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«Es ist ein Ponzi-Schema»

René Scheu im Gespräch mit Thomas Held In den Pensionskassen wird immer mehr umverteilt. Von jung zu alt. Von oben nach unten. Das widerspricht der Idee des Kapitaldeckungs-verfahrens. Wie steht es im Jahre 2011 um Idee und Realität der zweiten Säule?

Herr Held, der Staat zwingt seine Bürger, für sich selber vorzusorgen, damit sie anderen im Alter nicht zur Last fallen. In der AHV finanzieren arbeitstätige Beitragszahler die Renten von Leuten, die nicht mehr arbeiten, und in der zweiten Säule spart man für sich selbst. So will es jedenfalls die Theorie. Wie solide ist die zweite Säule?

Thomas Held: Die Situation in der Schweiz ist paradox. Es kommt fast schon einer Gotteslästerung gleich, Probleme in der zweiten Säule anzusprechen. Man muss sich zuerst vor dem Altar der drei Säulen mehrere Male verneigen, bevor man sich kritisch dazu äussern darf. Ich erinnere mich an Artikel mit Titeln wie «Die Vorsorgeprobleme der Schweiz hätten andere Länder gerne». Man kann jedoch solche Vergleiche nicht anstellen, wenn man nicht auch die versprochenen Leistungen in ein Verhältnis zueinander setzt. Die staatlichen Versprechungen in der Schweiz sind im Vergleich zu anderen Ländern extrem hoch. Wenn sich diese Versprechen ökonomisch nicht halten lassen – und sie lassen sich nicht halten –, ergibt sich eine kritische Situation, die dadurch noch kritischer wird, dass man sie nicht wahrhaben will.

 

Die Realitätsverweigerung ist weit verbreitet – in der Politik, aber auch im Volk.

Die zweite Säule ist eine Zeitbombe, sofern alles so weitergeht wie bisher. Es handelt sich um einen sehr grossen Pool von über 600 Milliarden Franken. Die BVG-Landschaft mit ihren unterschiedlichen Kassentypen ist äusserst fragmentiert. Die Kantonalisierung der Aufsicht wird noch Blüten treiben. Denken Sie nur an die Skandale um unrechtmässige Bereicherungen von PK-Verantwortlichen, die durch die geringe Transparenz ermöglicht werden. Gleichzeitig muss man davon ausgehen, dass es auch in der legalen bzw. grauen Zone eine Kultur der Bereicherung gibt. Wenn es

um Milliarden geht, sind auch Kommissionen und Spesen im Sub-Promillebereich substanzielle Beträge. Aber was noch schlimmer ist: die erwähnten Skandale und Profiteure sind zwar ärgerlich, aber letztlich eine Nebenfrage. Viel wichtiger sind die strukturellen Probleme der zweiten Säule. Wir haben es nämlich mittlerweile mit einer Art Ponzi-Schema zu tun…

 

…also mit geschickt getarnter Umverteilung…

…genau. Die Mittel für die übermässig hohen Rentenversprechen werden faktisch teilweise aus den Beiträgen der Jüngeren alimentiert. Risiken, die eingegangen werden müssen, um die garantierten Renten von morgen zu bezahlen, werden den Jungen von heute aufgebürdet, ohne dass diese dafür mit höheren Zinsen entschädigt
würden.

 

Können Sie konkreter werden?

Der Pensionskassenbeitrag setzt sich aus zwei Beträgen zusammen: Sparkapital und Risikoprämie. Das Sparkapital wird Ihrem Konto zugerechnet, das dann nominal auf dem Vorsorgeausweis steht. Die Risikoprämie dient dazu, die Todesfall-, Witwen- und Waisenrisiken abzudecken. Der Anteil dieser Risikoprämie an den monatlichen Abzügen ist in den letzten Jahren angestiegen – das ist nicht zuletzt auch eine Rückwirkung der Zunahme der IV-Fälle auf die zweite Säule. Es kommen freilich noch zwei wichtige Punkte hinzu. Der zu hohe, weil demographisch unkorrekte Umwandlungssatz bewirkt, dass die Renten höher sind, als es das angesparte Kapital erlauben würde – auch dafür stehen faktisch die jüngeren Beitragszahler gerade. Und schliesslich findet nicht nur von jung zu alt eine Umverteilung statt, sondern auch von oben nach unten. Weil im überobligatorischen Bereich die Mindestvorgaben nicht gelten, liegen dort bei vielen Kassen Verzinsung und Umwandlungssätze tiefer.

