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«Es fehlt oft der selbstkritische Blick»
Toni Stadler, Bild aufgenommen am 11. Februar 2016 in Zuerich. (KEYSTONE/René Ruis)

«Es fehlt oft der selbstkritische Blick»

Toni Stadler hat 25 Jahre für internationale Organisationen gearbeitet. Er kritisiert, dass diese unkontrolliert wachsen und Eigeninteressen wichtige Reformen verhindern.

 

Toni Stadler, in der Ukraine spielt sich eine Tragödie ab. Millionen von Menschen haben ihr Land verlassen und suchen Zuflucht im Ausland. Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen?

Die grösste Herausforderung ist es, den Krieg zu beenden. Der Einfall in die Ukraine ist ein Rückfall in die Zeit, bevor es die UNO-Charta gab. Bei der Gründung der UNO 1945 hielten die Mitglieder fest, dass jedes Land unverletzbare Grenzen hat. Die UNO ist dafür verantwortlich, dass ein Staat nicht in ein anderes Land einfällt, und falls das dennoch geschieht, hat der UNO-Sicherheitsrat die Macht, gegen den Angreifer militärisch vorzugehen. Das funktionierte nur zweimal: im Koreakrieg 1950 und im zweiten Golfkrieg 1990.

Wieso funktioniert das heute nicht?

Weil jedes der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat ein Vetorecht besitzt. Russland hat im Sicherheitsrat den Platz der Sowjetunion übernommen und kann jeden Entscheid blockieren, weshalb der UNO-Sicherheitsrat im Fall der Ukraine nicht funktioniert. Das System des Sicherheitsrats müsste revidiert werden.

Wie?

Der wichtigste Ansatz wäre, die Privilegien der fünf Vetomächte aufzuheben und Mehrheitsentscheide einzuführen.

Damit müssten diese aber einverstanden sein.

Ja, aber es ist nötig. Als zweiten Schritt müsste man den Kreis der ständigen Mitlieder des Sicherheitsrates erweitern und wirtschaftliche Schwergewichte wie Japan, Deutschland, Indien und Brasilien einbeziehen. Wenn eine solche Reform nicht zustande kommt, könnten regionale Sicherheitsräte geschaffen werden: ein asiatischer, ein afrikanischer, ein amerikanischer, ein europäischer. Regionale Sicherheitsräte mit globalem UNO-Mandat würden die Nachbarländer in die Pflicht der Konfliktlösung nehmen.

Wie bewerten Sie generell die Rolle der UNO im Ukraine-Krieg?

Die politische UNO spielt leider eine schwache Rolle. Generalsekretär António Guterres jammert alle paar Tage, aber Ideen, Vorschläge, was kurzfristig und längerfristig zu tun wäre, hat er offenbar nicht.

Wie schätzen Sie die Flüchtlingsthematik ein?

Die ukrainischen Kriegsvertriebenen werden in Europa grosszügig aufgenommen, was richtig ist. In erster Linie sollten das die Nachbarstaaten mit finanzieller Unterstützung der internationalen Gemeinschaft tun. Bemerkenswert ist, dass die Kriegsvertriebenen aus der Ukraine nicht auf Grundlage der Flüchtlingskonvention aufgenommen werden, sondern aufgrund des Schutzstatus S, der während des Jugoslawienkrieges von der EU geschaffen worden war. Der Schutzstatus S ist kein Flüchtlingsstatus, er ist ein temporärer Status für Kriegsvertriebene. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR), dessen Mandat auf der Flüchtlingskonvention von 1951 basiert, spielt deshalb in diesem Fall nicht die Hauptrolle.

Sie haben sich für eine Neuausrichtung der Flüchtlingskonvention ausgesprochen. Warum?

Man muss unterscheiden zwischen akut durch Kriege vertriebenen Menschen, Verfolgten und Armutsflüchtlingen. Für Armutsflüchtlinge sollten regionale oder lokale Lösungen gesucht werden, etwa durch gezieltere Entwicklungszusammenarbeit. Etwa 300 Millionen Afrikaner würden gerne nach Europa auswandern; dass sie nicht alle aufgenommen werden könnten, ist offensichtlich. Die Flüchtlingskonvention basiert auf Voraussetzungen der 1950er-Jahre, die andere waren als heute. Es ist politisch unhaltbar und würde einen Rutsch nach extremrechts auslösen, wenn jeder Mensch aus einem Land mit einer menschenrechtsverletzenden Regierung in Europa Asyl beantragen könnte.

