff. Auch ihm wird allenthalben vorgeworfen, er sei undefinierbar und letztlich eine Worthülse. Aber er eignet sich nicht für die bejahende, offensive politische Rede. Kaum jemand spricht in der politischen Arena von der Vision der Globalisierung. Allenfalls fordert man dazu auf, die Chancen der Globalisierung zu nutzen – aber auch dies empfiehlt sich nur unter Vorbehalt. Denn Chancen können erstens ziemlich klein sein und damit zweitens durchaus auch verpasst werden. Dazu passt, dass die Rede von den Herausforderungen der Globalisierung und die sich daran anschliessende Gewinner-Verlierer-Unterscheidung insgesamt gebräuchlicher zu sein scheinen (wobei die Verlierer zumeist einen grösseren Teil des Wahlvolks ausmachen als die chancenreichen Gewinner).
Doch Europa und Globalisierung gibt es nicht nur auf einer abstrakten, übergreifenden Ebene. Den Begriffen stehen konkrete Erfahrungen und Beobachtungen gegenüber. Institutionell zum Beispiel hat Europa den eindeutigeren Ort. «Europa» steht hier für die Europäische Union und ihre Institutionen. Überhaupt lässt sich Europa im Vergleich zur Globalisierung einfacher als politische Aufgabe begreifen. Diese kann zum Beispiel darin bestehen, aktuelle Probleme der Union zu lösen. Darüber hinaus kann Europa als übergreifende politische Mission verstanden werden – dies spielt wiederum der Eignung des Begriffs für die politische Rede in die Hände.
Welche Mission Europa verwirklichen soll, hängt dann natürlich auch davon ab, welche Geschichte von Europa erzählt wird. Die Geschichte Europas kann etwa heissen: die Geschichte der antiken Philosophie und der christlichen und jüdischen Kultur. Oder daran anschliessend die Geschichte der Renaissance, des Humanismus und der Aufklärung. Aber auch die Geschichte der zerstörerischen politischen Utopien. Europa weiterhin als Ursprung der barbarischsten Kriege, die jemals geführt wurden und nach deren Ende es in der bipolaren Welt als wichtigste Frontlinie bereitstand. Mit dieser Phase europäischer Marginalisierung zwischen den Fronten verwoben war die «Idee Europa» nach dem Zweiten Weltkrieg und ihr Ziel des dauerhaften Friedens zwischen den europäischen Völkern, spezifischer die Einbindung des alten Problemfalls Deutschland in das westliche Staatensystem.
Wenige würden die Befriedung Europas heute noch als vorrangige politische Aufgabe verstehen. Und das an diese Befriedung anschliessende und, wie manche meinen, dafür auch konstitutive Ziel der wirtschaftlichen Integration trägt ebenfalls wenig zur politischen Faszination bei. Vielmehr erleben wir nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaftspolitik immer wieder, wie dünn der europäische Mantel ist, der über den nationalen Interessen liegt. Vor kurzem wurde die europäische Dienstleistungsrichtlinie noch einmal gerupft, mit dem für viele Franzosen anscheinend beruhigenden Ergebnis, dass dem polnischen Klempner das französische Badezimmer etwas weniger weit offensteht.
Dass nur wenig von «Europäisierung» gesprochen wird, mag seinen Grund in den negativen Konnotationen des Prozessbegriffs «Globalisierung» haben. Eine der Frontlinien, an denen in der internen politischen Auseinandersetzung heute um die Festlegung des Europagedankens gekämpft wird, verläuft zwischen denen, die in Europa nicht nur eine Wirtschafts- sondern auch eine Wertegemeinschaft sehen wollen, und jenen, denen das Gegenteil vorgeworfen wird. Die einen sehen die Dynamik der europäischen Entwicklung in einer Konvergenz zwischen Europäisierung und Globalisierung, die anderen betrachten Europa gerade als Gegenentwurf zu einer schrankenlosen Welt. Warum etwa sollte es sonst sinnvoll sein, überhaupt von einem spezifischen, politisch, ideell und kulturell durchwirkten Gebilde Europa zu sprechen, wenn das Endziel eine (so wird befürchtet) entgrenzte Welt ist, in der die «soziopathologischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung» (Jürgen Habermas) politisch nicht mehr gestaltet werden können? Denn dies ist eines der Leitmotive der Globalisierungsrede: die Globalisierung sei eine Schicksalsmacht, weder von Ochs noch Esel aufzuhalten, und genausogut wie gegen die Globalisierung könne man gegen die Schwerkraft sein. Relativ problemlos wird denn auch von einer «Logik der Globalisierung» (Carl Christian von Weizsäcker) gesprochen – eine «Logik Europas» dagegen ist kaum in Sicht. Vielmehr erscheint Europa in seiner Geschichte, seinen Institutionen, seinen Grenzen und seinem Ziel immer wieder als fragmentarisches, stets nur halbfertiges Gebilde, die Globalisierung dagegen als ein ruhig und unerbittlich sich entwickelnder Prozess.
