«Es war ein grosser Fehler, dass wir Bürgerlichen uns gespalten haben»
Die Jungen können Reformen unbelasteter anpacken. Davon sind die Präsidenten von Junger SVP, Jungfreisinnigen und Junger CVP überzeugt. Im Gespräch loten sie das Potenzial für liberale Politik aus.
Wir treffen uns inmitten der Coronakrise, sie hat in der Schweiz einiges auf den Kopf und Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Welche Lehren sollen wir aus dieser Krise ziehen?
Sarah Bünter: Wir sollten uns bewusst werden, dass solche Krisen immer eintreten können, das müssen wir auch in die Politik einfliessen lassen. Gerade wenn es beispielsweise um Reformen geht, müssen wir langfristig denken und berücksichtigen, dass auch Situationen eintreten können, mit denen man nicht gleich rechnet. Reformen, die man vor der Krise extrem lange hinausgezögert hatte, werden nun noch viel schwieriger und bringen drastischere Konsequenzen mit sich, gerade bei den Sozialversicherungen.
Matthias Müller: Ich sehe zwei Dinge. Erstens: Wie vergänglich Freiheiten sind. Wesentliche Grundrechte wurden deutlich eingeschränkt: die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, die Wirtschaftsfreiheit, faktisch auch die Eigentumsgarantie. Wir haben diese Grundrechte für selbstverständlich erachtet – und in der Krisenzeit werden sie per Notdekret einfach so eingeschränkt. Zweitens: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Es ist uns eindrücklich vor Augen geführt worden, wie wichtig eine bürgerliche Haushaltspolitik ist.
David Trachsel: Es ist eine Freude, einen FDPler so reden zu hören, da hat man als SVPler kaum noch etwas hinzuzufügen! Aus meiner Sicht ist antizyklische Politik in bezug auf den Staatshaushalt wichtig, aber auch in bezug auf die Notenbanken. Die antizyklische Geldpolitik muss unbedingt wieder gewährleistet werden. Der Schweizer Franken mit seiner Stabilität ist doch eine der absoluten Stärken der Schweiz. Dazu müssen wir Sorge tragen, man war da in den vergangenen Jahren sehr fahrlässig.
Die Bilanz der vergangenen Legislatur fällt aus bürgerlicher Sicht ernüchternd aus. Wichtige Reformen sind nicht zustande gekommen oder, im Falle der STAF, gerade noch so durchgedrückt worden. Warum ist es Ihren Parteien nicht gelungen, den Schwung aus den Wahlen 2015 zu nutzen?
Trachsel: Natürlich lief nicht alles optimal. Man muss aber auch sehen, welche Fehler und unnötigen Gesetze nicht gemacht wurden. So paradox es klingt: Politiker sollten schauen, dass möglichst wenig politisiert wird, dass möglichst viel den Leuten und den Unternehmen überlassen wird. In diesem Sinne ist in dieser Legislaturperiode auch einiges gut verlaufen. Schade ist, dass es bei der Rentenreform nicht schneller vorwärtsgeht. Hier sehe ich die Schuld aber auch bei den Linken, nicht nur den Bürgerlichen.
Müller: Vieles ist in der vergangenen Legislatur ja auch dank dem bürgerlichen Block zustande gekommen. Es ist aber richtig, darauf hinzuweisen, dass entscheidende Reformen aufgrund der mangelnden Einigkeit unter den Bürgerlichen nicht durchgebracht werden konnten. Aus freisinniger Sicht orte ich das Problem darin, dass unser rechter Partner zum Teil sehr wirtschaftsfeindlich ist und sich zum Teil auf die Position der Fundamentalopposition zurückzieht.
Trachsel: Wie bitte?!
