Es wird auch in Zukunft noch
Nationen geben – gut so!
Die Nation sei ein Auslaufmodell, heisst es gern. Das ist falsch. Sie ist stabil und bleibt die beste Form, um den politischen Herausforderungen von heute zu begegnen – auch dem Nationalismus.
Den Untergang der Nation zu beschwören, liegt bei Wissenschaftern und Politikern im Trend – schon seit den 1980er Jahren. Zu den gängigen Thesen und Forderungen gehören Sätze wie:
- Nationen haben heute keine Bedeutung mehr!
- Nationalstaaten sind widersprüchlich und gefährlich.
- Nationalstaaten sind zu klein.
- Souveränität ist ein nutzloses und kaum umsetzbares Konzept.
- Souveränismus (oder: nationale Sezession) ist egoistisch!
- Nationalbewusstsein heisst mentaler Rückzug (oder: Einigelung).
- Nationalismus ist Krieg.
- Jeder Nationalismus trägt Rassismus in sich!
- Der Niedergang des modernen Westens ist auf Nationalismus zurückzuführen.
- Nationalismus ist die Tragödie der modernen Welt.
- Empires hatten grosse Vorteile.
- Ein Staat sollte sich nicht aktiv am Aufbau einer (kulturellen und politischen) Nation beteiligen.
- Grenzen sind unnötige Hindernisse.
- Die Wiederbesinnung auf die Nation ist rückwärtsgewandt!
- Sprachenvielfalt ist ein Reichtum (provided you tell it in English, of course).
- Die Europäische Union wird das Gegenteil einer europäischen Nation sein.
- Wir müssen daran arbeiten, den Nationalstaat zu überwinden.
Ihre grosse Suggestionskraft ist diesen Thesen nicht abzusprechen, und selbst das Fehlen belastbarer Argumente hat kaum Einfluss auf ihren Erfolg. Tatsächlich aber ist die Nation im Jahr 2019 keineswegs im Verschwinden begriffen. Aber: Was ist das überhaupt, eine Nation?
Die Nation: Entwicklung einer Idee
Die Nation ist eine von nur vier historischen politischen Organisationsformen: der Stamm, die Stadt, das Reich und eben – die Nation. Der Stamm ist die Urform jeder menschlichen Gesellschaft. Durch Arbeitsteilung wurden einige Stämme irgendwann zu Städten. Einige Städte annektierten dann andere Städte, um Reiche zu bilden (in dieser Hinsicht gehören grosse Imperien und kleine Königreiche in die gleiche Kategorie). Die Nation als moderne politische Einheit, die auf Prinzipien von Gleichheit und Freiheit beruht, geht auf die Revolutionen in Frankreich und in den USA zurück. Aus dieser Zeit stammt unsere politische Grammatik. Die Nation ist also die klar jüngste der vier politischen Organisationsformen, und sie besteht aus mindestens drei Elementen:
- einem kulturellen Objekt: Es gibt nationale Kulturen, und die Geschichte einer jeden Nation enthält kulturelle Aspekte.
- einem politischen Subjekt, bestenfalls demokratisch, sonst eben autoritär.
- einer gesellschaftlichen Verantwortung (im Sinne eines commitments), bestehend aus Schulbildung und einer nationalen Form von Schutz.
Falsch ist dagegen die landläufige Vorstellung, die Nation beruhe im Kern auf Identität. Das Interessante an der Nation als politischer Form besteht vielmehr darin, dass sie auf Zugehörigkeit baut, d.h. auf eine relativ offene, objektbezogene Bindung. Im Gegensatz dazu ist Identität betont subjektbezogen: Sie ergibt sich aus biologischen und sozialen Markern.
«Es ist paradox: Das vielgepriesene Zusammenwachsen der Welt
hat ‹zwei Planeten› geschaffen.»
