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«Es hilft mir viel, dass ich weiss, was meine Mitarbeiter auf den Baustellen machen»
Elham Manea und Josef Wiederkehr, fotografiert von Selina Seiler

«Es hilft mir viel, dass ich weiss, was meine Mitarbeiter auf den Baustellen machen»

Der Unternehmer Josef Wiederkehr und die Politikwissenschafterin Elham Manea sprechen über die Schweizer Identität, die Bedrohung durch den radikalen Islam und den Krisenherd Nahost.

Das vollständige Gespräch ist auch als Podcast verfügbar. 

Elham, in deinem neuen Buch bezeichnest du dich als Mischsalat. Was meinst du damit?

Elham Manea: Ja, ich bin ein sehr bunter, gemischter Salat. Ich bin in Ägypten geboren, mein Vater kommt aus dem Jemen. Er war Diplomat. Mein Bruder und ich sind in verschiedenen Ländern aufgewachsen. Nach einem Aufenthalt in Washington DC kam ich in die Schweiz und lebe nun seit 29 Jahren in Bern – ich war noch nie so lange an einem Ort.

 

Wie hat sich dein Blick auf die Schweiz seit deiner Ankunft verändert?

Manea: Ich bin sehr zufrieden. Am Anfang musste ich mich einfinden. Ich konnte ja die Sprache nicht und wollte arbeiten und weiterstudieren – und habe dann auch hier promoviert. Ich liebe Jemen und Ägypten, das sind meine Wurzeln, und ich bin stolz darauf. Ich weiss aber auch, was es heisst, in einer Demokratie zu leben. Es ist ein schönes Gefühl, in einem Land zu leben, wo man einfach leben kann. Ich liebe die Schweiz.

 

Josef, bist du ähnlich begeistert von der Schweiz?

Josef Wiederkehr: Wer hier aufwächst, ist sich oft gar nicht bewusst, welche Privilegien er hat. Ich hatte das grosse Glück, dass mein Vater sehr reisebegeistert war. Schon als kleines Kind sind wir häufig an exotische Orte gereist, nach Haiti zum Beispiel oder nach Madagaskar. An solchen Orten wird einem schnell bewusst, dass ein Leben wie bei uns überhaupt nicht selbstverständlich ist.

 

Du hast eine Maurerlehre gemacht und danach studiert. Ein ungewöhnlicher Werdegang.

Wiederkehr: Ich komme aus einer Baumeisterfamilie aus dem Limmattal und darf ein mittelgrosses Unternehmen in der vierten Generation leiten. Während der Schulzeit war es mein grosses Ziel, das Gymnasium zu machen; ich habe auch die Aufnahmeprüfung für die Klosterschule Disentis bestanden. Nach drei Monaten in den Bündner Bergen bin ich mit Heimweh zurückgekommen. Ich besuchte dann die Sekundarschule, am Anfang mit dem Ziel, wieder ins Gymnasium zu gehen. Aber nach zwei, drei Jahren hatte ich genug von der Theorie, ich dachte: Jetzt will ich mal richtig arbeiten! Schon als Kind war ich immer auf den Baustellen gewesen. Also entschloss ich mich, eine Maurerlehre zu absolvieren und gleichzeitig die Berufsmittelschule zu besuchen. Es war eine der besten Entscheidungen in meinem Leben.

 

Warum?

Wiederkehr: Es hilft mir heute im Berufsleben sehr viel, dass ich weiss, was meine Mitarbeiter auf den Baustellen machen. Das Leben im Unternehmen macht auch viel mehr Freude, wenn man weiss, was die Mitarbeiter jeden Tag leisten und herstellen. Danach hat es mich dann wieder zur Theorie hingezogen: Ich holte die Matura nach und studierte Wirtschaft an der Universität Zürich, wo ich auch promovierte.

Josef Wiederkehr, fotografiert von Selina Seiler

Wie ist eure Firma entstanden?