Müller: Zum Beispiel bei der Bekämpfung der Bilateralen, Stichwort Begrenzungsinitiative. Oder bei den Revisionen des Datenschutzgesetzes und des CO2-Gesetzes. Die SVP lehnt in diesen Geschäften aus Prinzip alles ab. Will sie eine Lösung erzielen, wird die FDP dadurch gezwungen, sich nach links zu wenden: Sie muss den Kompromiss mit der CVP und der Linken suchen. Bei der CVP sehe ich das Problem, dass sie teilweise völlig orientierungslos wirkt. Bei der Altersvorsorge 2020 zum Beispiel ist sie in den Seitenwagen der Gewerkschaften gestiegen. Auch in der Coronakrise politisiert die CVP plötzlich völlig antibürgerlich, vor allem im Nationalrat.
Frau Bünter, sind Sie «antibürgerlich»?
Bünter: Die Altersvorsorge 2020 beinhaltete Dinge, die auch bei uns Zähneknirschen auslösten. Man muss aber immer abwägen, was die Alternative dazu ist und ob es eine Möglichkeit gibt, eine bessere Reform auf den Tisch zu bringen. Nach der Ablehnung der Reform mussten wir wieder bei null anfangen, der ganze Prozess hat sich verzögert. Die AV 2020 wäre wenigstens ein Reformschritt gewesen und hätte neues Terrain eröffnet, um weiterzugehen. Das Versprechen der Gegner, schnell eine bessere Lösung zu bringen, wurde bis heute nicht eingelöst. Was die Coronakrise betrifft: Da war ich auch nicht immer einverstanden mit der CVP.
Bei was zum Beispiel?
Bünter: Bei gewissen Geldern, die zusätzlich gesprochen wurden. Ein gesundes Geschäftsmodell sollte diese Krise mit Kurzarbeit und den Überbrückungskrediten durchstehen. Natürlich gibt es Branchenunterschiede und «junge» Unternehmen. Die Gefahr besteht, dass nun Geschäftsmodelle unterstützt werden, die langfristig auch ohne Krise nicht funktioniert hätten. Die Krise zeigt uns, wie wichtig Innovationsfähigkeit und ein nachhaltiger Finanzhaushalt sind, sowohl beim Staat als auch in der Wirtschaft.
Aber es ist doch erstaunlich: Vor den Wahlen 2015 forderte CVP-Präsident Gerhard Pfister im «Schweizer Monat» eine Trendwende hin zu einem bürgerlichen Schulterschluss. War das letztlich nur ein PR-Stunt?
Trachsel: Für mich war es vor allem schade zu sehen, wie angenommene Volksinitiativen, zum Beispiel die Masseneinwanderungsinitiative, von den bürgerlichen Parteien einfach nicht umgesetzt wurden. Und das, obwohl doch gegen 50 Prozent eurer Wähler dafür gestimmt hatten! Das zerstört das Vertrauen der Bürger in die Politik.
Bünter: Ich sehe den bürgerlichen Schulterschluss nicht als PR-Stunt. Wir haben aber gemerkt, dass die Positionen in gewissen Bereichen doch zu unterschiedlich waren. Auf Seiten der SVP war auch sehr wenig Konsensfähigkeit zu spüren. «Nur so und nicht anders!» – so funktioniert das in der Politik einfach nicht.
Ist der klassische Gegensatz zwischen Bürgerblock und Linken vielleicht auch einfach überholt? Allianzen werden heute bekanntlich über alle möglichen Parteigrenzen hinaus geschmiedet, es gibt neue Dimensionen in der Politik, auch neue Parteien. Müssen wir uns vom alten Konzept verabschieden?
Müller: Ja. Klassische Parteiallianzen haben ausgedient. Was wir suchen sollen, sind thematische Allianzen.
Wo sehen Sie ein Potenzial für solche Allianzen zwischen Ihren drei Parteien?
