Es braucht den Aufstand der
liberalen Justizministerin
In der Coronakrise scheint Bundesrätin Karin Keller-Sutter die Freiheit des Mittelstands vergessen zu haben. Warum trägt sie die Massnahmen mit?
Konrad Hummler kommentiert «Der vergessene Mittelstand» von Karin Keller-Sutter.
Zwölf Jahre vor Corona stand im «Schweizer Monat» aus der Feder der damaligen St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter: «Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Bürgerinnen und Bürger zu bevormunden, sie an der Hand zu nehmen und sie durchs Leben zu führen.»
Heute müssen wir konstatieren: Doch, doch, genau das ist offenbar die Aufgabe. Jedenfalls wurde es nunmehr über ein Jahr lang praktiziert. Ausnahmezustand, Notstand eben. Was hiess das praktisch? «Massnahmen gegen das neuartige Coronavirus», die oft bloss darauf hinausliefen, dass der Staat befiehlt, einschränkt oder gar verbietet, ja buchstäblich einsperrt, selber aber nicht oder nur mangelhaft liefert und leistet. Die Asymmetrie zwischen Lasten tragen und Leistungen erbringen ist das Frappierende an der gehabten Krise. Oder vielleicht mehr noch die Langmut, mit der Bürgerinnen und Bürger die Massnahmen ertrugen und die Unfähigkeit in der Staatsführung hinnahmen. Ein Volk von Schafen?
Die Bilanz für die helvetische Staatsführung fällt – nun ja – eher desaströs aus, man kann es drehen und wenden, wie man will. Zu Beginn fehlte entscheidendes Material wie Masken und Beatmungsgeräte. Masken nützten nichts, wurde damals gesagt. Später, als es sie gab, mussten wir sie unter Bussandrohung umhängen. Kinder würden die Krankheit nicht übertragen, hiess es auch. Man liess deshalb die Schulen offen, während man den Rest des Volkes einsperrte. Dann schloss man die Schulen dennoch.
Epidemiologische Entscheide fielen systematisch zu spät, im Rückblick gesehen fast kontrazyklisch. Den deutlich sichtbaren Anstieg der Infektionszahlen ab August übersah man zugunsten von (Sport-)Grossveranstaltungen eventualvorsätzlich; ab Ende Oktober stieg die Mortalität in der Schweiz mehr an als in den meisten vergleichbaren Ländern. Testen sei enorm wichtig, hiess es ab Beginn. Aber erst nach einem Jahr gab es eine Teststrategie. Man führte ein Quarantäneregime für Reisende ein, aber für lange Zeit ohne Kontrollen an den Grenzen. Punkto Impfen liegt man, Stand Februar 2021, hinter Ländern wie Rumänien. Mittlerweile hat die Schweiz Rumänien überholt.
Weshalb konnte die Schweiz – das reichste und angeblich bestorganisierte Land der Welt – nicht mit Ländern wie Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder wenigstens Chile gleichziehen? Die Krisenführung lag während der ganzen Zeit in den Händen des Bundesrats, jenes Direktoriums, dessen Kollektivverantwortung man sich nur entziehen könnte, indem man rechtzeitig den Bettel hinschmeisst. Aber so was tut man in der Krise nicht.
«Karin Keller-Sutter müsste aus ihrer Warte
einen Rechenschaftsbericht schreiben.
Denn sie ist die Hüterin der Governance dieses Staates –
und sie kennt die freiheitlichen Prinzipien
besser als ihre Kollegen.»
Corona geht nun vorbei, der Ausnahmezustand auch. Was jedoch bleibt, ist die Erfahrung, dass man, wenn man will, auf diese Art regieren kann und dass es, leidlich zwar und mit pitoyablen Resultaten, auch funktioniert – zumindest bezüglich Machtzugewinns der Involvierten. Man nehme: eine genügende Portion Angst vor etwas hinreichend Unbekanntem, eine stattliche Anzahl von wohlgesinnten Experten und eine Horde gesinnungsloyaler Journalisten, die man am besten gleich, «embedded», ins Team aufnimmt. Dann verkündige man die ausserordentliche Lage, und los geht’s. Das nächste Mal dann nicht mehr zu einem gesundheitlichen Thema, sondern zu einer Teuerungswelle, zu einem Kollaps an den (nun reichlich genährten) Schuldenmärkten, zur drohenden Klimakatastrophe oder irgendwann auch wieder einmal zu einem Sicherheitsthema. Ausnahmezustand in Sicht? Notstand her!