«Etwa 300 Millionen Afrikaner würden

gerne nach Europa ­auswandern;

dass sie nicht alle aufgenommen

werden könnten, ist ­offensichtlich.»

Aber wäre es nicht menschlicher?

Für selbsternannte Anwälte der Menschlichkeit ist jeder, der für Alternativen zum Umzug der Armen nach Europa eintritt, ein Unmensch. Doch um den Armen in Mali, Niger oder Tschad zu helfen, sollten wir das tun, was wir in den vergangenen Jahrzehnten gemacht haben, nämlich wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit, aber besser.

Warum bleibt eine Reform der Flüchtlingskonvention aus?

Die Flüchtlingskonvention war 1951 ein grosser Fortschritt, indem sie festlegte, dass rund 12 Millionen deutsche Rückkehrer, Wolga- und Sudetendeutsche, in Westdeutschland gleichbehandelt werden mussten wie die Einheimischen, egal, welcher Religion sie angehörten oder welche Sprache sie redeten. Damit war die Flüchtlingskonvention zum Inbegriff der Menschlichkeit geworden. Anfänglich galt sie nur für Ereignisse vor 1951 in Europa. 1967 hatte man sie dann mit einem Protokoll auf Unterzeichnerstaaten der ganzen Welt ausgedehnt, ohne sich Gedanken über eine künftige Sogwirkung auf Armutsmigranten zu machen. Das rächt sich heute.

Nun könnte man sagen: Da sich die Verhältnisse geändert haben, muss man die Konvention an die aktuellen Bedingungen anpassen.

Das geschieht nicht, weil vor allem Deutschland sich aus historischen Gründen scheut, die Konvention in Frage zu stellen. Das UNHCR möchte auch nichts ändern. Als ich dort arbeitete, war die Hälfte des Managements – aus Angst, die Konvention werde künftig einfach umgangen – für eine Revision. Doch die konservativere Hälfte behielt die Oberhand, mit dem Argument: «Wenn wir die Konvention zur Revision freigeben, erhalten wir eine schlechtere mit einer reduzierten Rolle des UNHCR.»

Das UNHCR hat also auch Eigeninteressen.

Natürlich. Das UNHCR hat gegen 17 000 Angestellte mit guten Salären, Pensionskassen und Privilegien vergleichbar denen von Diplomaten, dies steuerbefreit.

Sie haben 25 Jahre für oder mit internationalen ­Organisationen gearbeitet. Hat sich Ihre Sicht auf sie im Laufe der Zeit verändert?

Beim Übertritt in eine neue Organisation kann man nicht alles auf den Kopf stellen, sondern muss zuerst lernen, darin zu arbeiten. Sobald ich jeweils eine Organisation verlassen hatte, wurde mir aus der Distanz bewusst, was man in dieser Organisation hätte machen können. Ich bin gegenüber fast allen internationalen Organisationen heute kritischer eingestellt – weil sie weniger leisten, als sie könnten. In multilateralen Organisationen der UNO fehlt oft der selbstkritische Blick, wie auch in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes. Buchprüfung durch unabhängige Auditfirmen, wie sie jeder Konzern hat, gibt es nicht. Das führt zu ­einer ineffizienten Nutzung der Steuergelder. Nicht, dass Geld gestohlen würde, sondern Mit­arbeiter reisen zu oft, veranstalten in teuren Hotels Seminare oder beziehen zu hohe Tages­zulagen. Sehr viele UNO-Mitarbeiter sind über Jahre hinweg auf «Consultancy»-Basis angestellt und verdienen so zu viel. Missmanagement gibt es auch, wenn bei Einkäufen keine Ausschreibungen gemacht und stattdessen das erstbeste, meist teure Angebot akzeptiert wird.

Vielleicht ist es ein grundsätzliches Problem internationaler Organisationen, dass die Kontrolle durch die Geldgeber mangelhaft ist. Jene, die sie finanzieren, nämlich die Steuerzahler, sind weit weg vom Geschehen.

In einem Privatbetrieb hat der CEO die effiziente Verwendung von Geldmitteln stärker im Auge als bei internationalen Organisationen. Einen Konkurrenzdruck gibt es nicht. An der Spitze von UNO-Sonderorganisationen steht jeweils ein Governing Council mit Vertretern der Länder, die am meisten Beiträge zahlen. Zu meiner Zeit beim
UNO-Entwicklungsprogramm UNDP wurde der grösste Geldgeber Japan von einem Botschafter vertreten, der kaum Englisch sprach und meist das machte, was das Management vorschlug. Keiner der Botschafter war je in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Dass dies die Kontrolle der leitenden Direktoren der Organisation schwierig macht, ist offensichtlich.

Ruandische Flüchtlinge warten 1996 auf dem Markt von Gisenyi auf den Transport nach Kigali. Im Hintergrund ein Lastwagen der Vereinten Nationen. Bild: Jerôme Delay/AP Photo/Keystone.

Sie sagten, dass es zu viele internationale Organisationen gebe. Warum?

Die Weltbank-Gruppe eingeschlossen, zählt die UNO heute gegen vierzig Unterorganisationen. Dieses Geflecht ist während der vergangenen Jahrzehnte stetig gewachsen; Neues kam hinzu, Altes wurde nicht abgeschafft. Organisationen, die nur temporär geplant waren, etwa UNHCR oder UNDP, wurden permanent und wuchsen weiter. Doppelspurigkeiten, etwa zwischen UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM), sind häufig. Auch mit dem Klimawandel beschäftigen sich mehrere UNO-Organisationen parallel.

Wer bestimmt eigentlich, was internationale Organisationen machen?

Die einzelnen Mandate stammen entweder von der UNO-Generalversammlung oder vom Wirtschafts- und Sozialrat (Ecosoc). Im Grunde gibt es aber niemanden, der eine Auslegeordnung aller UNO-Organisationen machen und bestimmen könnte, was jede von ihnen zu tun hat. Denn jede von ihnen hat ihre eigene Gebergruppe, eigene Organisationsstrukturen und bestimmt damit weitgehend selbst, wie sie ihr Mandat interpretiert. Theoretisch hat der UNO-­Generalsekretär eine Koordinationsrolle. Wenn beispielsweise in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Chefwechsel ansteht, bekommt er eine Shortlist und kann daraus einen Kandidaten oder eine Kandidatin auswählen. Praktisch muss er darauf achten, dass seine Wahl weder die USA noch China, noch die EU, noch ein gewichtiges anderes Geberland ärgert.

Dabei basiert die UNO ja eigentlich auf dem Prinzip, dass alle Länder das gleiche Gewicht haben.

Hier muss man drei Ebenen unterscheiden. In der UNO-Generalversammlung hat Tonga tatsächlich das gleiche Gewicht wie die USA. Doch der Einfluss der Generalversammlung ist durch die UNO-Charta stark eingeschränkt. Zwar hat sie ein gewisses moralisches Gewicht, kann auch Resolutionen verabschieden, die jedoch nicht bindend sind. Die zweite Ebene sind die Governing Councils («Aufsichtsräte») der einzelnen UNO-Organisationen. Darin sitzen die wichtigen Geldgeber, was dazu führt, dass die 38 OECD-Länder dort sehr viel mehr Gewicht haben als etwa die 54 afrikanischen Staaten.

«In der Praxis habe ich kein

Projekt der Unesco gesehen,

welches Bildung und

Wissenschaft in Entwicklungsländern

weitergebracht hätte.»

Und die dritte Ebene?

Das ist der Verwaltungsapparat jeder UNO-Organisation selbst. Die Chefs in den Top­etagen wollen angesehen sein und Einfluss haben auf das weltweite UNO-System in mehr als 200 Nationen einerseits und auf die Minister der Mitgliedsstaaten andererseits, welche die Beiträge an UNO-Organisationen bewilligen.

Spürt man als Mitarbeiter die Machtkämpfe auf diesen drei Ebenen?