Müller: Jede Partei formuliert zunächst für sich selber eine Vision. Liberale Politik bedeutet für mich, dass Leute aus eigener Initiative etwas auf die Beine stellen können, Gesetze möglichst schlank und die Steuern möglichst tief sind. Diesbezüglich gibt es sicher eine grosse Überschneidung mit der SVP. Auch bei der CVP finden wir bestimmt da und dort einen Konsens. Wenn sich die Linken fundamental in die Opposition verabschieden, dann muss man den Kompromiss mit CVP und SVP finden. Wenn hingegen die SVP völlig auf stur schaltet, müssen wir nach anderen thematischen Kompromissen suchen. Wir sind etwa interessiert an einer freiheitlichen Klimapolitik. Wenn die SVP dazu nicht Hand bietet, dann müssen wir halt mit der CVP oder der GLP zusammenarbeiten.
Trachsel: Gerade in der Klimapolitik entfernt sich der Kompromiss vom liberalen Ansatz einer bürgerlichen Politik. Die SVP will nur bürgerliche Politik! Man kann das als stur bezeichnen, ich bezeichne es als konsequent. Weder Flugticketabgaben noch Verbote werden unser Klima nachhaltig verändern. Innovationen werden die Lösung bringen! Nur so werden wir eine allfällige Klimakatastrophe verhindern können, aber sicher nicht mit Symbolpolitik.
Aus liberaler Sicht war der Bürgerblock lange erfolgreich: In den 1970er und 1980er Jahren haben CVP, FDP und SVP gemeinsam die Steuern und Abgaben einigermassen tief gehalten. Der darauffolgende Aufstieg der SVP, die der CVP und der FDP zahlreiche Wähler abluchste, hat das Spiel grundlegend verändert. Bei der älteren Generation von Politikern und Wählern gibt es viele verletzte Gefühle. Ist da eine jüngere Generation vielleicht weniger vorbelastet? Kann sie besser zusammenarbeiten?
Bünter: Im Austausch mit den Mutterparteien ist das schon ein bisschen festzustellen, ja. Bei der Altersvorsorge beispielsweise konnten wir uns unter den Jungparteien – von der Jungen SVP bis zur Jungen EVP – auf eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung einigen. Ich bin überzeugt, es war bei früheren Reformen ein grosser Fehler, dass wir Bürgerlichen uns gespalten haben, obwohl wir relativ viele Übereinstimmungen haben.
Trachsel: Einverstanden. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass auch bei euch Jungen noch ein Anti-SVP-Reflex zu spüren ist. Man versucht immer wieder, die SVP als unbürgerlich darzustellen – tatsächlich vertritt sie aber eine solide bürgerliche Position. Staatsabbau, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Neutralität: Die SVP steht heute für das, was lange die Essenz der bürgerlichen Politik war. Weil unsere Partei so gross geworden ist, mussten die anderen bürgerlichen Parteien fast zwangsläufig etwas nach links rutschen.
Müller: Wir Jungpolitiker haben weniger Animositäten, weniger Ressentiments. Uns jungen Liberalen ist niemand auf den Fuss gestanden, wie vor zwanzig Jahren Herr Blocher den Goldküstenliberalen. Wir gehen offen in die Debatten und können gewisse Entwicklungen vorwegnehmen, zum Beispiel bei der Altersvorsorge. Ich würde mir wünschen, wir könnten zu den guten, alten Werten einer bürgerlichen Politik zurückkehren: möglichst wenig Bundesstaat, Subsidiarität, Föderalismus. Eine wesentliche Erkenntnis, die wir Bürgerliche teilen sollten: Unserem Land geht es so gut, weil die Linken in der Minderheit sind. Daran müssen wir weiterhin arbeiten.
Was bedeutet für Sie Liberalismus? Wie würden Sie ihn für die Zukunft neuerfinden?
Trachsel: Ich wünsche mir mehr Mut, Selbstverantwortung zu übernehmen. Freiheit ohne Verantwortung funktioniert nicht. Auch wenn sie anstrengend sein kann, braucht es die Eigenverantwortung.
