Entvölkerung der Hörsäle
Während Begriffe und Konzepte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gesellschaftlich immer grösseren Einfluss geltend machen, gehen die Immatrikulationszahlen in manchen dieser Fächer dramatisch zurück.
Spätestens seit Allan Blooms bissigem Bestseller «The Closing of the American Mind» von 1987 wird der Zustand der Geisteswissenschaften in den USA kritisch diskutiert. Zumeist unter politischen Vorzeichen: Konservative und liberale Stimmen beklagen eine Verengung des Denkhorizontes und der Debattenkultur und machen dafür die politideologische Homogenisierung und zunehmende Linksorientierung der Uniprofessoren verantwortlich, die seit den 1980ern in den USA tatsächlich empirisch feststellbar ist.1 Linke Stimmen halten ihren Kritikern zumeist entgegen, sie seien salopp gesagt nicht fit genug für die Universitäten und ihr Ausschluss sei nicht politisch motiviert. In der Schweiz wird diese Diskussion bislang nur im Ansatz geführt.
Zuletzt mehrten sich aber die Anzeichen, dass die Geisteswissenschaften auch jenseits dieser Diskussion tatsächlich in einer Krise stecken: Ihnen laufen nämlich die Studenten davon. Die Abnahme ist scheinbar paradox. Während Vokabular und Diskussionsinhalte aus den Geisteswissenschaften derzeit die öffentlichen Debatten – z.B. über Rassismus – so stark prägen wie zuletzt vielleicht 1968, wenden die Studenten sich zunehmend von den Geisteswissenschaften ab.
Gemäss Daten des staatlichen National Center for Education Statistics sank der prozentuale Anteil der Bachelorabschlüsse in Geistes- und Sozialwissenschaften seit 2005 um knapp sieben Prozent. Nicht alle Fächer trifft die Krise gleichermassen. Besonders hart sind die Sozialwissenschaften und die Geschichte betroffen, die in den USA separat erfasst werden. Obwohl amerikanische Universitäten 2018 mit fast zwei Millionen so viele Bachelordiplome wie noch nie verteilten, schlossen fast zwanzigtausend Studenten weniger in diesen Fächern ab als 2011. Mit knapp 160 000 erreichte ihre Zahl das Niveau von 1970, als die USA nicht einmal halb so viele Bachelorstudenten wie heute zählten. Prozentual ausgedrückt: War 1970 noch fast jeder fünfte Bachelorabschluss in Sozialwissenschaften und Geschichte, so waren es 2005 noch jeder zehnte (10 Prozent) und 2020 nur noch jeder zwölfte (8 Prozent).
Andere Fächer, wie Pädagogik, Fremdsprachen oder Englisch, trifft die Krise sogar noch härter: Sie haben heute bereits absolut weniger Abschlüsse als vor fünfzig Jahren zu verzeichnen. In den USA, wo die Universitätsausbildung meist privatwirtschaftlich organisiert ist, hat die abnehmende Nachfrage direkten Einfluss auf den akademischen Jobmarkt, der schon vor Corona zunehmend prekär war. Die Anzahl der ausgeschriebenen Professuren für Englisch hat seit 2012 um ein Drittel abgenommen und viele hochdiplomierte Akademiker finden sich in der Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlten Jobs wieder.2
«Zuletzt mehrten sich die Anzeichen, dass die
Geisteswissenschaften tatsächlich in einer Krise
stecken: Ihnen laufen nämlich die Studenten davon.»
Lässt sich eine ähnliche Entwicklung auch in der Schweiz feststellen? Durchaus. Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik sank der Anteil der Studenten in Geistes- und Sozialwissenschaften von 2009 bis 2018 um fast 4,5 Prozent. Interessant: Unter Frauen sank er mit fast 5,5 Prozent noch stärker als unter Männern. Ohne die Psychologie, die sich in den letzten Jahren zunehmend zu einem anwendungsorientierten Fach entwickelt hat und in dieser Zeit massiv um fast 50 Prozent gewachsen ist, wäre die relative Abnahme der Studentenzahlen noch dramatischer. Grosse Fächer wie Germanistik, Französisch, Geschichte verzeichnen alle über 20 Prozent Verlust. Auch einstige Trendfächer wie die Politikwissenschaften liegen mittlerweile im tiefroten Bereich (–11 Prozent).
In den USA wird die Wirtschaftskrise von 2007–2009 oft als Grund für die Krise der Geisteswissenschaften angeführt. In der Folge würden Studenten anwendungsorientierte Fächer mit guten Berufschancen präferieren. Auch in der Schweiz zeigt sich: Technische Fächer, Naturwissenschaften sowie medizinische Fächer florieren. Ihre Studentenzahlen sind von 2010–2018 um die 40 Prozent gewachsen, in der Informatik und Mikrotechnik gar um über 80 Prozent.
Obwohl wirtschaftliche Überlegungen der Studenten wahrscheinlich ein Faktor für die Krise der Geisteswissenschaften sind, können sie nicht erklären, warum sich der Niedergang in den letzten Jahren trotz guter Konjunktur fortsetzte und warum es erhebliche Unterschiede zwischen den Disziplinen gibt. Einige Fächer – darunter die Philosophie, die Archäologie oder die Kunstgeschichte – haben kaum Studenten verloren oder sind sogar leicht gewachsen. In der Geschichte dagegen, einem der am stärksten betroffenen Fächer, begann der Niedergang schon deutlich vor 2007. Das Fach erlebte seinen Höhepunkt im Studienjahr 2004/05, als es schweizweit knapp über 4300 Studenten zählte. In den folgenden Jahren brachen die Zahlen teilweise um bis zu 10 Prozent jährlich ein und zehn Jahre später, 2014/15, hatte die Geschichtswissenschaft fast ein Drittel ihrer Studenten verloren. Der Niedergang setzte sich in den folgenden Jahren fort, heute zählt das Fach mit knapp 2600 Studenten so wenige wie zuletzt 1986. Interessanterweise gibt es dabei praktisch keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen: 40 Prozent der Studenten beider Geschlechter haben dem Fach seit 2004/05 den Rücken gekehrt.
Was ist zu tun? Zunächst einmal zeigt das Beispiel Psychologie, dass es durchaus gelingen kann, geisteswissenschaftliche Fächer zu modernisieren und attraktiver zu gestalten. Dafür müssen sie jedoch anwendungsorientierter werden und sich anderen Disziplinen öffnen. Anderseits zeigt gerade die Geschichtswissenschaft, welche Risiken eine Modernisierung birgt. Das Fach hat in den letzten Jahrzehnten mehrere seiner einstigen Paradedisziplinen, so etwa die Diplomatiegeschichte, die Schweizer Geschichte oder die Militärgeschichte, in ein Schattendasein gedrängt und damit viel riskiert – womöglich zu viel. Solange es keine weitergehenden Untersuchungen zum Niedergang der Geisteswissenschaften gibt, können solche Fragen jedoch nicht abschliessend beantwortet werden. Letzten Endes handelt es sich auch um eine politische Frage: Möchten die Politik und die Universitäten überhaupt starke Geisteswissenschaften, und falls ja, in welcher Form?
Mitchell Langbert: «Homogenous: The Political Affiliations of Elite Liberal Arts College Faculty», http://www.nas.org/academic-questions/31/2/homogenous_the_political_affiliations_of_elite_liberal_arts_college_faculty ↩
Kevin Carey: «The Bleak Job Landscape of Adjunctopia for Ph.D.s». In: The New York Times vom 5. März 2020, http://www.nytimes.com/2020/03/05/upshot/academic-job-crisis-phd.html ↩