Es läutet
Erwin Koch: «Nur Gutes». München: Nagel & Kimche, 2008.
Der Sechzehnjährige hat noch nie ein nacktes Mädchen gesehen. Um seine Neugier zu befriedigen, bietet er seiner Schwester Geld an, wenn er sie beim Waschen in der Küche beobachten dürfe. Scheinbar entrüstet, handelt sie ein höheres Entgelt aus, dann erlaubt sie ihm, durch das Schlüsselloch der Schlafzimmertür einen Blick auf ihre Schambehaarung zu werfen. Es bleibt nicht bei diesem einen Mal, bis er eines Tages feststellt, dass er betrogen wurde. Was das listige Mädchen ihm zeigte, war nur ein Katzenfell. Das war das einzige Mal, erzählt der inzwischen erwachsene Knabe Jahre später, dass er seine Schwester geschlagen habe. Die Enttäuschung liess ihn zur Gewalt greifen
Um Täuschung und Wahrheit geht es in Erwin Kochs schmalem, aber umso dichteren Roman «Nur Gutes». Sechsunddreissig Jahre, nachdem er während eines Urlaubs in Ligurien seine damalige Freundin und jetzige Frau Dagmar mit dieser Geschichte zum Lachen gebracht hat, arbeitet der evangelische Pastor Albert Mangold an seinem Predigtmanuskript, als es läutet. Vor der Tür steht Anna Baumer, eine frühere Freundin seines Sohnes Simon, die wahrscheinlich polizeilich gesucht wird. Vor vielen Jahren hat sie gemeinsam mit Simon eine reiche Bankiersgattin entführt, um deren Mann zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis zu zwingen. Natürlich scheiterten die beiden ebenso naiven wie dilettantischen revolutionären Romantiker. Doch während Anna fliehen konnte, musste Simon eine Haftstrafe absitzen. Nun ist er Redaktor für Nachrufe bei einer regionalen Zeitung. Er lebt allein, schon vor längerer Zeit ist seine Frau mit den Kindern ausgezogen. An diesem Sonntag hatte er eigentlich vor, seine Eltern zu besuchen, doch dazu kommt es nicht. Niemand holt ihn vom Bahnhof ab, und es bleibt bei Telefongesprächen. Später kann er nur noch rekonstruieren, was geschehen ist; denn seine Eltern überleben den Tag nicht.
So werden all die Dialoge, Reflexionen und Erinnerungen, aus denen sich «Nur Gutes» zusammensetzt, zu einem grossen Nekrolog auf eine Familie, verfasst von einem Hinterbliebenen, der seine ganze Vorstellungskraft aufbieten muss, um erzählen zu können, was an jenem Sonntag geschehen sein mochte. Dabei lässt er die Besucherin wie einen Katalysator wirken; denn ihre Anwesenheit setzt einen Prozess in Gang, der das Unausgesprochene zwischen den Eheleuten offenlegt.
Es ist eine gewagte Erzählkonstruktion, die Erwin Koch für seinen Roman gewählt hat; doch sie hilft ihm, einen Stoff, aus dem gewöhnlich dickleibige Familienepen geschneidert werden, auf weniger als 160 Seiten zu komprimieren. So entsteht ästhetischer Mehrwert mittels einer virtuos angewandten Auslassungs- und Wiederholungstechnik, die nicht wenige Leser als Zumutung empfinden mögen, manche allerdings auch, ihr Berichterstatter eingeschlossen, in gleichem Masse als Auslöser einer nachhaltigen Verunsicherung. Und was könnte Literatur mehr bewirken wollen?
vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen