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«Es gibt keine Sparte, die wir nicht abdecken»
Madeleine Herzog, fotografiert von Daniel Jung.

«Es gibt keine Sparte, die wir nicht abdecken»

Madeleine Herzog, Leiterin der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich, erläutert, warum es aus ihrer Sicht Kultursubventionen braucht und wie über deren Vergabe entschieden wird.

 

Wie geht es der Zürcher Kultur nach zwei Jahren Coronakrise?

Nach unserem Eindruck herrscht eine Art Erschöpfung vor. Anderen Branchen geht es aber ähnlich, etwa der Gastronomie oder dem Fitnessbereich. Es hat die Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen zermürbt, dass sie während zweier Jahre immer wieder umplanen mussten und schliesslich doch 80 Prozent der Planung nicht umgesetzt werden konnten. Man hat unzählige Schutzkonzepte geschrieben und Programme dauernd umgestellt. Alle hoffen jetzt, dass es besser wird, manche kämpfen gerade noch mit Erkrankungen und müssen deshalb Vorstellungen absagen.

Erschöpfung ist nicht schön, aber doch weniger dramatisch als das grosse Absterben, das teilweise für den Kulturbereich erwartet wurde.

Man muss unterscheiden zwischen Kulturunternehmen und Kulturschaffenden. Bei den Kulturunternehmen, mit denen wir in Kontakt stehen, haben wir so gut wie keine Meldungen, dass man aufgegeben habe. Bei den Kulturschaffenden sieht das jedoch anders aus. Hier haben wir von vielen gehört, dass sie sich umgeschult und Stellen in anderen Bereichen gesucht haben. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Effekt im Eventbereich: Hier suchen die Unternehmen nun händeringend nach qualifiziertem Personal.

Wie viele Corona-Hilfsgelder hat Ihre Fachstelle in den letzten zwei Jahren ausbezahlt?

Insgesamt sind wir heute, wenn man die Bundes- und Kantonsmittel zusammennimmt, im Kanton Zürich bei 130 Millionen Franken. 2020 waren es 60,5 Millionen gewesen und für 2021 bisher rund 70 Millionen – noch sind hier nicht alle Gesuche erledigt. Die Summe wird also noch ein wenig höher werden.

Was wurde damit erreicht?

Nur von einigen wenigen Unternehmen, mit denen wir regelmässig in Kontakt stehen, haben wir die Meldung bekommen, dass sie den Betrieb einstellen. Wir haben deshalb das Gefühl, dass das Instrument der Ausfallsentschädigung in der Grundtendenz gut gegriffen hat. Das hauptsächliche Ziel, die Bewahrung der kulturellen Vielfalt, wurde erreicht.

Wie sieht es bei den Selbständigen und Freiberuflichen aus?

Auch da gibt es Ausfallsentschädigungen. Sie konnten abgesagte Veranstaltungen und Projekte eingeben und ab Herbst 2020 ähnlich wie die Betriebe Einnahmen und Ausfälle auf Basis der Vorjahre geltend machen. Hier hat man gesehen, wie prekär viele Kunstschaffende unterwegs sind und wie wenig finanzielle Mittel ihnen zur Verfügung stehen. Und wenn man immer schon wenig Geld hatte, sind 80 Prozent davon noch weniger, und deshalb gab es diese Absatzbewegungen aus der Kultur. Wohin die Leute abgewandert sind, lässt sich oft nicht sagen, weil sie keine Pflicht haben, sich bei uns zu melden, wenn sie den Tätigkeitsbereich wechseln.

«Ohne staatliche Kulturunterstützung

hätten wir kein Schauspielhaus,

kein Opernhaus, kein Theater Neumarkt,

keine Tonhalle, aber auch keine freie Szene.

Die Kultur wäre viel ärmer.»

Unabhängig von Pandemien: Warum braucht Kultur staatliche Subventionen?