Dann schalte man wieder das Parlament aus, nicht ganz, sondern nur teilweise; man hält es sich mit dem Instrument einer Sondersession «embedded». Man schalte auch den Föderalismus aus; auch das nur teilweise, indem man die Kantone immerhin ein wenig konsultiert. Man schalte das Volk aus, indem man es wieder zu Hause einsperrt und per regierungsnahem Radio und Fernsehen die Vorzüge der modernen Staatsführung schönredet. Der neuen Staatsführung per Dekret. Solange die zusätzliche Schuldenaufnahme vom Finanzsystem her noch funktioniert, verteile man Manna in Form von Kurzarbeits- und Ausfallentschädigungen an Bürgerinnen und Bürger, auf dass sich deren Nichtarbeit und Ausfall mehr lohnt, als wenn sie arbeiten würden. So «embedded» man auch das Volk, und es bleibt ruhig und kooperativ.
Was müsste eine mit der Corona-Vergangenheit und der damit verbundenen Kollektivverantwortung zwar ebenfalls belastete, liberale Justizministerin post Coronam tun, vorausgesetzt, sie glaubt immer noch an die Richtigkeit dessen, was sie vor zwölf Jahren geschrieben hatte? Nämlich: «Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Bürgerinnen und Bürger zu bevormunden, sie an der Hand zu nehmen und sie durchs Leben zu führen.» Sie müsste sich hinsetzen und zuhanden ihrer eigenen Regierung mitteilen, wie Führung in der Krise unter Wahrung der wesentlichen und unverzichtbaren Rechte von Bürgerinnen und Bürgern in Zukunft zu gestalten sei. Sie müsste aus ihrer Warte einen Rechenschaftsbericht schreiben. Denn sie ist die Hüterin der Governance dieses Staates – und sie kennt die freiheitlichen Prinzipien besser als ihre Kollegen.
Der Artikel im «Schweizer Monat» von 2008 beweist, dass die Justizministerin weiss, wie es sein sollte, wie es hätte sein müssen. Nichts dazu sagen geht nicht, denn zu viel von unserer Gesellschafts- und Staatskultur wurde preisgegeben. Jetzt geht es darum, dass sich die Zwangsmassnahmen nicht wiederholen oder, schlimmer noch, dass die gehabte «Führung im Ausnahmefall» nicht schleichend zum Normalfall wird. Von den Mitgliedern des Bundesrats ist Karin Keller-Sutter aufgrund der Nichtinvolvierung ihres Departements in die derzeitige Krisenführung am wenigsten verantwortlich für das Geschehene. Sie kann unabhängig denken, weil sie sich nicht selber belasten muss.
Deshalb braucht es jetzt den Aufstand der liberalen Justizministerin. Nicht als Verrat an ihren Kolleginnen und Kollegen und schon gar nicht als Scherbengericht gegenüber einzelnen Exponenten, bewahre! Vielmehr geht es um die Korrektur der Strukturen und Prozesse, die zum absolut wie relativ schlechten Abschneiden der Schweiz geführt haben.
Am Ende stände vielleicht eine Verfassungsänderung. Eine neue Bestimmung, die festlegt, dass auch für nichtmilitärische Krisen die operative Führung durch einen «General» und einen Sonderstab zu erfolgen hat, der nach der Krise wieder abtritt, seine Vollmachten automatisch verliert und über seine Taten Rechenschaft ablegen muss. Übrigens: Das entsprechende (entmilitarisierte) «Bundesamt für Bevölkerungsschutz» hätte es als Kernorganisation schon gegeben, und es wurde in früheren Krisenübungen auch schon einexerziert.
Das Exercitium der Manöverkritik und der Ergreifung korrigierender Massnahmen ist für Karin Keller-Sutter eine notwendige, vielleicht auch hinreichende Bedingung, um als Persönlichkeit, die aus der Erfahrung lernt, in die Geschichte einzugehen. Staatsmännisch, eigenständig, liberal.