Bünter: Wichtig für den Begriff Verantwortung ist das Handeln. Ich sehe beispielsweise keinen Widerspruch in einer liberalen Klimapolitik: Entscheidend ist die Kostenwahrheit. Es geht nicht um Verbote, sondern darum, dass die externen Kosten berücksichtigt werden. Wenn ein Produkt für einen Konsumenten teurer wird, weil die externen Effekte einbezogen werden, steht das aus meiner Sicht nicht im Widerspruch zu einer liberalen Wirtschaftspolitik. Dadurch werden nachhaltigere Produkte aber auch marktfähig.
Müller: Wir stehen an einem Wendepunkt: Viele Entwicklungen heute, sei es durch die Pandemie oder die Globalisierung, schüren Ängste, und die Reaktion darauf ist oft, dass wir das Problem verdrängen oder aber Schutz suchen. Besser wäre es, grosse Megatrends wie Robotisierung und Migration positiv zu nutzen.
Was heisst das zum Beispiel für die Klimapolitik? Herr Trachsel meinte vorher, dass Flugzeugticketabgaben und neue Steuern das Klima nicht retten würden.
Müller: Richtig. Bei der Flugzeugticketabgabe bin ich auch sehr skeptisch. Hierbei ist die Rückerstattung wichtig: Wenn das Geld in einen Innovationsfonds fliessen würde, aus dem sinnvolle Projekte entstehen könnten, kann man mit mir darüber reden. Alles andere ist tatsächlich Symbolpolitik. Mit dem Pariser Klimaabkommen haben wir uns zu einer Senkung der Klimaemissionen verpflichtet. Die Frage ist nun, wie wir die Ziele erreichen. Die FDP hat im Ständerat entscheidend mitgewirkt, dass wir einen klaren Zielpfad definieren konnten. Dieser ist bindend für die Wirtschaft, zum Beispiel bei der Sanierung von Gebäuden. Zur Erinnerung an die SVP: Die Wirtschaftsverbände wollen ein CO2-Gesetz. Viele Unternehmen sehen darin auch Chancen für neue Geschäftsmodelle.
Bünter: Ja, durch die Entwicklung neuer Innovationen kann die Schweiz einen wirtschaftlichen Vorsprung erlangen. Allgemein sehe ich in der Klimapolitik viel Abwehr und wenig Lösungen, gerade seitens der SVP. Ich finde das problematisch: Es wäre wichtig, dass wir uns hier gemeinsam engagieren, damit es einen Weg mit und nicht gegen die Wirtschaft gibt.
Simon Aegerter bringt als Beitrag für den Klimaschutz neue Atomkraftwerke ins Spiel. Die Kernenergie sei der sinnvollste Weg, das Klima zu schützen. Wie sehen Sie das?
Trachsel: Was er richtig sieht: Neben «grün» gibt es auch noch die Stichworte «versorgungssicher» und «bezahlbar». Nur auf Atomstrom zu setzen, wäre falsch. Wir brauchen ergebnisoffene Innovation ohne Technologieverbote, und da darf es eigentlich auch keine Subventionen geben, und wenn, dann nur sehr transparent. Mit weniger Subventionen und Steuern sehen wir besser, wo sich eine Investition auszahlt und wo nicht. Ich bin auch dagegen, dass der Staat mit einem grossen Fonds investiert: Das Wissen, das der Markt mit sich bringt, hat der Staat nicht. Ob Benzin nun ein bisschen teurer wird oder nicht, hat kaum Auswirkungen auf das Klima. Unser Ziel sollte es sein, dass Autos ganz ohne Benzin auskommen und beispielsweise mit Wasserstoff betrieben werden können, oder indem man CO2 aus der Luft filtert und wiederverwertet. Mit dem Aufstellen von Verboten und mehr Steuern erreichen wir das nicht.
Müller: Wir führen diese Diskussion ja nur, weil wir mit der Energiestrategie 2050 einen regulatorischen Irrläufer beschlossen haben. Wir Jungfreisinnigen haben die Vorlage vehement bekämpft und daraufhin in einem Positionspapier die Aufhebung eines Kernkraftverbots schwarz auf weiss festgehalten. Wir wissen, dass Kernenergie niedrige CO2-Emissionen aufweist, ähnlich wie Wasserkraft. Als Heilsbringer sollte man Kernkraft nicht darstellen, doch hinsichtlich der Versorgungssicherheit ist sie als Back-up unumgänglich.
Bünter: Wir sollten die Kostenwahrheit auch bei der Kernkraft nicht vergessen: Sie ist zwar CO2-neutral, man muss aber auch das Risikospektrum anschauen. Wegen den möglichen gesundheitlichen Schäden und den Kosten für Zwischen- und Endlagerung sind Kernkraftwerke, auch bei tiefer Eintrittswahrscheinlichkeit, eine extrem teure Angelegenheit. In einer Welt ohne Subventionen brauchen wir volle Kostentransparenz, und dann werden Benzin, Kerosin und damit beispielsweise auch der Flugverkehr teurer. Ich habe lieber Kostentransparenz als Subventionen, dann liegt die Entscheidung in der Verantwortung der Bürger.
Ein weiteres Thema, das unter den Bürgerlichen viel zu reden gibt, ist die Migration. Margit Osterloh und Bruno S. Frey schlagen eine Eintrittsgebühr für legale Migration vor. Das würde die Integration erleichtern und gleichzeitig das Schlepperwesen bekämpfen. Wie sehen Sie das?
Müller: Ich finde den Ansatz sehr interessant. Er geht von der Prämisse aus, dass Migration insgesamt eine Quelle des Wohlstands und der Innovation ist. Aber wer vom Nutzen spricht, darf nicht über die Kosten schweigen, und Migration bringt auch Kosten mit sich. Wenn eine Million Personen einwandern, dann entsteht ein Druck auf Löhne und Infrastruktur, das ist ein Fakt. Auf der anderen Seite haben wir in der Schweiz einen Fachkräftemangel. Hier prallen zwei Freiheitsrechte aufeinander: Man kann schon sagen, dass Emigration ein Recht sei. Ein Recht auf Immigration aber kann man a priori nicht voraussetzen: Das aufnehmende Land muss entscheiden. In der gegenwärtigen Praxis entscheiden vor allem bei den Drittstaatenkontingenten irgendwelche Kommissare und Verwaltungsstellen, wer reingelassen wird und wer nicht. Eine Lenkung über Preise wäre viel fairer.
Trachsel: Wir sind für eine gewählte, gemässigte Immigration. Es gibt verschiedene Ansätze für eine restriktive Einwanderungspolitik, zum Beispiel Punktesysteme, Kontingente oder Höchstzahlen. Was alle Systeme gemeinsam haben: Sie sind alle besser als einseitige Masseneinwanderung aus der EU und sehr strenge Drittstaatenkontingente gegenüber dem Rest der Welt. Masseneinwanderung und Fachkräfte haben wahrscheinlich nichts miteinander zu tun. Was wir brauchen, ist ein intelligentes Kontingentierungssystem, das es der Wirtschaft ermöglicht, möglichst einfach und weltoffen von überall die Leute zu holen, die sie benötigt. Das Problem am Vorschlag von Frau Osterloh und Herrn Frey ist die Höhe des Eintrittspreises. Teilweise werden auch Leute im Niedriglohnsegment gebraucht. Das Vermögen, um eine Eintrittsgebühr zu bezahlen, haben solche Personen nicht.
Der Arbeitgeber könnte den Eintrittspreis ja bezahlen.