Kultur ist ein meritorisches Gut. Der Staat als Ganzes hat ein Interesse daran, dass es angeboten wird, weil es wichtige gesellschaftliche Wirkungen hat. Kultur ist identitätsstiftend, indem wir uns als Individuen mit Filmen, mit Büchern und mit Figuren auseinandersetzen, um die eigene Identität zu ergründen. Kultur hat eine integrative Wirkung: Man kann in andere Welten, andere Kulturen und andere Menschen eintauchen. Sie ist auch eine Reflexion der Gegenwart, ein gesellschaftlicher Seismograf. Die Kultur hat aber auch mit Standortattraktivität, mit der Lebensqualität an einem Ort und der Ausstrahlung einer Region zu tun. Der ehemalige ETH-Präsident Lino Guzzella sagte einmal: «Die klügsten Köpfe kommen in die coolsten Städte.» Kultur ist ein Faktor, der die Leute anzieht. Alle diese Wirkungen und Leistungen werden vom Markt jedoch nicht entschädigt. In diesem Sinn haben wir in gewissen Bereichen der Kultur ein partielles Marktversagen, das selbst aus liberaler Sicht ein Eingreifen oder Unterstützen von staatlicher Seite rechtfertigt.

Kulturelle Vielfalt gilt gemäss Leitbild Kulturförderung als Grundprinzip. Wie definieren Sie diese?

Für uns ist es wichtig, dass es ein breites Spektrum gibt von allen Sparten, von populären Genres bis hin zu experimentellen Nischenangeboten. Wenn man unseren Tätigkeitsbericht durchblättert, ist die Bandbreite sehr eindrücklich. Gemäss unserem Auftrag steht das professionelle Kulturschaffen im Fokus, wir unterstützen aber auch Laien. Bei der Musik zum Beispiel ist das Spektrum sehr breit: von moderner Pop-Rock-Musik über Jazz und Chorgesang bis hin zum Neuen Zürcher Orchester.

Welche Art der Kultur unterstützt Ihre Fachstelle – und welche nicht?

Es gibt keine künstlerische Sparte, die wir nicht abdecken. Die Filmförderung läuft nicht direkt über die Fachstelle, sondern über die Filmstiftung. Wir fördern aber nur, was ohne staatliche Unterstützung nicht funktionieren würde. Selbsttragende oder sogar gewinnbringende Sachen bekommen keine Unterstützung. Das heisst jedoch nicht, dass solche Veranstaltungen keine oder nicht gute Kultur wären.

Wenn es die staatliche Kulturunterstützung nicht gäbe, wie sähe dann die Zürcher Kultur aus?

Die Vielfalt würde verlorengehen. Das, was das breite Pu­blikum bedient – Kino, Popkonzerte, Musicals oder Comedy –, würde es weiterhin geben. Aber all das, was nur ein kleineres Publikum erreicht, was in kleineren Räumen spielt oder sehr personalintensiv ist, würde nicht mehr stattfinden. Wir hätten kein Schauspielhaus, kein Opernhaus, kein Theater Neumarkt, keine Tonhalle, aber auch keine freie Szene. Die Kultur wäre viel ärmer.

Was machen Sie zur Sicherung der Qualität?

Wir sichern die Qualität über unsere Auswahl. Wir erhalten im Moment rund 1800 Projektgesuche pro Jahr und unterstützen 800 davon. Es findet dabei eine fachliche Qualitätsprüfung statt, bei der wir eine Reihe von Kriterien berücksichtigen: Qualität, Professionalität, Eigenständigkeit, Originalität, Motivation, Dringlichkeit und Relevanz – inhaltliche, künstlerische sowie gesellschaftliche. Daneben sind auch kulturpolitische Aspekte wichtig wie Regionalität, Teilhabe und Strahlkraft. Die Kulturförderung hat das Ziel, dass die Kultur im gesamten Kanton stattfindet. Langfristig unterstützen wir über hundert Kulturinstitutionen im gesamten Kanton mit Betriebsbeiträgen. Für die Qualitätssicherung ist ebenfalls wichtig, dass nach dem Entscheid, ein Projekt zu unterstützen, das Resultat von einem Mitglied der Fachstelle oder der Kulturförderungskommission auch vor Ort angeschaut wird. Es gibt schriftliche Visionierungsberichte, die für allfällige Folgeprojekte eine Rolle spielen. Natürlich gehört es auch zur Aufgabe der Fachstelle, die Künstler darüber aufzuklären, weshalb ein Projekt nicht unterstützt wurde.