Wiederkehr: Gegründet hat sie mein Urgrossvater. Er ist allerdings sehr jung gestorben, weil er lungenkrank war, was damals sehr verbreitet war. Meine Urgrossmutter übernahm die Firma. Sie bekam den Übernamen «Baumeister im Rock» und hatte einen wirklich harten Stand damals. Als Katholiken erhielt die Familie keine Aufträge von protestantischen Familien. Wir können uns heute nicht mehr richtig vorstellen, dass das einmal so war. Mein Grossvater hat das Unternehmen dann weitergeführt, mein Vater hat es vergrössert. Aktuell haben wir rund 70 Mitarbeiter.

«Als Katholiken erhielt die Familie keine Aufträge von
protestantischen Familien.»

 

Wie war das bei dir, Elham? War die akademische Karriere für dich vorgezeichnet?

Manea: Mein Vater wollte nicht, dass ich in eine sozial­wissenschaftliche Richtung gehe. Aber ich wollte das unbedingt und wollte Journalismus studieren. Das war in Kuwait, wo wir damals lebten, aber ein Problem. An der Universität sagte man mir, dieses Fach gebe es aus politischen Gründen nicht – Politikwissenschaften hingegen gebe es. Am Anfang war ich enttäuscht, doch mit der Zeit fand ich Politikwissenschaften immer spannender.

 

Über Jemen hört man in der Schweiz nicht besonders viel. Im Moment ist das Land vor allem in den Schlagzeilen wegen der Huthi-Rebellen, die Israel wiederholt angegriffen haben.

Manea: Die Huthi sind eine Minderheit, die ausgeschlossen und diskriminiert wurde. Als Miliz an der Macht haben sie sich gewandelt und sind heute eine fundamentalistische, radikale Gruppe, die mit eiserner Faust regiert. Die Huthi sehen sich als Teil der Achse des Widerstands gegen Israel: Sie glauben, man müsse Israel attackieren, weil das Land kein Recht habe zu existieren. Die Attacke gegen Israel ist auch eine Strategie der Huthi, um ihre Legitimität im Jemen zu stärken, die sie in jüngerer Zeit mehr und mehr verloren haben. Denn ihre Unterstützer haben erkannt, dass sie viel reden und wenig liefern.

Elham Manea, fotografiert von Selina Seiler

Die «Achse des Widerstands» sind der Iran, die Hisbollah und die Hamas?

Manea: Richtig. Hinzu kommen Milizen im Irak und in Syrien. Der Iran ist sehr geschickt in der Art und Weise, wie er vorgeht. Er will nicht direkt attackieren. Aber die Akteure merken nicht, dass sie die ganze Region in einen Krieg hineinziehen.

Wiederkehr: Hast du das Gefühl, dass die Forschung einen Beitrag leisten kann, Frieden in solchen Regionen zu bringen?

Manea: Das versuche ich mit meiner Forschung, aber es gibt natürlich auch andere Herangehensweisen. In der akademischen Forschung arbeitet man mit ­gewissen Linsen und Paradigmen. Die postkolonialistische Theorie fokussiert fast wie durch ein ­Nadelöhr auf die Rolle des Kolonialismus. Dieser ist selbstverständlich ein wichtiges Vermächtnis, aber die Postkolonialisten neigen etwa dazu, die Rolle des Osmanischen Reiches auszublenden – als wären 400 Jahre Geschichte eine Fussnote. Zur heutigen ­Situation haben viele verschiedene Faktoren geführt, nicht nur die kolonialen Mächte.

 

Zum Beispiel?

Manea: Die sozialen Strukturen und was die lokalen Akteure zuvor und danach getan haben sowie die Frage, was Ideologien wie der Arabismus oder der ­Islamismus dabei verursacht haben, gehören ebenfalls dazu. Der erste Teil meines Ansatzes ist, die Staatsbildung genauer anzuschauen, um zu erkennen, welche Faktoren sie beeinflussen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den regionalen und inter­nationalen Akteuren. Dadurch versteht man, warum die heutigen Friedensansätze im Jemen nicht zielführend sind. Man will einfach ein Ende der Gewalt. Aber die Geschichte dieser Wunden ist tief verankert.

