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Europa

«Wir brauchen einen neuen Aufbruch in Europa.» – Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Karlspreis-Laudatio auf den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron am 10. Mai 2018

Wer eine Lesebrille braucht, dem verschwimmen ohne sie die ­Buchstaben zur homogenen Suppe. Es gibt auch Begriffe, die so ­verschwommen sind, dass alles eins erscheint – und dieser Effekt ist mitunter beabsichtigt. Im Begriff «Europa» zum Beispiel geht vieles auf und verschwimmt. «Was haben wir denn bitte damit zu tun?», mögen sich deshalb die Schweizer fragen, wenn Angela Merkel in ihrer Aachener Rede von einem «neuen Aufbruch in Europa» spricht. Unvergessen ist auch der Satz «Scheitert der Euro, scheitert Europa» von 2010. Die Unschärfe hat Methode.

Wer an Europa denkt, der kommt an der gleichnamigen phönizischen Königstochter nicht vorbei. Nach der griechischen Mythologie hat Zeus, der oberste olympische Gott, sie nach Kreta entführt. Sprachwissenschafter mutmassen, dass in ihrem Namen schon das «Abendland» anklingt, denn das phönizische Wort «erob» steht für Dunkelheit und Abend. Als geographischer Begriff einst auf den Peloponnes beschränkt, dehnte ihn Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus im heutigen Sinne aus. Die geographische Grenz­ziehung ist umstritten und noch mehr die kulturelle und politische. Es gibt eine Vielzahl wichtiger europäischer Institutionen, die ­gemeint sein können, wenn lose von «Europa» die Rede ist, angefangen mit dem 1949 gegründeten Europarat, dem heute 47 Staaten ange­hören, einschliesslich der Schweiz. In den fünfziger Jahren entstand die Freihandelszone EFTA, wo die Schweiz ebenfalls mit von der Partie ist. Im Jahr 1993 wurde dann aus ihren Vorläufern die ­Europäische Union gegründet, die derzeit 28 Mitgliedstaaten zählt; für einen Teil davon folgte 1999 die Europäische Währungsunion. Hier haben es die Schweizer vorgezogen, abseits zu stehen.

Europa ist ein in seiner institutionellen Struktur komplexes, vielschichtiges, widersprüchliches und heterogenes Konvolut. ­Trotzdem hängen alle Teile zusammen, gerade wenn es um das Verhältnis zum Rest der Welt geht. In der gegenwärtigen Situation geopolitischer Bedrängnis von allen Seiten und der wegbrechenden Pax Americana dürfte die alles vereinende Verbaltaktik Merkels, Macrons und ­anderer durchaus sinnvoll sein: Europa muss zusammenhalten, um die gemeinsamen Interessen vertreten zu können – nicht nur die Eurozone und die EU, sondern die ganze Region.


Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».

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