Wer entscheidet, was gefördert wird?

Wir haben eine vom Regierungsrat gewählte Kulturförderkommission mit Fachleuten aus dem Kulturbereich. Die Kommission teilt sich in Fachgruppen zu den verschiedenen Sparten auf: Literatur, Musik, Theater und Tanz sowie bildende Kunst. Die Fachgruppen schauen die Gesuche an und fällen die Entscheide, was unterstützt werden soll.

Gilt das Prinzip der Vielfalt auch für die politische Ausrichtung der Produktionen?

Kultur ist in den letzten Jahren politischer geworden, indem sie mehr politische Themen aufgreift – jedoch nicht in dem Sinne, dass sie parteipolitisch geworden wäre. Für uns ist letztlich die kulturelle Vielfalt wichtig, nicht die politische. Wir machen keine Politik und moderieren keine Politik.

Im letzten Herbst sorgte die Aktion «Big Dreams» rund um den als «Carlos» bekannt gewordenen Gefängnisinsassen Brian K. auch politisch für Aufsehen.

Das war ein Theaterprojekt und ist von der entsprechenden Fachgruppe beurteilt worden. Das Dossier wurde sorgfältig geprüft und die Voten dieser Fachgruppe waren sehr eindeutig. Die beteiligten Leute waren ausgewiesene Fachleute aus der Kultur- und Theaterszene. Es waren aber auch Leute dabei, die Bezug zur sozialen Arbeit haben und die in diesem Sinne ein fachliches Know-how einbrachten. Gewisse Teile des Projekts haben am Theater Neumarkt stattgefunden, das eine Tradition mit diskursiven Formaten hat. Die Fachstelle kann dazu stehen, dass sie das Projekt unterstützt hat, der Entscheid in der Fachgruppe war einstimmig. Und es ist doch ein sehr reifes Zeichen von einem Staat, dass er etwas fördert, was ihn und seinen Strafvollzug kritisiert.

«Das Opernhaus ist kein Klotz,

sondern eine Institution,

auf die wir sehr stolz sind.»

Die Stadt- und Landbevölkerung profitiert in unterschied­lichem Masse von Kulturförderung. Wie steht es um die ­Institutionen in den ländlicheren Gegenden des Kantons?

Die Häuser in der Stadt werden auch von der Landbevölkerung besucht. Beim Opernhaus kommt das Publikum zu 25,3 Prozent aus der Stadt, zu 33,6 Prozent aus dem Kanton Zürich, zu 30,9 Prozent aus der übrigen Schweiz und zu 10,2 Prozent aus dem Ausland. Die Aussage, dass die Stadt übermässig profitiere, trifft so gesehen nicht zu. Gleichzeitig setzen wir uns für ein kulturelles Angebot im ganzen Kanton ein. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass man mit einem kulturellen Angebot in den Regionen ein anderes Publikum erreicht als in der Stadt. Wenn beispielsweise Mike Müller mit seinem Stück «Die Gemeindeversammlung» in Stammheim auf der «Hirschen»-Bühne auftritt, kommt ein anderes Publikum, als wenn er es im «Millers» in Zürich aufführt. Deshalb unterstützen wir Kulturinstitutionen im ganzen Kanton, wie das Kino Orion in Dübendorf, das Übersetzerhaus Loore in Hinwil oder das «Central» in Uster.

Die Kulturausgaben der Direktion der Justiz und des Innern beliefen sich im Jahr 2020 auf insgesamt 161,13 Millionen Franken. Rund die Hälfte, 80,8 Millionen, ging ans Opernhaus. Ist das Opernhaus ein Klotz am Bein?