 

Die gesetzlichen Mindestvorgaben sind aber letztlich ebenfalls illusionär. So schön es wäre: die Rendite von Anlagen in einem Kapitaldeckungsverfahren lässt sich nicht politisch vorgeben.

Klar, aber ich will auf einen andern Punkt hinaus. Jene mit einem grossen überobligatorischen Teil finanzieren den zu hohen Umwandlungssatz im obligatorischen Bereich mit. Der obligatorische Teil beträgt maximal 83’520 Franken, eine wachsende obere Mittelschicht verfügt somit über substanzielle Vermögen im überobligatorischen Teil. Bei den Gewerkschaften bezeichnet man die zweite Säule gerne als «Volksvermögen». Von diesem Verständnis ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Argumentation, dass eine Kollektivierung der Beitragszahler notwendig sei, dass mithin wie bei der AHV die Minimalrenten garantiert werden müssten. Es geht also um Umverteilung, ohne dass diese aber deklariert wird. Auch wenn wir nicht Ungarn, Polen oder Argentinien sind, müssten bei dieser Argumentation die Alarmglocken läuten.

 

Rechnen wir einmal. Im Jahre 1985, als das BVG-Obligatorium eingeführt wurde, war die Lebenserwartung für Männer und Frauen geringer, die Zinsen auf risikolosen Anlagen deutlich höher als heute. Der technische Zinssatz und der Umwandlungssatz haben sich seither jedoch kaum verändert. Einfacher gesunder Menschenverstand sagt mir: das kann nicht gutgehen.

Politiker haben um die zweite Säule eine Art Parallelwelt errichtet. Das ist eine ausgeklügelte versicherungsmathematische Zahlenwelt mit sogenannt «technischen Zinssätzen» und eigenen Lebenserwartungen. Aber wir leben nun einmal in der anderen Welt der realen Ökonomie. Die Vertreter der Pensionskassen wissen genau, dass diese reale Welt anders aussieht als jene, die sie abbilden. Doch niemand hat den Mut zu sagen, dass der Kaiser nackt ist. Denn wie der Ökonom Christian von Weizsäcker sagte: Wenn man demographisch richtig rechnet, sind die Zahlen so schlimm, dass man das Buch gleich wieder zuschlagen muss.

 

Die Pensionskassen sind gezwungen, hohe Risiken einzugehen. Sonst können sie die unrealistisch hohen politischen Vorgaben nicht erfüllen.

Die Risiken ergeben sich aus der gesetzlichen Garantie der Renten. Der geltende Umwandlungssatz ist aber wie gesagt zu hoch, um im Schnitt die Renten der Beitragszahler aus deren angespartem Kapital zu bezahlen. Dann muss das Geld eben aus dem kollektiven Topf genommen werden. Die Hoffnung ist, dass eines Tages der sogenannte «dritte Beitragszahler» – ein schweizerischer Euphemismus für den Kapitalmarkt – es richten wird. Aber die Hoffnung ist trügerisch. Wir haben in Europa nicht mehr die Wachstumsraten der 1950er und 1960er Jahre.

 

Da man wirtschaftliches Wachstum nicht herbeizaubern kann, sollte man klugerweise die politischen Vorgaben der neuen Situation anpassen.

Womit wir wieder beim Anfang wären: niemand will sich anpassen, weil «anpassen» effektiv «verzichten» bedeutet.

 

Die aktuelle Krise könnte das Bewusstsein dafür wecken. Wir erleben eine historisch einmalige Periode von Tiefstzinsen. Eine zehnjährige Bundesobligation wirft noch gerade 1,7 Prozent Rendite ab.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Situation bloss verschärft. Schon vorher gab es überzeugende Analysen, die zeigten, dass aufgrund der demographischen Entwicklung und von Sättigungstendenzen in europäischen Wohlfahrtsstaaten langfristige Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent wohl eher realistisch sind.

 

Ist die Verschärfung des Problems also eine Chance?

