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Es lohnt sich, dem Konsens zu widersprechen
Thilo Sarrazin. Bild: Keystone/DPA/Thomas Köhler.

Es lohnt sich, dem Konsens zu widersprechen

Menschen fürchten nichts mehr als Vereinzelung und schrecken vor abweichenden Meinungsäusserungen zurück. Es erfordert Zivilcourage, der eigenen Überzeugung auch gegen Widerstand und Herabsetzung zu folgen.

Ein erfahrener Kriminalbeamter erzählte mir vor Jahrzehnten, dass unter den Motiven für ein Kapitalverbrechen weder die Liebe noch die Habgier, sondern die Sorge um das eigene Prestige an der Spitze stehe. In der Tat ist soziale Anerkennung für die meisten Menschen sehr wichtig. Sie suchen und erfahren diese in der Familie, unter Freunden und Bekannten, bei Berufskollegen, zufriedenen Kunden etc. Die Zahl der Bezugspersonen ist bei den meisten Menschen klein. Sind sie publizistisch tätig oder machen sie eine Karriere mit öffentlicher Sichtbarkeit – zum Beispiel als Schauspieler, Manager oder Politiker –, so steigt die Zahl derer, die Beifall spenden oder Missfallen äussern. In der modernen Mediengesellschaft kann sie schnell Millionen umfassen.

Als soziale Wesen suchen die Menschen einerseits Schutz in der Gruppe und fürchten nichts mehr als Vereinzelung. Andererseits achten sie auf den sozialen Rang, der ihnen in der Gruppe zugesprochen wird. Für beide Ziele ist es hilfreich, wenn die eigenen Meinungsäusserungen sich in das Meinungsklima einfügen, das nach der allgemeinen Wahrnehmung in der Gruppe vorherrscht. Mit geschickter Positionierung kann man durch eigene Meinungsführerschaft oder durch die Anerkennung der Meinungsführerschaft anderer das eigene Prestige in der Gruppe absichern und steigern.

Die Kenntnis dieser in den meisten Menschen tief verankerten psychischen Mechanik ist auch das bewusste oder unbewusste Motiv der meisten opportunistischen Meinungsäusserungen. Die meisten Menschen wollen sich mit sich selbst im Reinen fühlen. Deshalb neigen sie dazu, jedwede Ahnung opportunistischen Verhaltens bei sich selbst zu unterdrücken, indem sie auch jene Meinungen rechtfertigen beziehungsweise für wahr halten, denen sie sich aus opportunistischen Gründen angeschlossen haben. So vermeiden sie kognitive Dissonanz und investieren in das eigene Wohlbefinden.

Der Mensch ist keine leere Schiefertafel

Wer sich in wichtigen Fragen vom vorherrschenden sozialen Meinungsklima der eigenen Gruppe entfernt und sich dazu in wahrnehmbarer Form äussert, vielleicht sogar öffentlich, der zeigt Zivilcourage. Aber er geht das Risiko ein, Missfallen auf sich zu ziehen. Das gefährdet sein Prestige und kann im Extremfall zum sozialen Ausschluss aus der Gruppe führen. Je emotional belasteter die Themen sind, um die es dabei geht, und je kontroverser sie in der Öffentlichkeit diskutiert werden, umso stärker sind die sozialen Sanktionen, denen dieser Mensch ausgesetzt sein kann. Das muss man aushalten können, und jeder für sich muss dann entscheiden, was ihm wichtiger ist: die Äusserung der eigenen Meinung oder die soziale Akzeptanz in der eigenen Gruppe beziehungsweise in der Öffentlichkeit.

Meine einschlägigen Erfahrungen dazu habe ich in den Jahren nach der Veröffentlichung von «Deutschland schafft sich ab» (2010) gemacht. Die öffentlichen Empörungswellen, denen ich ausgesetzt war und gelegentlich noch immer ausgesetzt bin, beruhen auf drei meiner Kernaussagen:

  1. Die Unterschiede bei den individuellen menschlichen Eigenschaften einschliesslich der geistigen Gaben sind überwiegend erblich. Es ist deshalb für eine Gesellschaft nicht gleichgültig, wer Kinder bekommt und wie viele.
  2. Überkommene kulturelle und religiöse Prägungen führen über die Generationen hinweg ein zähes Leben und sind mit einer abendländisch geprägten Gesellschaft nicht gleichermassen kompatibel.
  3. Kulturfremde Masseneinwanderung kann die wirtschaftliche und soziale Zukunft westlicher Gesellschaften ernsthaft gefährden.

Mit dieser Positionierung hatte ich den zentralen Glaubenssatz der modernen Gesellschaft angegriffen. Er besagt, dass jeder Mensch praktisch als leere Schiefertafel geboren wird oder einwandert und dass er von Politik und Gesellschaft quasi unbegrenzt formbar ist. Nur dann ist es nämlich wirklich gleich­gültig, wer die Kinder bekommt beziehungsweise wer bei uns einwandert. Das vorherrschende Meinungsklima in Politik, Medien und den geisteswissenschaftlichen Fakultäten unserer Universitäten empfindet meine abweichende Positionierung als einen beispiellosen Skandal – und dies umso mehr, als ich in Teilen der Gesellschaft breite Unterstützung fand und finde, wie der anhaltende Verkaufserfolg meiner Bücher zeigt.

Die öffentliche Resonanz auf meine Analysen setzte zwar meiner Sanktionierung Grenzen, gleichwohl waren die Folgen fühlbar:

  • Die SPD schloss mich nach 47 Jahren Mitgliedschaft 2020 aus der Partei aus.
  • Meine Frau, 35 Jahre erfolgreich als Grundschullehrerin tätig, wurde nach der Veröffentlichung meines Buches von ihren Vorgesetzten in der Berliner Schulverwaltung so stark gemobbt, dass sie 2011 in den vorgezogenen Ruhestand ging.
  • Viele soziale Kontakte, die weniger eng waren, trockneten aus, nachdem ich zu einer kontroversen öffentlichen Person geworden war. Menschen, die ich gar nicht kannte, schlugen Einladungen aus, wenn auch ich auf der Gästeliste stand.
  • Nachdem die ersten grossen Empörungswellen vorbei waren, wurde ich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den grossen überregionalen Printmedien weitgehend beschwiegen.
  • Über die Inhalte meiner Aussagen wurden und werden absurde Märchen verbreitet: Sie reichen von der Behauptung, ich hätte gesagt, Türken und Araber hätten kleinere Hirne und seien deshalb dümmer (Lektorin eines renommierten Verlages zu einem potentiellen Autor), bis zur Feststellung, nach meiner Meinung seien die Menschen umso krimineller, je dunkler ihre Hautfarbe sei (Professorin in einem Vortrag).

Da jeder meine Thesen zu kennen meint – unabhängig davon, ob er meine Bücher gelesen hat –, bin ich gleichermassen zur Projektionsfläche für intensive Ablehnung wie für intensive Verehrung geworden. Mein öffentliches Bild hat sich gewissermassen verselbständigt und von der Person Thilo Sarrazin gelöst. Selbst wenn ich plötzlich eine politisch korrekte Abhandlung zur Interpretation des evangelischen Katechismus publizierte, würden sich linke Buchhandlungen weigern, das Buch zu führen.

«Meine Frau wurde nach der Veröffentlichung meines Buches von ihren Vorgesetzten so stark gemobbt, dass sie in den vorgezogenen Ruhestand ging.»

Wo die wahren Freunde sind

Trotzdem – ich bereue nichts. Ich bin froh, dass ich «Deutschland schafft sich ab» veröffentlicht habe. Damit – und mit meinen Büchern danach – konnte ich vielen Menschen Einsichten und Analysen an die Hand geben, die ihre eigene Argumentationskraft stärkten.

Es ist ein gutes Gefühl, wenn man nach reiflicher Überlegung auch dort der eigenen Überzeugung folgt, wo man mit Widerstand, Abneigung und Herabsetzung rechnen muss. Danach weiss man zudem besser, wo die wahren Freunde sind und wer auch dann zu einem steht, wenn es mal stürmisch wird.

Aber es will allemal gut überlegt sein, ehe man sich bei einem emotional belasteten Thema öffentlich in eine exponierte und kontroverse Position begibt. Man muss diese aushalten können. Und die Sache, um die es geht, muss es einem wert sein. Streit um des Streites willen ist niemals erstrebenswert.

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