Erst kämpfte Gottfried Keller mit einer geliehenen Flinte für die Freiheit – dann kritisierte er das selbstgerechte liberale Establishment
Der grosse Schweizer Dichter war auch ein hellwacher politischer Kopf. Sein vielschichtiges Gesamtwerk lässt sich in einer Hörbuch-Edition neu entdecken.

Gottfried Keller (1819‒1890) zählt zusammen mit Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer zu den drei Autoren des 19. Jahrhunderts, die der Schweiz einen festen Eintrag auf der Karte der Weltliteratur gesichert haben. Seine Romane, Erzählungen und Gedichte lassen sich auf zwei Ebenen lesen. Zum einen sprechen sie als anschauliche, spannende, bewegende Texte die Leserinnen und Leser bis heute ganz unmittelbar an: Sie sind Volksbücher im besten Sinne des Worts geblieben. Zum anderen bieten sie durch die Schönheit und Subtilität ihrer Sprache, durch ihr schimmerndes erzählerisches Gewebe sowie ihre zeitlose Relevanz der germanistischen Forschung und der Literaturkritik ein unerschöpfliches Betätigungsfeld.
In gedruckter Form ist Kellers Œuvre gut erschlossen. Es gibt mehrere valable Werkeditionen. Was bisher jedoch fehlte, war eine integrale Hörbuch-Edition. Diese Lücke hat nun Albert Bolliger mit seinem Sinus-Verlag geschlossen. Was der unabhängige Schweizer Kleinverleger hier geleistet hat, ist dazu angetan, manches grosse Verlagshaus zu beschämen. Völlig zu Recht ist das Werk soeben mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.
Die Sinus-Edition folgt der 1889 erschienenen, von Gottfried Keller autorisierten «Ausgabe letzter Hand». Sie umfasst die Romane «Der grüne Heinrich» und «Martin Salander», die Novellenzyklen «Die Leute von Seldwyla», «Züricher Novellen», «Das Sinngedicht» und «Sieben Legenden» sowie eine reiche Auswahl der Gedichte. Die Texte wurden von den profiliertesten deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern eingelesen. Die Charakterstimmen stellen sich indes ganz in den Dienst des Textes.
Staatsgründung miterlitten und mitgestaltet
Gottfried Keller war nicht nur ein Jahrhunderterzähler, sondern auch ein wacher politischer Kopf. Kein selbstzufriedener Sonntagsliberaler, sondern einer, der das Entstehen des Schweizer Bundesstaats 1848 als junger Mensch miterlitten und mitgestaltet hatte. Besonders deutlich zeigt sich das in den «Züricher Novellen», die den Schlussstein der Sinus-Hörbuch-Edition bilden. «Das Fähnlein der sieben Aufrechten», die früheste, schon 1860/61 entstandene Erzählung des 1877 erschienenen Buches, ist zugleich die einzige, die in Kellers Gegenwart spielt. Er schrieb sie, kurz bevor er seinen Posten als Zürcher Staatsschreiber antrat, eine verantwortungsvolle und gehobene Stelle, die er – manchen in Form von Anekdoten unsterblich gewordenen Eskapaden zum Trotz – von 1861 bis 1876 mit Ernst und Fleiss versah.
«Das Fähnlein der sieben Aufrechten» zeichnet, wie der Historiker Helmut Meyer in seinem Essay «Gottfried Keller und die Geschichte», der im Begleitbuch zur Höredition abgedruckt ist, analysiert, die Entwicklung der Schweiz vom Staatenbund zum Bundestaat nach. Bis zur Französischen Revolution hatte die Eidgenossenschaft aus dreizehn «Orten» bestanden. Dazu kamen die «Gemeinen Herrschaften» wie der Thurgau und das Tessin sowie die «zugewandten Orte» wie Graubünden und das Wallis. Das Gebilde war komplex, zumal es sich zusätzlich in zwei konfessionelle Blöcke teilte, und enorm schwerfällig, wenn es gemeinsame Entscheide zu fällen galt.
Unter der französisch-revolutionären Herrschaft wurde die Schweiz als «Helvetische Republik» in einen Einheitsstaat ohne Untertanen umgebaut. Dieser konnte als von aussen aufgezwungenes Gebilde jedoch keine Akzeptanz in der Bevölkerung gewinnen, weshalb er 1803 von Napoleon wieder zu einem Bündnis von 22 gleichberechtigten Kantonen umgestaltet wurde. Bald kehrte die alte Dominanz der aristokratischen und konservativen Eliten zurück, gegen die sich eine liberal-demokratische Opposition formierte. Sie setzte sich für Gleichberechtigung, Presse- und Vereinsfreiheit ein, gegen den Einfluss der Kirche und für eine liberale, der Industrialisierung förderliche Wirtschaftspolitik, für eine gemeinsame Armee und eine einheitliche Währung – Werte, die im Liberalismus bis heute zentral sind.
