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Entsprechen ist alles

Vorabdruck aus Martin Walsers Buch «Der Augenblick der Liebe»

«Der Augenblick der Liebe» ist nach «Schwanenhaus» und «Jagd» Martin Walsers drittes Buch, in dem der Immobilienmakler Dr. Gottlieb Zürn im Mittelpunkt steht. Vor zwanzig Jahren hatte Gottlieb Zürn zwei Aufsätze über La Mettrie publiziert. Überraschend wird er jetzt zu einem Kongress über den Philosophen nach Amerika eingeladen und entwirft einen Vortrag unter dem Titel «Entsprechen ist alles». Vermittelt wird diese Einladung durch eine Doktorandin, die Gottlieb Zürn besuchte, da sie sich in ihrer Doktorarbeit mit der Rezeption La Mettries in Deutschland beschäftigt. Die wirklichen Motive der Einlandung sind eher persönlicher denn sachlicher Art. Im Folgenden lesen Sie den Text, den Gottlieb Zürn in Berkeley vortragen wird, dann allerdings auf Englisch unter dem Titel: «Be Adequate». «Der Augenblick der Liebe» wird 2004 erscheinen. (Red.)

Es war einmal ein Verbrechen zu sagen, es gebe keinen Gott. Und die, die das sagten, meinten nur, es gebe den Gott nicht, der verkündet wurde, gelehrt wurde, an den zu glauben Pflicht war, höchste Pflicht. Und wenn es den nicht gab, gab es überhaupt keinen. Das war die furchtbare Folge der Einschränkung des Göttlichen auf diesen kirchlich verschriebenen Mastergott. Und die Philosophie war die Magd der Theologie. Primus motor immobilis. So durfte man ihn schon nennen. Dann kam La Mettrie, der alles, was bisher Gott zugeschrieben worden war, der Natur zuschrieb. Der entscheidende Unterschied zwischen Gott und der Natur: Die Natur war mit den Sinnen erfahrbar, studierbar, prüfbar. Und soweit sie nicht erkennbar war, durfte sie nicht in den Dienst der Erkenntnis genommen werden. Das war die Leistung La Mettries: nicht zu spekulieren. Er sagte, welche Vorstellungen von welchen Erfahrungen kommen. Religion, Moral und Politik müssen nützen, Philosophie muß die Wahrheit sagen. Man hat sich geeinigt. Man hat die Sprachgebräuche jahrhundertelang kultiviert zu dem einen Ziel: wie kann das, was uns als Religion wichtig geworden ist, so formuliert werden, daß die Vernunft damit leben kann. Der studierte Arzt La Mettrie entzieht die Philosophie diesem Dienst. Die Philosophie hat es nur mit der Natur zu tun. Ihr muß sie entsprechen. Dem, was die Sinne erfahren können, muß sie entsprechen. Dann wird sie, hat er zumindest angedeutet, den Segen, den Religion und Moral stiften, nicht nur nicht mindern, sondern ihn vermehren. Er wollte keinen Streit. Es liegt in der Sanftmut meines Charakters (la douceur de mon caractère), jeden Streit zu vermeiden, solange es nicht darum geht, eine Unterhaltung zu verschärfen. Aber als Arzt, der die Natur erforschte und als Philosoph, der sich verbot, über die Erfahrung hinauszugehen, mußte er formulieren, daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz – in unterschiedlicher Gestalt – gibt. Und diese Substanz, die Materie nämlich, kann empfinden, und das nicht nur im Menschen, sondern auch schon im Tier, ja, die Materie ist sogar gewissensfähig. Das hat ihm nichts als Hohn und Zorn eingebracht. Friedrich II. hat ihn aufgenommen und beschützt, als er zum zweiten Mal – diesmal aus Holland – emigrieren mußte. Salomon des Nordens hat er seinen Potsdamer Philosophenkönig genannt. Er lebe an Friedrichs Hof, hat er bezeugt, in einem Paradies für Philosophen. Er hat, so sanftmütig und lebenslustig er sich fühlte, seine Einsichten immer auch mit fröhlicher Schärfe formuliert. Nicht streit-, sondern wahrheitssüchtig. Daß die Materie empfindungs- und gewissensfähig, beziehungsweise daß auch der empfindungs- und gewissensfähige Mensch rein stofflicher Natur sei, das verzieh ihm weder die Kirche, noch die Universität.