Trachsel: Im Niedriglohnsegment ist die Wertschöpfung tief. Der Anreiz, für den Eintrittspreis zu bezahlen, ist für den Arbeitgeber womöglich gering. Ein Eintrittspreis ist sicher besser als die Masseneinwanderung, aber nicht ideal.
Müller: Das ist doch der entscheidende Punkt: Wo Preise spielen, bildet sich ein Markt, und so wird der effiziente Preis ermittelt. Arbeitgeber können den Eintrittspreis bezahlen, womöglich aber auch NGOs und Hilfsorganisationen. Zum guten Glück sind wir ein sehr spendenfreudiges Land, das würde Migration ermöglichen.
Bünter: Das Problem bei solchen Ansätzen ist, dass sie nicht beim Ursprung der Migration ansetzen. Die Migration, über die wir heute reden, ist häufig die Folge von Konflikten und mangelnder Perspektiven in den Ursprungsländern. Historisch hat uns die Migration extrem viel gebracht, wir haben auch eine humanitäre Verantwortung. Wir sollen sie wahrnehmen und uns fragen, wie wir es schaffen, Migrationsströme dieses Ausmasses gar nicht erst entstehen zu lassen. Ich habe Mühe damit, Eintrittspreise als nachhaltige Lösung für das Migrationsproblem zu sehen. Spannend dagegen fände ich, mit einer Investitionsrisikoversicherung Investitionen in Entwicklungsländern zu fördern. Das wäre auch eine Chance für unsere Wirtschaft.
Und wer würde diese Versicherung zur Verfügung stellen?
Bünter: So wie bei der Exportrisikoversicherung deckt der Markt den grössten Teil ab, und da, wo das Risiko für die Versicherer zu hoch ist, würde der Staat eine Garantie leisten. So können sich Länder entwickeln.
Müller: Ich glaube, man muss zwei Dinge auseinanderhalten. Einerseits haben wir politische Flüchtlinge, die müssen wir aufnehmen, und das ist gut so. Aber zu einem grossen Teil reden wir ja von Wirtschaftsmigration. Diese Leute werden nicht verfolgt, sondern suchen einfach eine bessere Zukunft. Wenn sie in ein Land kommen und ihre Qualifikationen unter Beweis stellen wollen, dann sollten wir das ermöglichen, aber in gelenkten Bahnen. Ich habe gelesen, dass man Schleppern knapp 9000 Franken bezahlen muss. Es sind also nicht die Ärmsten der Armen, die sich auf die Reise hierhin begeben. Anstatt 9000 Franken für einen Schlepper zu bezahlen, könnte man auch Geld für den Eintrittspreis sammeln.
Mit dem Coronavirus ist ein Thema völlig aus den Medien verschwunden: das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU. Unter welchen Umständen würden Sie einem Rahmenvertrag zustimmen?
Müller: Die Stossrichtung des Rahmenvertrags finde ich eigentlich gut: Wir brauchen stabile und sichere Beziehungen zu unserem wichtigsten Wirtschaftspartner. Das Abkommen kann man unterstützen, wenn die Unionsbürgerrichtlinie explizit draussen bleibt und wenn Klärungen bei der staatlichen Beihilfe erreicht werden. In unserem Land können die Kantone selber über ihre Beteiligungen entscheiden. Diese dürfen nie unter den Begriff fallen, wie die EU ihn verwendet. Vor allem aber ist der Begriff der staatlichen Beihilfe auch eine Hintertür, um unsere Steuerpolitik anzugreifen, indem man tiefe Steuern als eine Form von staatlicher Beihilfe bezeichnet. Das muss geklärt werden. Ebenfalls geklärt werden müsste die Frage der Jurisdiktion. Gemäss dem vorliegenden Vertrag ist de facto der Europäische Gerichtshof (EuGH) die letzte Instanz. Überall dort, wo Unionsrecht impliziert ist, hätte der Schiedsgerichtshof die Verpflichtung, den EuGH anzurufen. Da müssen wir den bewährten Weg des Bilateralismus fortfahren: Aktuell haben wir diplomatische Vertretungen, die Streitfragen zusammen klären. Aus unserer Sicht hat das eigentlich gut funktioniert.