Zürich erhielt bereits 1830 eine liberale Verfassung; 1839 kam es zum protestantisch-konservativen «Züriputsch», bevor Mitte der 1840er-Jahre die Liberalen in umkämpften Wahlen die Mehrheit zurückgewannen. Grundsätzlich abgelehnt wurde die geplante Bundesreform indes von einem katholisch-konservativen Block mit Luzern als Zentrum. 1844/45 unternahmen die liberalen Kantone gegen Luzern Freischarenzüge, in denen sie versuchten, das dortige Regime zu stürzen, allerdings ohne Erfolg. Am zweiten dieser Züge nahm – mit einer geliehenen Flinte! – auch Gottfried Keller teil. Die von Luzern mit sechs weiteren konservativen Kantonen gebildete «Schutzvereinigung» wurde 1847 im Sonderbundskrieg besiegt. In kurzer Zeit setzten die fortschrittlichen Kräfte daraufhin die neue liberale Bundesverfassung auf und durch.
Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Schweizer Bundesstaats spielten die Sänger-, Schützen- und Turnvereine. Insgesamt 5000 Vereine unterschiedlicher Grösse, zu denen auch jener der in Zürich angesiedelten «sieben Aufrechten» zählt, soll es um 1848 in der Schweiz gegeben haben. Integrierend über die Kantonsgrenzen hinweg wirkten zudem die alpine Natur und die bekannten Gründungssagen.
Feuriger Rebell und nachdenklicher Citoyen
Die Schweizer Geschichte von 1830 bis zum Aarauer Schützenfest von 1849 zeichnet Keller in «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» mit feinem Humor nach. Er ironisiert die Ideale seiner Figuren nicht, schildert diese aber in ihrer Provinzialität und sympathischen Unzulänglichkeit. Den Höhepunkt der Erzählung bildet eine Rede des jungen Fähndrichs Karl Hediger, des Sohns eines der sieben Aufrechten: So oft das Vaterland in Gefahr sei, sagt er, fingen die Eidgenossen ganz sachte an, an Gott zu glauben, den sie deshalb auch in der Präambel der Bundesverfassung anriefen. Hier ist der leise Spott des Feuerbach-Schülers Kellers unüberhörbar.
Karl plädiert für Weltoffenheit und Toleranz, für einen liberalen Patriotismus – das geflügelte Wort «Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!» entstammt seiner Rede. Er fährt fort: «Wie kurzweilig ist es, dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zwei Basler! Dass es eine Appenzeller Geschichte gibt und eine Genfer Geschichte; diese Mannigfaltigkeit in der Einheit, welche Gott uns erhalten möge, ist die rechte Schule der Freundschaft, und erst da, wo die politische Zusammengehörigkeit zur persönlichen Freundschaft eines ganzen Volkes wird, da ist das Höchste gewonnen; denn was der Bürgersinn nicht ausrichten sollte, das wird die Freundesliebe vermögen und beide werden zu einer Tugend werden!»
«Keller ironisiert die Ideale seiner Figuren nicht, schildert diese aber in ihrer Provinzialität und sympathischen Unzulänglichkeit.»
Es lohnt sich, diese Rede und die ganze Erzählung so zu hören, wie Martin Vischer sie im Sinus-Hörbuch liest. Sie ist ein Bekenntnis, das nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat, auch wenn das Ambiente des Schützenfests uns ferngerückt sein mag. Auch in Kellers Alltag als Staatsschreiber ging es oft prosaischer, urbaner und komplizierter zu als in seinen pittoresken Geschichten. Er lebte in Zeiten des Umbruchs. Bevölkerungswachstum und Industrialisierung waren die prägenden Phänomene der Zeit, das Spekulantentum grassierte, und wo es zu Machtballungen kam wie im «System» des Unternehmers und Politikers Alfred Escher, erwachte Kellers kritischer staatspolitischer Geist. Dieser befand sich zunehmend im Widerspruch zum entfesselten Wirtschaftsliberalismus.
In «Martin Salander», seinem letzten Buch, tritt Keller uns als Skeptiker und Mahner entgegen. Auch diese Seite seines Denkens lässt sich in der Hörbuch-Edition Satz für Satz miterleben. Sie stellt den ganzen Keller vor uns hin, den feurigen jungen Rebellen ebenso wie den nachdenklichen alternden Citoyen. Die sieben Boxen haben höchste Anerkennung verdient. In Deutschland ist das Grossprojekt zu Recht gewürdigt worden. In der Schweiz braucht es wohl noch ein bisschen Zeit.
Gottfried Keller: Das vom Autor 1889 autorisierte Werk. Gelesen von Frank Arnold, Meike Droste, Lilith Hässle, Stefan Kaminski, Torben Kessler, Wolfram Koch, Michael Maertens, Peter Matić, Eva Mattes, Birgit Minichmayr, Ulrich Noethen, Michael Quast, Michael Rotschopf, Joachim Schönfeld, Martin Seifert, Martin Vischer u.a. Herausgegeben und kommentiert von Albert Bolliger. 7 Boxen (einzeln erhältlich), 15 MP3-CD; Gesamtlaufzeit 108:30 h, Begleitbücher 4160 S. Sinus-Verlag, Au.