In den Einsatzländern sind es nicht eigentlich Machtkämpfe, eher Rivalitäten. Ich erlebte das beispielsweise an UNO-Koordinationssitzungen in Kigali kurz nach dem Völkermord, wo die Botschafter der Geber und die Chefs der UNO-Organisationen sich wöchentlich trafen. In Sitzungszimmern stand eine ungeschriebene Hierarchie im Raum. Wer wichtiger war, sah man nur schon an seiner Körperhaltung. Weil das UNHCR ein Jahresbudget von 15 Milliarden Dollar hatte, das UNDP aber nur 4 Milliarden, redete der UNDP-Landeschef der Hochkommissarin für das Flüchtlingswesen nicht drein. Doch kontroverse Meinungen oder gar rhetorischen Streit gab es zwischen den Chefs von UNO-Organisationen nie.

Wie würden Sie die Kultur beschreiben, die in internationalen Organisationen herrscht?

Nachdem ich in rein schweizerischen Organisationen gearbeitet hatte, erlebte ich die Zusammenarbeit als neu und spannend. Beim UNDP hatte ich einen koreanischen Vorgesetzten, später einen japanischen und dann einen aus Togo. Es herrschte eine selbstverständliche internationale Atmosphäre, was mich als jungen Mann beeindruckte. Dass man mit Kollegen mit ganz anderen kulturellen Hintergründen professionell verkehrte, gefiel mir.

Zugleich gab es wahrscheinlich viele Ähnlichkeiten.

Durchaus. Zahlreiche UNO-Mitarbeiter aus nichtwestlichen Ländern hatten im Westen studiert. Viele entstammten der Elite ihres Landes. Sie wurden von ihren Eltern zur Ausbildung nach London geschickt, auch weil es vielerorts als schick galt, danach in die UNO zu gehen. Ein Teil von ihnen war sehr motiviert, an der Verbesserung der Welt tatkräftig mitzuarbeiten, während anderen jedes Kosten-Nutzen-Denken fremd war. Es gab also durchaus Ähnlichkeiten mit dem Personal von Entwicklungsorganisationen in der Schweiz.

Was können internationale Organisationen bewirken?

Nicht alle UNO-Organisationen befassen sich mit Problemen wie Flüchtlingskrisen oder dem Klimawandel. Viele spielen eine wichtige Rolle im Wissenstransfer. Die WHO etwa verbreitet das medizinische Fachwissen der grossen Universitäten auf der ganzen Welt. Wissen also, wie man beispielsweise ein Spital organisiert oder eine bestimmte Operation durchführt. Darüber spricht kaum jemand, weil man es für selbstverständlich hält. Es gibt aber auch Organisationen, beispielsweise die Unesco, die man reformieren oder gar ersetzen sollte. Nicht wegen ihrem Mandat, Bildung, Wissenschaft und Kultur auf der ganzen Welt miteinander in Kontakt zu bringen und zu fördern – das bleibt wichtig. In der Praxis habe ich kein Projekt der Unesco gesehen, welches Bildung und Wissenschaft in Entwicklungsländern weitergebracht hätte. Die Weltkulturerbestätten bringen den Namen der Unesco in Verbindung mit alten Ruinen und schützenswerten Landschaften wie dem Lavaux. Diese könnten von den meisten Ländern – mit einer Tourismussteuer finanziert – durchaus selbst geschützt werden.

Was sollte die Unesco denn machen?

Die Unesco könnte in der Bildung sehr viel tun. Die Naturwissenschaften, insbesondere das säkulare wissenschaftliche Denken, werden an vielen Schulen im Nahen Osten (unter anderem in Saudi-Arabien) und in Afrika (etwa im Sahel) vernachlässigt. Wichtig wären auch standardisierte Unesco-Schulbücher über Physik, Chemie, Biologie und so weiter in allen Landessprachen von Entwicklungsländern.

Es gibt realpolitische Grenzen für die Möglichkeiten ­internationaler Organisationen. Wenn China nicht will, dass die WHO die Ursprünge des Coronavirus erforscht, dann passiert das auch nicht.

Sicher, Regierungen pochen auf ihre Souveränität. Andererseits ist der gute Ruf einer internationalen Organisation auch ein Machtfaktor, der Einfluss verleiht. Hätte die WHO das Image einer kompetenten, effizienten Organisation, hätte sie mehr Rückhalt in Geber- und Empfängerländern, könnte also durch China nicht einfach herumgeschubst werden wie geschehen. Aber die WHO stand schon vor der Pandemie in der Kritik. Je mehr Fehler eine UNO-Organisation macht, desto verletzlicher wird sie und desto weniger erreicht sie mit unserem Steuergeld.

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