Dabei haben die Projekte «Europa» und «Globalisierung» ein ähnliches Problem. Beiden gehen jene Formen der politischen Repräsentation und Legitimation ab, die für unsere Gemeinwesen noch immer die Regel darstellen. Die WTO – jene Institution also, die neben dem Treffen der G8-Staaten noch am ehesten institutionell und in übergreifender Weise mit der Globalisierung verbunden wird – gibt ein kulturell amorphes, historisch und politisch indifferentes Bild ab. Sie taugt nicht zur Identifikation. Nur in den Augen weniger vertritt sie als Organisation übergreifende Interessen. Und sie kann sich, wie gesagt, dabei nicht der gängigen Formen der politischen Repräsentation bedienen. Ein ähnliches Problem haben die Institutionen der EU. Im Zuge des Scheiterns des Verfassungsentwurfs wurden die üblichen Vorwürfe gegen das Europa der EU hervorgeholt und aufpoliert. Wahrscheinlich ist der gesellschaftliche Referenzrahmen der Alltagserfahrungen trotz Europa-Parlament, Euro-News und Erasmus-Programm für die meisten Bürger noch national definiert. Immerhin besteht die Möglichkeit, europäische «Identitätspotentiale» aufzubauen und zu pflegen. Vielleicht spielt die Globalisierung europäischer Identität sogar in die Hände. Je mehr ich mich global umtreibe, desto stärker werde ich mir meines europäisch geprägten Bezugsrahmens bewusst. Ich bezeichne und empfinde mich in China als Europäer – wohingegen die Bedeutung meines Europäertums im niederländischen Friesland oder in Norditalien relativ gering ist.
Immerhin: Europa hat jenseits des (wie weit noch verbreiteten und wie tief noch sitzenden?) Erbes der abendländischen Kultur unmittelbare politische Relevanz. Die Globalisierung tritt in die Erfahrungswelt der Europäer vor allem in Gestalt ausländischer Konkurrenz bzw. der Reflexion dieser Konkurrenz im politischen und wirtschaftlichen Diskurs sowie in den Medien. Globalisierung in unseren Breiten ist ein Angstwort – ungestaltbar, unverständlich, von amerikanischem Geist, mit asiatischem Antlitz. Während Europa als Globalisierungsbremse angerufen werden kann, ist heute die europäische Wirklichkeit selbst von Elementen geprägt, die sich problemlos in den Globalisierungsdiskurs einreihen lassen.
Auch wenn Europas Rolle für die Formung zukünftiger Lebensformen und Kulturerscheinungen in Frage steht – die Moderne, wie wir sie heute wahrnehmen, ist ein Kind Europas. Es ist eine Tatsache, dass wesentliche Elemente der politischen und wirtschaftlichen Dynamik der Globalisierung in Europa ihren Ursprung hatten. Aus all dem könnte man nun schliessen, dass Europa von dieser selbstinduzierten Moderne, die heute als Globalisierung daherkommt, überholt werde – und zur Selbstbehauptung dringend der Inspiration bedürfe. Umgekehrt macht die Tatsache, dass es Europa gelungen ist, vor dem Hintergrund eines schweren historischen Erbes supranationale Institutionen zu etablieren, die multivariate Problem- und Interessenlagen mit wachsendem Erfolg in zivilisierte, friedliche und bei allen Mängeln doch demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse übersetzen, dieses zu einem Vorbild in der Welt und seinerseits zu einer Quelle der Inspiration.
Das geteilte und wachsende europäische Verständnis für diese Erfolge sollten wir pflegen und in den Globalisierungsdiskurs einbringen. Denn die mit dem Begriff «Globalisierung» bezeichneten Phänomene und Prozesse sind ihrerseits keineswegs geschichtsphilosophisch abgesichert, sondern ebenfalls kontingent. Dass wir dafür vulgärlibertäre Vorstellungen ebenso wie nationalistisch und sozialistisch inspirierte Überzeichnungen des Globalisierungsphänomens und der sich ergebenden politischen Gestaltungsaufgaben begraben sollten, daran erinnert uns Kurt Tucholskys Gedicht «Europa» aus dem Jahre 1932. Es stammt mithin aus jener Zeit, die der Historiker Harold James unter dem Titel «The End of Globalization» beschreibt.
«Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein –
der darf aber nicht nach England hinein –
Buy British!
In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen,
die haben in Schweden nichts zu suchen –
Köp svenska varor!
In Italien verfaulen die Apfelsinen –
Lasst die deutsche Landwirtschaft verdienen!
Deutsche, kauft deutsche Zitronen!
Und auf jedem Quadratkilometer Raum
träumt einer seinen völkischen Traum.
Und leise flüstert der Wind durch die Bäume…
Räume sind Schäume.
Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
Die Nationen schuften auf Rekord:
Export! Export!
Die andern! Die anderen sollen kaufen!
Die andern sollen die Weine saufen!
Die andern sollen die Schiffe heuern!
Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
Wir?
Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:
Wir lassen nicht das geringste herein.
Wir nicht. Wir haben ein Ideal:
Wir hungern. Aber streng national.
Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
Europa? Europa soll doch verrecken!
Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
Dass nur die Nation erhalten bleibt!
Menschen braucht es nicht mehr zu geben.
England! Polen! Italien muss leben!
Der Staat frisst uns auf. Ein Gespenst. Ein Begriff.
Der Staat, das ist ein Ding mitm Piff.
Das Ding ragt auf bis zu den Sternen –
Von dem kann noch die Kirche was lernen.
Jeder soll kaufen. Niemand kann kaufen.
Es rauchen die völkischen Scheiterhaufen.
Es lodern die völkischen Opferfeuer:
Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.
Die Nation ist das achte Sakrament –!
Gott segne diesen Kontinent.»