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Ersatzteile für Gehirnareale

In Zukunft könnte die Erinnerung schlicht ein Implantat sein, das die Gedächtnisfunktion repariert oder gar verbessert.

 

Da ich nicht nur Professor der Neurotechnik, sondern auch Filmliebhaber bin, erkläre ich meinen Studenten die Auswirkungen von Verletzungen auf die Erinnerungsfähigkeit des Gehirns oftmals anhand von Filmsequenzen. Eines meiner liebsten Beispiele ist dabei Christopher Nolans Neo-Noir-Thriller «Memento». Der Protagonist der Geschichte (Leonard Shelby, gespielt von Guy Pearce) erleidet eine Kopfverletzung und zeigt mit seinen darauffolgenden Beschwerden eindrücklich akkurat auf, was Menschen mit ernsthaften Schäden am Hippocampus dämmert: Sie würden die Fähigkeit verlieren, neue Erinnerungen zu bilden. Zwar kann sich Leonard noch genau an sein Leben vor seinem Unfall erinnern, doch alle Ereignisse danach vergisst er innerhalb von wenigen Minuten. Leonard weiss sich aber zu helfen: Polaroidfotos, kleine Notizen und Tattoos, er nennt sie «Mementos», werden zu seinen ständigen Wegbegleitern. Leonard ist mit seinem Schicksal nicht allein: Alzheimerpatienten erleben einen gleichartigen Verlust der Gedächtnisfunktion. Können Sie sich überhaupt vorstellen, ohne die Fähigkeit zur Erinnerung ein normales Leben zu führen?

Allein in den Vereinigten Staaten leiden 5,7 Millionen Menschen unter Alzheimer, keine neurologische Erkrankung trägt grössere gesellschaftliche Implikationen mit sich. Im Jahr 2018 kosteten uns Alzheimer und andere Formen der Demenz rund 277 Milliarden Dollar. Bis heute kennt die Wissenschaft die genauen Auslöser hinter dem Schaden am Hippocampus und dem damit verbundenen Verlust an Gedächtnisfunktion nicht, unglücklicherweise gibt es gegenwärtig keine Heilmittel. In klinischen Tests sind bisher alle Alzheimermedikamente gescheitert; alternative Lösungen sind gesucht.

Das Erinnerungsimplantat als Komplettersatz

Im vergangenen Jahrzehnt starteten zahlreiche Wissenschafter, darunter auch ich, erste Versuche zur Entwicklung einer Hippocampus-Prothese, eines Gehirnimplantats zur Wiederherstellung oder gar der Verbesserung der Gedächtnisfunktion. Implantate und ihre elektrische Stimulation sind als Idee nicht neu: Seit den 1970ern sind Cochlear-Implantate eine Standardprozedur zur Heilung von Gehörverlust. Tiefe Hirnstimulation (THS) wurde in den 1990er Jahren durch die FDA, die US-amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel, als Behandlung für Zittern und Parkinsonerkrankungen anerkannt. Neuere Formen von Neuroprothesen wie zum Beispiel die Netzhautprothese oder die motorische Prothese erlauben Patienten die Rückkehr von Seh- oder Tastsinn.

Implantate finden also bereits heute zahlreiche unterschiedliche Anwendungsbereiche. Dennoch ist gerade der Bau von Erinnerungsimplantaten mit zahlreichen neuartigen Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden. Anders als bei der tiefen Hirnstimulation (THS), die elektrische Impulse zur Modulation von mehrheitlich intakten und halbwegs funktionierenden Gehirnfeldern verwendet, sollen Erinnerungsimplantate gesamthaft vernichtete Regionen des Gehirns vollständig ersetzen. Ein Erinnerungsimplantat muss sich wie eine gesamte Gehirnregion verhalten und muss dieselben Funktionen erfüllen können. Eine kleine Veranschaulichung: Ihr Radio funktioniert nicht mehr. THS wirkt wie ein Klopfen auf der Oberfläche des Radios bei einem Wackelkontakt; Erinnerungsimplantate lassen sich mit dem Totalersatz einzelner Bestandteile des Radios vergleichen.