Vielleicht werden dank der Krise die exzessiven wohlfahrtsstaatlichen Leistungen insgesamt in Frage gestellt. Das fängt erst einmal damit an, dass Auswüchse wie Frühpensionierungen oder die Begünstigung von Staatsangestellten beseitigt werden. Diese Bereinigung findet jetzt überall statt, kratzt aber bloss an der Oberfläche. Wenn europäische Staaten einen Schritt weiter gingen und die Rentenalter den Lebenserwartungen anpassten, dann würden sich die impliziten Versprechen verringern und somit auch die Schulden. Konkret: wir arbeiten bis 68! Dieser Wechsel würde die AHV massiv entlasten. Die Umwandlungsproblematik der zweiten Säule würde massiv verbessert. Global betrachtet wäre eine Heraufsetzung des Rentenalters angesichts der demographischen und machtpolitischen Verschiebungen eigentlich eine harmlose Angelegenheit. Die Tragik ist, dass nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa dazu nicht in der Lage zu sein scheint.

Tatsache ist: wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als in Deutschland das Ruhestandsalter von 65 für «Reichsbeamte» eingeführt wurde. Sie schlagen das Pensionsalter 68 vor. Warum nicht 70? Warum nicht eine totale Flexibilisierung, so dass jeder selber entscheiden kann, wie lange er arbeitet?

Das ist politisch nicht machbar. Der gesellschaftliche Fortschritt in den Wohlfahrtsstaaten wurde und wird durch das Rentenalter definiert. Die Sozialdemokratie führt als grosse historische Kraft diese Programmatik der Sozialversicherung und des Rentenalters im Kern ihrer Legitimation. Damit lassen sich jederzeit Massen mobilisieren.

 

Der Sozialdemokratismus ist über die Parteigrenzen hinaus weitverbreitet. Aber das könnte sich in den nächsten Jahren ändern.

Ich habe da meine Zweifel. Die staatliche Sozialversicherung ist, auch von der Grössenordnung her, in Kontinentaleuropa zu einer der wichtigsten Staatsbegründungen geworden.

 

Welches wären nun die wichtigsten Reformschritte für eine nachhaltige zweite Säule jenseits des politischen Mainstreams und wohlfeiler Illusionen?

Das System des Zwangssparens führt zu riesigen Konzentrationen von Geldern. Natürlich gibt es viele Kassen. Aber es gibt keine echte Konkurrenz, ich kann als Beitragszahler und -empfänger die Kassen nicht aussuchen. Neben der Anpassung des Rentenalters müsste eine nachhaltige Reform auf eine Stärkung der Autonomie des Beitragszahlers und -empfängers zielen. Dieser sollte eine stärkere und direkte Verfügungsmöglichkeit über seine Vermögensanlage erhalten – und zwar nicht nur dann, wenn er sie beziehen kann. Das ist das Perverse am System des Zwangssparens. Man zwingt die Leute zum Sparen, aber wenn sie 65 sind, können sie das Ersparte beziehen und damit auf den Putz hauen. Das ist zwar ihr gutes Recht, aber sie beziehen dann nicht selten Ergänzungsleistungen, d.h. sie werden von den Steuerzahlern finanziert – genau das, was man eigentlich mit dem Zwangssparen verhindern wollte. Die Ökonomin Monika Bütler hat dieses Problem der falschen Anreize in einer Studie aufgezeigt. Wenn man zum Entscheid kommt, dass Zwangssparen wegen eines gesellschaftlichen moral hazard notwendig ist, dann müsste eigentlich auch dieser Vorbezug im obligatorischen Teil abgeschafft werden.

 

Einspruch: Wenn ich mein angespartes Geld beziehe, bekomme ich wenigstens, was mir gehört. Ich kann dann als mündiger Bürger einen individuellen Vorsorgeplan erstellen. Wenn ich dies nicht tue, sterbe ich vielleicht früh, und mein Geld wird an andere umverteilt.

Deswegen könnte die Stärkung des Beitragsempfängers darin bestehen, dass er die Anlagestrategie mitbestimmen kann. Dann wüsste der einzelne, nach welchen Kriterien sein Geld angelegt wird.

 

Man könnte verschiedene Kategorien von Risiken einführen: tief, mittel und hoch.

Genau. So wie das beispielsweise in Chile der Fall ist, wo die Pensionskassen fünf Anlagestile anbieten müssen. Man wählt zumindest Risikoprofile und Pensionskassen selbst. Und wenn ich das Geld nicht mit 65 beziehen kann, dann habe ich immerhin die Möglichkeit, die Anlagen selbst zu verwalten und zu strukturieren. Es wäre dann so, als ob ich ein eigenes Bankportefeuille hätte. Man muss im Grunde das Sparen von der Versicherung klar trennen. Das heutige System der zweiten Säule krankt seit seiner Einführung an einer Vermischung dieser beiden Bereiche.

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