Wenn die Franzosen, die Schweizer oder die Taiwanesen aufhören, sich wie Franzosen, Schweizer, Taiwanesen zu fühlen, verschwinden ihre Nationen. Unwahrscheinlich, dass andere Länder versuchen würden, sie zum Weiterbestehen zu zwingen. Eine Identität dagegen verliert ihre Marker nicht, wenn Zugehörigkeiten verschwinden oder sich entwickeln. Hautfarben, Bevölkerungstypen, soziales Verhalten, städtische oder ländliche Lebensräume, Geschlecht, Familien- und Geschlechterbeziehungen: all dies bleibt unberührt. Sicher, Identität und Zugehörigkeit berühren und beeinflussen sich, sie sind aber doch sehr unterschiedliche Dinge, die man auseinanderhalten sollte. Wenn die Nation eine tägliche Volksabstimmung ist, wie es Ernest Renan formulierte, dann deshalb, weil sie fragil ist und ihre Stärke aus der Fragilität des Zugehörigkeitsempfindens bezieht.
Nationen in einer globalisierten Welt
Wie entwickelt sich also die Nation in einer internationalen Welt weiter? Ist sie angesichts globaler Herausforderungen und Spielregeln tatsächlich obsolet geworden? – Keinesfalls. Die gute Seite der Begrenztheit der Erde ist, dass sie die Hauptakteure voneinander abhängig macht und so Anreize zur Zusammenarbeit schafft. Im Durchschnitt sind Nationen deshalb heute weniger aggressiv als in der Vergangenheit. Um diese Zusammenarbeit zu festigen, wäre es besser, die Demokratisierung der politischen Systeme weiter voranzutreiben, da demokratische Nationen untereinander so gut wie keine Kriege führen. Diese Zusammenarbeit ist umso dringlicher, da der Wettbewerb zwischen Staaten nicht verschwinden wird.
Die Notwendigkeit zu kooperieren vorausgesetzt, ist die grundlegende Entscheidung, vor der Nationen heute stehen, nicht (wie oft behauptet) jene zwischen Öffnung und Schliessung. Wer Grenzen aufhebt, verhindert jede Schliessungsmöglichkeit dauerhaft. Die Verwirrung entsteht aus einer falschen Gleichsetzung von «Die Grenzen sind durchlässig» und «Es gibt keine Grenzen mehr». Aber Grenzen können ganz geschlossen, eher geschlossen, vorsichtig geöffnet, weit offen oder aufgehoben sein. «Abgeschafft» und «offen» sind nicht kumulierbar: wie öffnen, was nicht mehr existiert? Die Vision einer grenzenlosen Welt ist folglich extrem antipolitisch, aber geschickte Rhetorik und viel Ideologie lassen sie als aufregendes Projekt erscheinen, als Utopie mit Zugkraft. Abgeschafft erscheinen Grenzen aktuell aber nur wenigen Gewinnern der Globalisierung. Deren Maximierung von Kapital ist frappierend, die Verhundertfachung von Fussballergehältern und der Preise prestigeträchtiger Weine in den letzten drei Jahrzehnten spricht Bände: «Die leben auf einem anderen Planeten», heisst es dann achselzuckend. Ja, es ist paradox: Das vielgepriesene Zusammenwachsen der Welt hat «zwei Planeten» geschaffen.
In diesem Kontext wird der Nationalstaat aus diametral gegensätzlichen Motiven gleich doppelt verurteilt. Einerseits verströmt er für ein entwurzeltes Weltbürgertum, dessen Ehrgeiz die Aufhebung jeglicher Grenzen ist, zu viel «Identitätsgeruch». Aus Sicht eines Multikulturalismus, dessen Ziel es ist, dass sich jede Minderheitenidentität entfalten kann, ist er wiederum zu «gleichmacherisch». Für beide Fraktionen ist die Nation letztlich ein Hindernis. In dieses Kreuzfeuer genommen, behauptet sich die moderne Nation weniger als Identitätsträger als im Sinne einer Mitgliedschaft, die es erlaubt, sich an kollektiven Entscheidungen zu beteiligen – vorausgesetzt, das Regime ist demokratisch.