Wiederkehr: Wir waren vor zwei Jahren in Uganda, und ich war wirklich beeindruckt vom Leistungs­willen der Bevölkerung. Trotzdem kommt sie kaum auf einen grünen Zweig. Es gibt keine Rechtssicherheit und nur wenig Demokratie. Das Land ist vom Bürgerkrieg geprägt.

 

Die Schweiz hatte ja auch schon Bürgerkriege, zuletzt 1847.

Wiederkehr: Warum ist es uns Schweizern damals gelungen, uns zusammenzuraufen? Was hat dazu geführt, dass es gelungen ist, ein Wir-Gefühl zu entwickeln? Was könnte man in anderen Ländern anstossen?

Manea: Mein Mann kommt aus Zürich. Als wir nach Bern kamen, wurde er anfangs «der Zürcher» und ich «die Jemenitin» genannt. Mit der Zeit wurden wir mit offenen Armen aufgenommen. Die Schweizer haben starke Gefühle von Zugehörigkeit und Identität, aber sie haben eine Formel entwickelt, mit der das Zusammenleben funktioniert.

 

Warum funktioniert es denn in der Schweiz?

Manea: Die Kompromissfähigkeit ist sehr wichtig. Nach dem Bürgerkrieg 1847 war es entscheidend, dass sich die Sieger human verhielten und keine
Rachegelüste hegten. Das sehe ich in anderen Konflikten nicht.

 

Du hast dich in deiner Forschung auch intensiv mit dem radikalen Islam im Westen befasst. Haben wir diese Bedrohung unterschätzt? Waren wir zu naiv?

Manea: Spätestens nach dem Aufkommen des Islamischen Staats wurde klar, wie schwierig die Situation ist. Als ich zu den Scharia-Räten in Grossbritannien forschte, wollte ich herausfinden, wie diese die Rechte von britischen muslimischen Frauen beeinflussen. Erst dann wurde mir klar, welche wichtige Rolle der politische Islam dabei spielt. In Grossbritannien spielt die Kirche traditionell eine grosse Rolle, zugleich ist man sehr liberal und offen. Also hat man alle Rechte der christlichen Kirche auch anderen Glaubensgruppen gegeben. Man glaubte, bei diesen Gruppen handle es sich um Vertreter der muslimischen Zivilgesellschaft.

 

Dabei waren es politische Gruppen.

Manea: Sie waren sehr ideologisch und fundamentalistisch geprägt, während die meisten Muslime diese fundamentalistische Lesart der Religion nicht teilten. Dadurch, dass man diesen Gruppen umfassende Rechte gegeben hat, zum Beispiel an den Schulen, ­erlangten sie immer mehr Einfluss. Heute hören wir in den Nachrichten über rechtsextreme Gewalt in Grossbritannien. Diese ist nicht überraschend. Die Politik, die man über 50 Jahre lang verfolgt hat, hatte nie das Ziel, als Gemeinschaft zusammenzukommen.

 

Josef, du bist in der Mitte-Partei. Auf Social Media bezeichnest du dich aber immer noch als CVP-­ Mitglied. Was bedeutet dir das C, das Christliche?

Wiederkehr: Ich bin grundsätzlich sehr liberal geprägt. Trotzdem bin ich überzeugt, dass es einen gewissen Ausgleich braucht und Leute, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, Unterstützung benötigen, sodass wir den sozialen Frieden bewahren können. Ich bin mir aber auch bewusst, dass unser hoher Lebensstandard ohne Leistungsbereitschaft und Wettbewerb nicht möglich ist. Die Mitte vereint beide Seiten; ich fühle mich in dieser Partei sehr wohl.

