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Ernst Topitsch: Im Irrgarten der Zeitgeschichte

Berlin: Duncker und Humblot, 2003

Ernst Topitsch starb 2003, und im selben Jahr erschien auch sein letztes, von ihm selbst herausgegebenes Buch mit dem Titel «Im Irrgarten der Zeitgeschichte». Die Analyse der Aufsatzsammlung gibt einen guten Einblick in sein Schaffen, seinen Denkstil und sein Anliegen: Aufklärung durch klares Denken, durch Respekt vor Wahrheit und Logik. Der einleitende Essay ist eine Analyse des intellektuellen Klimas insbesondere im deutschsprachigen Bereich. Topitsch zeigt den Konflikt zwischen Resultaten der historiographischen Forschung und den von «Medienschaffenden» und Politikern verbreiteten «politischen Wahrheiten». Den Schwerpunkt des Buches bilden ideologiekritische Betrachtungen über zwei Denker, deren Affinität hier wohl erstmals aufgezeigt wird, nämlich Carl Schmitt und Jürgen Habermas. Wohl zur Überraschung der meisten Leser zeigt Topitsch, dass beide in einem gemeinsamen religiös-theologischen Untergrund wurzeln. Zwei ältere Essays, einer über die Universität und einer über die sogenannte Schuldfrage – thematisch mit dem Schwerpunkt eng verbunden – runden den Band ab, der ein Meisterwerk der Ideologiekritik ist. Topitsch, der Klassiker der Weltanschauungsanalyse und der Religionskritik, analysiert die Religion als Projektion irdischer Verhältnisse auf eine transzendentale Welt und die Rückbeziehung von dort auf die soziale Ordnung (S. 23). Religion dient der Legitimierung von Macht, seitdem es die Menschheit gibt.

Die Arbeit könnte aktueller gar nicht sein, in einer Zeit, in der Politiker und «Medienschaffende» oft wie Priester einer politischen Religion agieren und die öffentlich-rechtlichen Anstalten – daher die veröffentlichte Meinung – durchweht werden von jenem Geist, den Roland Baader in seinem Buch «Totgedacht. Warum die Intellektuellen unsere Welt zerstören» (2002) den «Pesthauch der Frankfurter Schule» genannt hat. Wenn Abweichler als Ketzer verfolgt werden – was nicht nur bei Politikern, sondern auch bei Historikern Karrieren gefährden, ja zerstören kann –, sind «Unpersonen» wie Topitsch besonders wichtig. (Topitsch selbst hatte sich in den Achtzigerjahren als «komfortable Unperson» bezeichnet, die man ignorieren kann und nicht zu widerlegen braucht, weil sie ohnehin in absehbarer Zeit vergessen sein wird.)

Ausgehend von David Hume, hat Topitsch immer die klare Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben betont (S. 14, 144). Zum Wissen gehören Sätze, die entweder als analytische im relevanten System beweisbar sind oder – wenn sie empirischen Informationsgehalt haben – als fallible Sätze Sachverhalte zutreffend darstellen und sich in strengen Tests der Erfahrung bewährt haben. Glauben heisst hingegen, etwas unbedingt für wahr halten, obgleich man es nicht beweisen kann, obgleich es unbeweisbar und daher auch unwiderlegbar ist.

Das Phänomen, das den Ideologiekritiker Topitsch beschäftigt, ist die aktuelle «politische Religion», ein Begriff, der 1938 von Eric Voegelin geprägt worden ist. Raymond Aron sprach 1939 von «religion séculière»; die klassische Arbeit über den Topos ist das von Hans Maier herausgegebene dreibändige Werk «Totalitarismus und Politische Religionen». (1996/97 und 2003). Kennzeichen einer politischen Religion ist ein oberster, «höchster», absoluter Wert, der zur Rückkehr zur Einheit von Kult und Polis führt, von Religion und Herrschaft, kurz zur politisch instrumentalisierten Theologie. In dem Masse, in dem in einem Staat eine politische Religion wirksam ist, gibt es dort auch totalitäre Züge. Aus dem theologischen Denkstil leitet Topitsch später den gemeinsamen Urgrund der zwei auf den ersten Blick so ungleichen Denker Carl Schmitt und Jürgen Habermas ab. Sie stehen in der Tradition der Begründungsphilosophie, die unweigerlich zu Hans Alberts Münchhausen-Trilemma führt – einem Dilemma, das ein weiteres Dilemma generiert und das den Abbruch des Begründungsverfahrens zur Folge hat.