Die Netzhautprothese kann durch elektrische Impulse sensorische Signale in neurale Signale transformieren, die motorische Prothese verändert neurale Impulse zu physischen Bewegungen von Körpergliedern. Beide Prothesen beschäftigen sich also mit Mechanismen, die sich auch ausserhalb des Hirns bemerkbar machen. Das Erinnerungsimplantat hingegen kann lediglich mit neuralen Signalen arbeiten, die ausschliesslich innerhalb des Gehirns gefunden werden können. Zudem sind Erinnerungen nur schwer zu messen. Ob Personen sich bewegen oder etwas visuell fixieren, lässt sich konkret beobachten. Doch ob eine Person sich tatsächlich an eine Erfahrung erinnern kann oder nicht, ist für einen Wissenschafter kaum greifbar.

Bescheidene, aber erstaunliche Fortschritte

Dank der sogenannten Input-Output-Analyse konnte die Wissenschaft in den vergangenen Jahren trotz aller Schwierigkeiten beträchtliche Fortschritte bei der Entwicklung von Hippocampus-Prothesen erzielen. Wissenschaftern gelang es, erinnerungsbezogene Gehirnströme mittels einer Elektrode sowohl stromaufwärts als auch stromabwärts zu messen. Ein mathematisches Modell ahmt die Funktionsweise des Hippocampus nach: Stromabwärts-Flüsse (Output) können durch Stromaufwärts-Flüsse (Input) vorhergesagt werden und so einen elektrischen Simulator stimulieren, der die erinnerungsbezogenen Signale dann zum Gehirn zurückmeldet. Mit dieser Methode wird die beschädigte Hippocampus-Region umschifft. Die Signaltransmission ist funktionstüchtig und das Gehirn kann wieder langfristige Erinnerungen herstellen. Experimente an Tieren sowie jüngere Menschenversuche an der University of Southern California in Los Angeles und im Wake Forest Baptist Medical Center in Wins­ton-Salem haben die Input-Output-Analyse belegt und beweisen, dass die Methode die Gedächtnisfunktion wiederherstellen oder gar verstärken kann.

Diese Entwicklungen repräsentieren einen bemerkenswerten Fortschritt und haben in der Öffentlichkeit zu Recht für Aufregung gesorgt. Mit Filmen möchte ich meine Studenten und Zuhörer allerdings auch zur Vorsicht mahnen: Die Vorstellung, dass man wie in einigen Episoden der Serie «Black Mirror» dank einem bequem platzierbaren Implantat in seinem Gehirn Videoaufnahmen tätigen, zurückspulen oder ganz bequem wieder abrufen kann, ist auch heute noch Zukunftsmusik. Keine der drei Wissenschaften, die für die Entwicklung der Erinnerungsimplantate unverzichtbar sind (es sind dies die Neurowissenschaft, die Computertechnik und die Forschung rund um die Interface-Technologie), ist gegenwärtig für solche Visionen genügend ausgereift.

Das heutige Erinnerungsimplantat hat soeben dank einer umfangreichen Ausrüstung einen bescheidenen Schritt getätigt, um eine konkrete Zielgruppe, die Epilepsiepatienten, bei einer konkreten Anwendung der Erinnerungsfähigkeit zu unterstützen. Damit aber aus den Hippocampus-Prothesen ein klinisch und kommerziell überlebensfähiges Medizinprodukt entstehen kann, müssen wir noch zahlreiche wissenschaftliche und technische Hürden überwinden. Und selbst wenn das gelingen sollte, wird das Erinnerungsimplantat im Gegensatz zur herkömmlichen Unterhaltungselektronik wahrscheinlich noch für lange ein reines Therapiegerät bleiben.

Unsere Erinnerungen sind für unsere Identität und unsere sozialen Interaktionen fundamental. Science-Fiction-Filme warnen vor den ethischen Herausforderungen, die erinnerungsverändernde Geräte mit sich bringen werden. Um die Fiktion in eine positive Realität umzumünzen, benötigt man nicht nur den gewissenhaften Einsatz der Neurowissenschafter und der Neurotechniker, sondern auch den kritischen Diskurs innerhalb der gesamten Gesellschaft. Nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit, durch die Anerkennung des Wissens der Patienten, Kliniker, Ethiker, Forscher, Ingenieure, Unternehmer, politischen Entscheidungsträger und der Allgemeinheit, werden wir die Dystopie der modernen Science-Fiction überwinden.

Lassen wir das unser «Memento» sein.

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