Globalisierter Handel führt nicht zu globalisierter Mobilität
Die Globalisierung ist heterogener, asynchroner und widersprüchlicher, als es scheint. Reichlich unscharfes Datenmaterial vermag eine weltweite Homogenisierung allenfalls im Vergleich mit einem Karikaturbild der Vergangenheit nachzuweisen, in der sich alles um Schliessung, Verortung und Souveränität gedreht hätte. Die Eroberungen Alexanders des Grossen oder die Seidenstrasse schufen keine vernetzte Welt im heutigen Sinne. Eine eigentliche Globalisierung setzte mit der Entdeckung Amerikas allmählich ein.
Die These, die Nation werde mit der Globalisierung des Handels demnächst verschwinden, ist wenig belastbar. Es gibt keinen wirklich «gemeinsamen» globalen Markt, der alle Kapital-, Waren-, Arbeits- und vor allem Bevölkerungsströme laufend anpassen würde. Kapital, Informationen, Güter und Menschen bewegen sich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit – die einen innert Sekunden, die anderen über Generationen. In einem «echten» globalen Markt müssten junge Menschen, Berufstätige und Rentner beispielsweise ihre Kaufkraft optimieren, indem sie von Jahr zu Jahr oder zumindest von Jahrzehnt zu Jahrzehnt von einem Land (oder Kontinent) zum anderen wechseln. Der Unterschied zwischen Gesellschaften, Sprachen, Kulturen und sozialen Systemen macht eine solche Anpassung unmöglich, selbst wenn man sie als wünschenswert betrachtete. Selbst wenn sich innerhalb einer Generation eine Weltsprache herausbilden würde, könnte das die negativen Begleiteffekte nicht ausgleichen oder gar Anreize für solche «Bevölkerungsanpassungen» schaffen.
Die Vereinigten Staaten z.B. sind ein Binnenmarkt: Man zögert dort nicht, von Ost nach West, von Nord nach Süd und von Küste zu Küste zu wechseln, um einen Job zu finden. Dieses Modell lässt sich aber nicht auf die globale Ebene übertragen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Einheitswelt kommen wird, ist fast gleich null. Denn unterschiedliche Gesellschaften existieren weiter, haben eine Tiefe und Widerstandskraft, und sie definieren eine nationale Vielfalt, die eine andere ist als die vom «Multikulturalismus» gepredigte.
«Identität ist subjektbezogen, die Nation baut dagegen auf Zugehörigkeit – also auf eine relativ offene, objektbezogene Bindung.»
Wir leben also in einem merkantilistischen System, das von einer Handvoll Grosskonzernen und wenigen qua Grösse, Handel und Wohlstand mächtigen Nationalstaaten dominiert wird. Dass sich jeder nationale Markt an globale Gegebenheiten anpassen muss, bedeutet denn auch nicht, dass Staaten nicht länger Akteure oder dass nationale Gesellschaften als politischer und kultureller Rahmen veraltet wären. Tatsächlich werden Nationen nicht nur nicht schwächer, sondern fast überall auf der Welt stärker. Die in Europa vorherrschende optische Täuschung vom unvermeidlichen Verschwinden der Nationen ist eine Folge des Traumas der europäischen Kriege. Die Realität im weltweiten Massstab ist international, global und transnational – nicht supranational. Über Handel und kulturellen Austausch internationalisiert sich diese Welt, postnational ist sie deshalb aber ganz und gar nicht.
Dass der Planet Erde ein begrenztes System mit begrenzten Energieressourcen ist, sorgt nicht nur irgendwann für einen Stopp in der Entwicklung der Globalisierung, sondern vielleicht sogar für eine Umkehr. Die Relokalisierung von Wertschöpfung könnte von einer politischen Option zur ökologischen Notwendigkeit werden. Umwelt- und Klimaherausforderungen sind Stacheln im Fleisch der Global-Village-Ideologie. Sicher: Diese Probleme erfordern internationale Zusammenarbeit, und die einzelne Nation ist nicht die geeignete Ebene, sie zu lösen. Ebenso zeigen sie aber, dass die beschleunigte Globalisierung von Wirtschaft, Transport und Verkehr sowohl Luxus als auch Gefahr ist.