Gemäss Topitsch gemeinsam ist den beiden Denkern, die man gewohnt ist, als Antipoden zu sehen, dass ihr «Verhältnis zur Wirklichkeit stark durch theologische Vorstellung bestimmt – und das heisst oft: verzerrt – ist, …» (S. 26). Zum Feindbild beider gehören die Naturwissenschaften und die industrielle Welt – sei es in Form des «Antichrist» oder des «Positivismus». Ihre politischen Religionen zeigen die Charakteristika jeder Religion, sei sie transzendental oder politisch: Unüberprüfbarkeit, Zirkelhaftigkeit und Beliebigkeit. Carl Schmitt ist essentiell ein katholischer Fundamentalist, und das politische Bekenntnis von Habermas trägt pietistische Züge.

Carl Schmitt war ein juristisches Chamäleon. Allerdings ist für Juristen – sobald sie den soliden Stamm des Privatrechts verlassen und sich auf die schwankenden Äste des öffentlichen Rechts oder des Verfassungsrechts begeben – die Versuchung wohl gross, sich der Macht anzudienen, um selbst Einfluss und damit Macht zu erlangen. Schmitt versuchte, sich den Nationalsozialisten anzutragen, aber fruchtlos; denn die SS verfolgte ihn geradezu, und es wäre für ihn wohl gar gefährlich geworden, hätte nicht Göring seine schützende Hand über seinen Staatssekretär gehalten (S. 75). Dazu Topitsch: «Als Anwalt der Mächtigen hatte er den Grundsatz nulla poena sine lege bekämpft, als Anwalt der Besiegten beruft er sich auf ihn. Doch es war auch umgekehrt: die sich seinerzeit über die Verletzung jenes Satzes ereifert hatten, setzten sich nun als Sieger über ihn hinweg. Mit dem Wind hatte sich der Rauch gedreht» (S. 59). Carl Schmitt verkörpert den klassischen Fundamentalismus und eine strikte oder rabiate Christozentrik. Seinem Freund-Feind-Schema liegt der Kampf zwischen Christentum und Antichrist zugrunde. Nach 1945 zog sich Schmitt aus der Politik zurück und sah sich als katholisch-konservativen Vordenker.

Habermas’ Feindbild ist der sogenannte Positivismus oder «Szientismus», «das heisst: die Forderung nach Überprüfbarkeit» (S. 97) und sein Leitbild ist die «– wohl vom Leitbild pietistischer Bürgergemeinden inspirierte – Heilsverkündung vom ‹verständigungsorientierten Dialog›, dem ‹herrschaftsfreien Diskurs› usw.» (25). Bereits zu Kants Zeiten wurden die kirchlich institutionalisierten Foren zunehmend schwächer. Deshalb suchte Kant nach einem öffentlich-ethischen Gerichtsort, der sich vom positiven Recht und der weltlichen Macht deutlich unterscheidet, aber das individuelle Gewissen nicht ganz allein lässt. Habermas greift mit seinem Mythologem von der «unvermachteten Öffentlichkeit» diese kantische Institution wieder auf, «die Himmelsstadt, deren miteinander sprechende Bürger in bewusster Kommunikation zum – wohl im Sinne der wahren Vernunft – vernünftigen Konsensus gelangen» (S. 104). Topitsch weist darauf hin, dass das bestenfalls für die Kleingruppe möglich sein kann und vermutet, dass «die vom Heiligen Geist inspirierte pietistische Brüdergemeinde das Vorbild darstellt…» (S. 105). In der Himmelsstadt, im nichtendenden Gespräch («Diskurs») der idealen Kommunikationsgemeinschaft, erreichen die durch Habermas aufgeklärten Bürger einen Konsens. Die epistemologische Groteske kann noch gesteigert werden. Den Wissenschaften wird insgesamt ein falsches Bewusstsein vorgeworfen. Der von den Wissenschaften erzeugte objektivistische Schein wird durch die kritische Einsicht zerstört, «dass die Wahrheit von Aussagen in letzter Instanz an die Intention des wahren Lebens gebunden ist» (Habermas «Erkenntnis und Interesse», S. 167f.). Topitsch fügt hinzu: «… der Jahrtausende alte Bann ist gebrochen, das Tor der Himmelsstadt steht offen – dank Habermas» (S. 115).