Bünter: Ich kann dem weitgehend zustimmen. An erster Stelle steht für mich aber die Streitbeilegung. Aufgrund dieses Aspekts sind die anderen Punkte überhaupt erst kritisch: Es geht darum, wie die Zusammenarbeit seitens der EU weiterentwickelt wird. Das grosse Problem des aktuellen Entwurfs ist, dass völkerrechtliche Mechanismen durch EU-interne Regelungen abgebaut worden sind. Der EuGH nimmt im Streitschlichtungsmechanismus, wie er im Abkommen steht, eine zentrale Rolle ein. Stattdessen sollten Probleme auf völkerrechtlichem Weg geregelt werden, bei dem beide Seiten bis zu einem gewissen Grad gleichberechtigt sind. Es gibt dann beispielsweise keine Gefahr, dass die EU uns gegen unseren Willen die Unionsbürgerrichtlinie auferlegt.
Trachsel: Der Vertrag, wie er heute vorliegt, ist nicht zu retten. Die institutionelle Lösung ist so ausgestaltet, dass man nicht von einem Vertrag zwischen Partnern auf Augenhöhe reden kann, und das ist der Schweiz als souveränem Staat unwürdig. Ob es nun die Unionsbürgerrichtlinie, der Tierschutz oder die Migration ist, die einem nicht passt, spielt eigentlich keine Rolle. Das Grundproblem ist das fremde Recht. Der Mechanismus an und für sich ist falsch. Da muss man sich eine gleichberechtigtere Lösung überlegen.
Was ist aus Ihrer Sicht in der aktuellen Legislatur das zentrale Thema? Wo sehen Sie den Konsens mit den anderen bürgerlichen Parteien?
Trachsel: Die Rentenreform mit der ersten und der zweiten Säule, aber auch das Gesundheitswesen und die Europapolitik. Bei uns Jungparteien ist die Zusammenarbeit in diesen Themen ein wenig einfacher, wir müssen weniger Rücksichten nehmen. Als Jungparteien können wir eher noch das Ideal formulieren und müssen nicht daran denken, es allen recht zu machen. Diese Mentalität muss vermehrt in die Mutterpartei einfliessen: Wir müssen die Ideale aufzeigen.
Müller: Die Rentenreform ist matchentscheidend, wir müssen den Umverteilungswahnsinn in der ersten und zweiten Säule beenden. Unsere Renteninitiative will in der ersten Säule eine moderate Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre. In der zweiten Säule wollen wir tiefere Mindestumwandlungssätze und eine Glättung der Beitragssätze. Auch für die Kohäsion des Landes, für die Generationengerechtigkeit ist die Rentenreform das wichtigste Geschäft der Legislatur.
Was ist für Sie das wichtigste Geschäft, Frau Bünter?
Trachsel: Du sagst jetzt aber nicht nochmals das Gleiche? (lacht)
Bünter (lacht): Doch! Für die junge Generation ist es tatsächlich die Altersvorsorge. Die Vorlagen, die jetzt diskutiert werden, sehe ich skeptisch. Vor allem den Vorschlag für die zweite Säule finde ich aus der Perspektive der jungen Generation sehr problematisch, weil so eine weitere Umverteilung ins System eingeführt wird. Das geht in die Richtung der linken Seite, die anstatt einer zweiten Säule lieber eine Einheitskasse hätte. Ich bin überzeugt, das Dreisäulenprinzip ist gut, wir müssen es aber an die demografische Entwicklung anpassen. Wir Jungparteien nehmen bei diesem Thema die langfristige Sicht ein, was gerade in der gegenwärtigen Krise eine sehr wichtige Perspektive ist. Wir müssen für die Zukunft gewappnet sein.