Die Globalisierung: weniger gefestigt, als es scheint
Die Globalisierung ist in den meisten Punkten weniger gefestigt, als es den Anschein hat, und dies entkräftet das Urteil, Nationen seien sinnlos. Staaten sind bis heute die effektivsten politischen Entitäten, ob es um Regulierung oder Deregulierung geht, um langfristige Planung oder darum, schnell zu reagieren – die Finanzkrise von 2008 hat das klar vor Augen geführt. Auf der anderen Seite ist es richtig, dass die Beschleunigung der Migrationsströme, Auswanderung und Mehrfachnationalitäten die Integrationskraft des Nationalstaats schwächen. Im Guten wie im Schlechten wird politische Zugehörigkeit künftig nicht mehr allein auf patriotischen Gefühlen beruhen. Die Nation wird dann nicht mehr dieselbe sein – ganz sicher nicht die europäische um 1900 und auch kaum noch die der 1950er Jahre –, aber sie wird sich eben weiterentwickeln, nicht sterben. Oder um es einfacher zu sagen: Die Globalisierung erfordert internationale Zusammenarbeit, aber diese ist weder «postnational» noch «poststaatlich».
Erstarken des Nationalen?
Eher im Gegenteil: Ein Erstarken des Nationalen ist mindestens ebenso plausibel wie sein Niedergang. Einige Beispiele: Das Sowjetregime hatte die alte Ordnung sehr effektiv zerstört – mit einigen Ausnahmen: Nicht nur gelang es nicht, nationale Zugehörigkeitsgefühle und Identitäten zu unterdrücken; die Unterwerfung und Folklorisierung der Nationen in der UdSSR konnte ihre anschliessende Wiederauferstehung nicht verhindern. Nationen verschwinden? Eher nicht. Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington machten die Vereinigten Staaten zu einer Nation in Gefahr und dann zu einer im Krieg. 2005 lehnten zwei EU-Gründungsstaaten, Frankreich und die Niederlande, den europäischen Verfassungsvertrag in Referenden klar ab – eine Reaktion auf diese Warnungen blieb aus. Dieser Riss in der europäischen Konstruktion kann als Vorbote des Brexit-Votums von 2016 gelesen werden.
Auch autoritäre Regimes beziehen sich mehr denn je auf die Nation. In China machte Xi Jinping 2012 klar, dass der nationale Traum für ihn sogar wichtiger sei als der Kommunismus. Putins ethnokultureller und imperialistischer Nationalismus ist in seinen Bezügen auf die Sowjetunion und das russische Nationalgefühl gleich doppelt nostalgisch. Nationalismen führen zu Kämpfen, in denen sich Gross und Klein gegenüberstehen: Volksrepublik China gegen Taiwan, Putin-Russland gegen die Ukraine, Erdogans Türkei gegen die Kurden und so weiter.
Nation und Nationalismus
Ein wichtiger Grund für die Hausse von Behauptungen, Nationen würden oder sollten verschwinden, ist diese Angst vor den in den letzten Jahren vielerorts erstarkten nationalistischen Parteien und Bewegungen. Was also ist Nationalismus und was hat er tatsächlich mit der Nation zu tun?