Im «Historikerstreit» der achtziger Jahre, nach seinem Protagonisten auch als «Habermas-Kontroverse» bezeichnet (S. 171), ging es um die Meinungsführerschaft und das Interpretationsmonopol der Frankfurter Schule (S. 128). Bei der Bildung von negativen Mythen wird die priesterliche Tradition fortgesetzt, indem «ein zu diesem Zweck kultiviertes Sündenbewusstsein als politisches Machtinstrument benützt wird» (S. 38). Das Dogmatisieren von historiographischen Thesen und die Singularitätsbehauptungen gehören zu dem Beitrag, den die Frankfurter Schule zur Festigung des Schuldkults geleistet hat und noch leistet. Kein Wunder, dass Habermas der gefeierte SPD-Parteiphilosoph und BRD-Philosoph wurde.

Als Historiker hat Topitsch mit seinem Buch «Stalins Krieg» von 1985 Pionierarbeit geleistet. Topitsch war der erste, der darauf hingewiesen hat, dass diese These vom Überfallmythos nicht stimmt. Mit Topitschs Arbeit brach der Damm. Jetzt begann das Thema diskutiert zu werden. Es wurde wieder möglich, offen über die Verbrechen der Alliierten zu sprechen (man denke an die Rezeption von Jörg Friedrich). Das Habermassche Tabu «keine Aufrechnung» – als ob eine solche überhaupt möglich oder sinnvoll wäre – scheint gebrochen zu sein.

Die fable convenue vom «heimtückischen faschistischen Überfall auf das friedliche und vertrauensvolle Vaterland aller Werktätigen» war als Glaubenssatz in die aktuelle politische Religion der BRD aufgenommen worden. Was wollte Stalin mit den aufmarschierten Truppenmassen? Natürlich nur den Frieden sichern! Ein Inventar der historischen Situation ergibt aber folgendes Bild. Nach Molotows Besuch in Berlin war beiden Parteien klar, dass ein Krieg zwischen ihnen unvermeidbar war. Jeder gab Befehl zum Aufmarsch, und die Frage, wer dem anderen zuvorkommen würde, war weitgehend vom Zufall bestimmt. Selbstverständlich ist derjenige, der zuerst angreift, im Vorteil, denn er hat die Initiative. Es ist lediglich eine Frage der Wertung der konkurrierenden politischen Systeme, die Verursachung zuzuordnen oder das eine oder andere mögliche Ergebnis zu bevorzugen. Im vorliegenden Fall wird der Überfallmythos, ein Restbestand des seinerzeit von den Siegern verordneten Geschichtsbildes, in die Dogmensammlung der politischen Religion aufgenommen und wird dann – im Stil des geschichtstheologischen Denkens – als kognitives Kapital verteidigt. Die Option für «politische Wahrheit» impliziert die Geringschätzung von Wahrheit.

Abschliessend sei eine ganz persönliche Bemerkung erlaubt. Kurz nachdem ich – aus Schweden und den USA kommend – begann, mich in der BRD umzusehen, gab mir Ernst Topitsch, der sich bereits von Heidelberg nach Graz abgesetzt hatte, einen Trostspruch mit, den ich nicht vergessen habe: «Lass die Dialektiker quasseln, aber lass Dich nicht verhabermasseln!»

besprochen von Gerard Radnitzky. Der Autor war bis zu seiner Emeritierung Professor für Wissenschaftstheorie

an der Universität Trier.

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