Nein. Wenn das Opernhaus 60 Millionen kosten würde, hätten wir nicht 20 Millionen für andere Aufgaben. Bei den 160 Millionen ist zudem noch der Kulturlastenausgleich an Zürich und Winterthur drin. Wenn man das abzählt, landet man bei 111 Millionen. Der relative Anteil des Opernhauses an den Kulturausgaben ist also noch höher. Trotzdem ist das Opernhaus kein Klotz, sondern eine Institution, auf die wir sehr stolz sind. Es gibt seit Mitte der 90er-Jahre eine Aufgabenteilung zwischen Stadt und Kanton Zürich. Seither ist das Opernhaus ganz in der Zuständigkeit des Kantons. Kunsthaus, Schauspielhaus und Tonhalle liegen dagegen in der Verantwortung der Stadt. Der Vorteil dieser Regelung ist, dass der Kanton allein entscheiden kann, wie er mit dem Opernhaus verfahren will, und die Stadt, wie sie mit ihren In­stitutionen umgehen will. Das ist sinnvoll. So entsteht ­jedoch für uns die Herausforderung zu erklären, wieso 80 Millionen ins Opernhaus gehen – und der nächsttiefere Beitrag, 4,5 Millionen, an die Filmstiftung fliesst. Ein Modell mit geteilten Verantwortungen wäre in bezug auf die Höhe der Beiträge einfacher zu erklären. Es ist für den Standort Zürich aber unverzichtbar, dass man diese vier Leuchttürme hat.

Es gibt den Vorschlag, Kulturgutscheine an die Bevölkerung zu verteilen, statt Projekte und Institutionen zu fördern. Der Regierungsrat steht einem aktuellen Vorstoss im Kantonsrat, der Motion «Für eine gerechte Kulturverteilung», ablehnend gegenüber. Aber wäre mehr Markt nicht gut für die Kultur?

Für uns wäre das ein zu radikaler Systemwechsel. Die Qualität und die Vielfalt, die wir heute haben, könnte nicht gehalten werden. Wir haben das am Beispiel des Opernhauses durchgerechnet. Es hat einen Gesamtaufwand von etwa 125 Millionen, davon stammen 80 Millionen aus Subvention, 10 Millionen sind Sponsoringgelder, 25 Millionen Ticketeinnahmen und 5 Millionen anderes. Das Opernhaus hat eine Auslastung von 90 Prozent. Aufgrund der hohen Auslastung könnte man die Zuschauerzahl kaum erhöhen, denn das Haus ist voll. Demnach müssten die Tickets massiv teurer werden, nämlich um das Vierfache. Wenn sich zuvor ein Gutverdienender ein Ticket für 200 Franken leistete, so würde dieses ohne Subventionen 800 Franken kosten – abzüglich eines möglichen Gutscheins. Das gilt auch für die anderen grossen Häuser: Solch personalintensive Leuchttürme kann man mit diesem Gutscheinsystem nicht erhalten. Zudem sind diese grossen Häuser aus ihrer Geschichte originär liberal-bürgerliche Institutionen. In ihnen hat sich das bürgerliche Selbstverständnis ausgebildet. In diesem Sinne würden die Bürgerlichen ihre eigenen Institutionen torpedieren.

Auf welches Kulturereignis freuen Sie sich in diesem Sommer?

Auf das Literaturfestival im Botanischen Garten. Das ist seit Jahren ein Bijou im Kulturleben der Stadt Zürich – einerseits wegen dem sehr attraktiven Programm, andererseits wegen der tollen Umgebung. Dann auf die Premiere der sommerlichen Open-Air-Tournee des Theaters Kanton Zürich. Die Freilichtproduktionen haben eine spezielle Atmosphäre. Und dann die «Oper für alle»: Es ist immer schön zu beobachten, wie die Leute zu Tausenden auf den Sechseläutenplatz strömen, teils mit den eigenen Gartenstühlen, um dem Spektakel beizuwohnen. Dieses Jahr gibt es hoffentlich wieder einen vollbesetzten Platz.

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