Nationalismus ist der Wille, die bereits bestehende Überschneidung politischer und kultureller Elemente in einem Staatswesen zu vergrössern. Er braucht dazu ein Territorium und eine nationale Erzählung – ein Staat ist dazu nicht zwingend nötig, aber sehr nützlich. Der Nationalismus ist dabei kein Selbstzweck, sondern ein Vehikel. Sozialismus, Kapitalismus, Religionen können Selbstzwecke sein, Nationalismus dagegen transportiert immer auch eine andere Ideologie (und wird von dieser transportiert). Deshalb sind die Arten des Nationalismus so unterschiedlich: von links bis rechts, reaktionär oder progressiv, säkular oder religiös, friedlich oder kriegerisch. Drei Charaktere machen den Nationalismus aggressiv:
- das Fehlen einer demokratischen Ordnung.
- der Wille zur Macht (in den internationalen Beziehungen, aber auch in der Kontrolle der nationalen Bevölkerung).
- ein Gefühl der kulturellen oder ethnischen Überlegenheit.
Der Nationalismus unserer Tage ist nicht nur eine Reaktion auf die Auswirkungen der Globalisierung. Die Folgen der Ereignisse, die diesen Eindruck erwecken mögen – der Brexit, Trump, die italienischen Wahlen von 2018, die Gilets jaunes –, sind noch nicht klar zu erkennen. Aber es gibt genügend Hinweise auf andere divergierende Entwicklungen der Nationen im Zuge der Globalisierung und der Deindustrialisierung der ehemaligen Industriemächte.
Erstens: Betrachtet man die wichtigsten geopolitischen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg, ist die These vom irreversiblen und unwiderstehlichen Charakter der Globalisierung nicht mehr so evident, wie es zunächst scheinen mag: Die Realität des Globalen hat vor allem technischen Charakter; politisch bleibt sie ambivalent und vielgestaltig. Das Internet zum Beispiel ermöglicht die globale Vernetzung von Wissenschaftern genauso wie die Bildung propagandistischer und sektiererischer Netzwerke bis hin zum Terrorismus. Die unmittelbare Verfügbarkeit von Informationen und Bildern aus der ganzen Welt, auch über ein einfaches Telefon, ist eine Tatsache – aber eine, die vielfältige und widersprüchliche Auswirkungen hat. Das Globale äussert sich nicht nur in Konvergenz, sondern auch in Divergenz. Ob die unbestreitbare technische Vernetzung des Planeten eher die Konvergenz oder die Divergenz von Politiken, Kulturen und Nationen fördert, bleibt mit einem Fragezeichen versehen.
Die Kräfte, die zu grösseren unfreiwilligen Migrationsbewegungen führen können (die in Europa wiederum nationalistische Reaktionen zur Folge hatten), haben sich schon vor der beschleunigten Globalisierung der 1990er Jahre und vor dem Ende des Kommunismus entwickelt. Seit den 1960er Jahren verlaufen Veränderungen in der Welt weniger homogen, nicht homogener. In der Einflusssphäre des Islams etwa standen die 1950er Jahre noch unter dem Motto der «transpartisanischen» Modernisierung des Islams. Seit den 1980er Jahren gilt die umgekehrte Losung: die der Islamisierung der Moderne. Das hat Auswirkungen auf den Islam weltweit: da, wo er die Mehrheitsgesellschaft bildet, aber auch da, wo er eine Minderheitenreligion ist. In dieser «Islamisierung der Moderne» ist Demokratie in erster Linie ein Mittel für andere Zwecke – ein Szenario, das etwa in der Türkei zu beobachten ist.
Auch zwischen den Vereinigten Staaten und Europa haben sich seit den 1970er Jahren eher die Divergenzen akzentuiert: Amerika ist zwischen einem konservativen Pol und einem progressiven Pol sehr politisiert. Religion bleibt ein Kernthema. Im Vergleich dazu hat sich Europa entpolitisiert, ihm fehlt durch einen zentristischen Konsens die Polarität.