 

Du stehst aber schon eher am rechten Flügel der Partei.

Wiederkehr: Ich bin sehr bürgerlich und ich musste innerhalb der Partei stets kämpfen für meine Positionen, aber das gehört dazu. Gute Lösungen entstehen auch aus dem Dialog.

 

Du hast vorhin erwähnt, dass früher die Protestanten den protestantischen Firmen und die Katholiken den katholischen Firmen Aufträge gaben und dass diese Unterschiede heute im Alltag keine Rolle mehr spielen. Wird der Islam einen ähnlichen Säkularisierungsprozess durchmachen wie das Christentum?

Wiederkehr: Das Problem ist weder die Religion noch die Konfession. Probleme gibt es, wenn es radikal oder fundamentalistisch wird. Unsere Mitarbeiter kommen aus vielen Teilen der Welt, sehr viele haben einen muslimischen Hintergrund. Bei 99,9 Prozent gibt es absolut keine Probleme. Ich habe auch kein Problem, wenn ein Angestellter Ramadan machen will – dann finden wir eine Lösung. Die Frage ist: Wie geht man miteinander um? Ich bin in Dietikon aufgewachsen, das schon früh einen hohen Ausländeranteil hatte. Am Anfang kamen die Italiener, dann die Ex-Jugoslawen, die Spanier und die Portugiesen. Ich habe Dietikon immer als sehr friedlich erlebt. Der Hauptgrund dafür war wahrscheinlich, dass keine Nation die Oberhand hatte. Man war gezwungen, Rücksicht aufeinander zu nehmen. Das ist wahrscheinlich ein Schlüssel, um auch in Zukunft friedlich zusammenzuleben.

Manea: Die Radikalisierung und der Fundamentalismus sind als ernsthaftes Problem zu betrachten, das wir gemeinsam lösen müssen.

 

Elham, du setzt dich für einen humanistischen Islam ein und bist unter anderem in einer liberalen Moschee in Berlin involviert.

Manea: Man kann mich als Pop-up-Imamin bezeichnen (lacht). Ich werde als Imamin eingeladen nach Berlin, Kapstadt, Oxford, London und auch nach Zürich. Innerhalb des Islams stehe ich gewissermassen links. Ich möchte zusammen mit den Männern beten; ich wünsche mir mehr Moscheen, die das anbieten. Ich habe aber auch gute Freunde, die sagen, dass sie nicht mit mir beten wollen. Da sage ich: «Okay, dein Problem, nicht meins.»

«Man kann mich als Pop-up-Imamin bezeichnen.»

 

Bist du zuversichtlich, was den Islam angeht?

Manea: Der Islam ist eine Religion mit verschiedenen Traditionen und Interpretationen. Erst wenn man die eigene Religion genau kennt, kann man radikale Tendenzen und die reduzierte Argumentation von Fundamentalisten abwehren. Zum Beispiel wenn es um Antisemitismus geht: Im Koran gibt es drei Diskurse über die Juden. Der letzte ist sehr feindselig, der erste aber sehr offen und tolerant. Die Frage ist, an welcher Seite wir uns orientieren. Wir müssen auch den historischen Kontext verstehen.

Wiederkehr: Die Frage ist auch, wie weit die Toleranz gehen darf. Wichtig ist, dass wir klarmachen, dass wir ein geltendes Rechtssystem haben. Wer etwas daran ändern will, hat demokratische Möglichkeiten mitzubestimmen.

 

Die demokratischen Rechte leisten letztlich einen Beitrag gegen die Radikalisierung.

Wiederkehr: Davon bin ich fest überzeugt. Unzufriedene Leute haben jederzeit ein Ventil, mit dem sie ihre Meinung zur Debatte stellen können. Hoffentlich sind sie schlau und akzeptieren auch, wenn die Mehrheit eine andere Meinung hat.

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