Der Kalte Krieg gliederte sich in zwei Blöcke und maximal drei Lager (wenn man die neutralen Staaten mitzählt), aber er hatte in beiden Blöcken einen grossen Konvergenzeffekt, und zwar unterschiedliche, aber nicht gegensätzliche progressive Bezugspunkte. Das heutige Russland dagegen geht eher noch stärker als im Kommunismus einen eigenen Weg, definiert sich als eurasisches Reich und über den orthodoxen Glauben. Auch die in China von Deng Xiaoping lange betriebene Konvergenzpolitik scheint seit Xi Jinping nachzulassen. Präsident Xis «chinesischer Traum» besteht darin, China in Asien eine Machtposition zu verschaffen, wie sie Japan in den 1930er Jahren innehatte – oder es gleich zur globalen Supermacht machen zu lassen.
Kurz: Die These der globalen Konvergenz ist kaum zu halten – weder für den Zeitraum vor 1990 noch für die Zeit danach.
Nationale Kultur besteht aus vielen Elementen
Eine nationale Kultur umfasst heute kulturelle, religiöse, ethnische und wirtschaftliche Elemente. Meist werden sie aber nicht mehr als «national» wahrgenommen: Sie sind säkularisiert, neutralisiert, banalisiert und dadurch offener, flexibler und anpassungsfähiger. Muss man ein Christ sein, um Brot und Wein zu lieben? Buddhist oder Konfuzianer, um Tee und Reis zu schätzen? Kulturen sind aus dieser Sicht weder abgeschlossen noch leere Hüllen. Sie sind sonderbare Hybriden. Nur beschränkte Geister denken zunächst an ein Land, wenn Platon, Zhuangzi, da Vinci, Shakespeare, Basho, Mozart, Monet oder Picasso erwähnt werden. Aber es ist nicht notwendig, die nationale Kultur zu unterdrücken, um sie ins richtige Verhältnis zu rücken.
Die gegenwärtige politische Herausforderung besteht darin, sich bewusst für einen internationalen statt einen postnationalen Weg zu entscheiden – und für das Lokale statt den Nationalismus. Mit anderen Worten: offene Grenzen, aber flexibel je nach Situation, weder geschlossen noch abgeschafft. Diese Welt ist glaubwürdiger und attraktiver als die postnationale Welt mit ihrem imperialen Charakter. Eine zunehmend internationalisierte Welt setzt also eine nationale Dimension voraus, die sich weiterentwickelt, ohne zu verschwinden. Die Nation als Vektor der Demokratie und als Kompromiss zwischen Religion und Politik ist nicht ohne Zukunft. Langfristig werden nur wenige riesige globale Unternehmen die heutige, für sie massgeschneiderte Welt verteidigen. Sogar die wichtigsten Profiteure – China und die USA – könnten ihre Position dazu je nach neu geprüfter Interessenlage ändern. Ökologische Entwicklungen und die Verknappung der Energieressourcen werden früher oder später dazu führen, dass ein Teil der Weltbevölkerung zu immer weiteren und immer schnelleren Wanderungen gezwungen wird. Etwas intelligenter Protektionismus ist nicht absurd. Er kann sogar lebenswichtig sein.
Ausblick
Es gibt keine sozialen oder politischen Daten, die das Szenario einer Welt nahelegen, die ausschliesslich aus Individuen besteht, die ständig auf dem ganzen Planeten in Bewegung sind. Genauso wenig, wie Unternehmen, Staaten, Verbände, Diasporas, Städte, Dörfer, Religionen und Nationen in absehbarer Zeit verschwinden werden. Zu glauben, man müsse die Nation schwächen und abschaffen, um jegliche Möglichkeit des Nationalismus auszurotten, ist ein Fehler – er würde genau das Gegenteil bewirken. Die Nation abschaffen zu wollen, um sich vom Nationalismus zu befreien, ist ähnlich erfolgversprechend wie staatlich verordneter Atheismus, der irgendeine Glaubensausübung untersagt, aber die entsprechende Religion damit nie zum Verschwinden gebracht, ja manchmal sogar gestärkt hat. Die Nation ist – in ihrer an die Demokratie gebundenen Form – nach wie vor unverzichtbar, und in diesem Sinne kann und muss sie verteidigt werden.