Inzwischen haben die Naturwissenschaften das Sagen, wenn unterschieden werden soll zwischen unbelebter Materie und Lebewesen. Zirka zwei Milliarden Jahre lang seien sich, heißt es jetzt, Nukleinsäuren und Proteine begegnet, ohne daß eine Zelle entstanden wäre, die lebend genannt werden kann, also eine Zelle, die aus ihrer Umwelt die Energie entnimmt, die sie zu ihrer Replikation beziehungsweise Fortpflanzung braucht. Also zwei Milliarden Jahre lang keine Evolution, kein Kampf ums Dasein. Vom ersten Einzeller bis zum heutigen Menschen dauerte es dann nur noch eine Milliarde Jahre. Und dieser Mensch wird jetzt erklärt mit einem genetischen Code. Das ist ein Übersetzungsschlüssel, der angibt, welche Nukleinsäureschrift welcher Proteinschrift jeweils entspricht. Die Sprache der Naturwissenschaft kann uns Nichtnaturwissenschaftern diese Vorgänge nicht ohne Vergleiche näherbringen, die nicht mehr rein wissenschaftlich sind. Leben habe nur entstehen können aus einer Arbeitsteilung zwischen Proteinen und Nukleinsäuren, die Zufälle zuließ; die Zufälle heißen in der für uns bestimmten Sprache Ablesefehler, entstanden bei der Codierung der Proteinbausteine durch die Nukleinsäuresequenzen. Und, heißt es, es bedurfte ungeheuerlicher Zufälligkeiten, daß sich der genetische Code durchsetzen konnte, der jetzt auf diesem Planet bei allen Lebewesen maßgebend ist. Und das ist das, was La Mettrie l’organisation genannt hat. Manfred Eigen hat es genannt das Problem der Selbstorganisation von Makromolekülen zu autokatalytischen Hyperzyklen. Das ist die neueste Sprache für die Erfahrung, daß die Natur alles enthält, was wir sind. Zwei Milliarden Jahre lang folgenlose Begegnung zwischen Nukleinsäuresequenzen und Proteinbausteinen, dann kommt es zu einer Kombination, zu kombinierten Kreisen aus DNA-Molekülen und Proteinmolekülen, diese Kreise werden als höhere Gebilde geführt. Reine DNA-Gebilde konnten nur stagnieren. Hyperzyklen nennt Manfred Eigen diese kombinierten Kreise; die Nukleinsäuren seien sozusagen die Legislative, die Proteine die Exekutive bei diesem Prozess, der jetzt einsetzte und der eben durch weitere Zufälle Mutanten hervorbrachte, die mit einander um das Überleben konkurrierten. Der Zufall, der letzten Endes zum einzelligen Lebewesen geführt habe, sei so ungeheuerlich, so ganz und gar nicht erwartbar gewesen – dieser Zufall, dem wir letzten Endes ent–stammen –, daß auch unter Naturwissenschaftern wieder eine Art göttliche Mitwirkung gedacht werden konnte. Gott als der geduldigste Experimentalphysiker, dem es nach drei Milliarden Jahren gelingt, ein Wesen zu produzieren, dem er beibringen kann (durch Offenbarung), ihn anzubeten. Aber auch diese frömmeren Physiker können den universellen genetischen Code nicht mehr außer Kraft setzen. Und wie hat es La Mettrie gesagt: Man sieht, daß es im Universum nur eine Substanz gibt, und daß der Mensch die vollkommenste ist. Daß alles aus Nukleinsäuresequenzen und Proteinketten entstanden ist, hat La Mettrie in der auf Bilder angewiesenen Sprache so sagen müssen: Der Mensch ist aus keinem wertvolleren Lehm geknetet; die Natur hat nur ein und denselben Teig verwendet, bei dem sie lediglich die Hefezusätze verändert hat.

Jeder Satz über La Mettrie, der im Allgemeinen endet, verfehlt ihn. Er beschreibt die Wohlgefühle, die der Geist dem Körper bereiten kann und begründet: …denn ohne Zweifel zirkulieren dessen Säfte besser, wenn die Seele in ausgezeichneter Verfassung ist. Das ist Psychosomatisches, 1748. Wäre es nicht … eine Art Unmenschlichkeit, eine Rose verwelken zu lassen, ohne ihr die geringste Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Das ist La Mettrie. Ein Frühlingsausbruch sondergleichen. Empfindung als Erkenntnisquelle. Genuß als Denkbedingung. Lust als Seinserfahrung. Und Glück als Sinn des Daseins. Ganz schnell und ein für alle Mal: Falscher konnte nichts sein, als diesen Mann für jemanden zu halten, der den Menschen zur Maschine machte, ihn also der Kybernetik, der Roboterei auslieferte. Verfehlter als die Verladung dieses Lebensphilosophen ins Technologische konnte nichts sein. Maschine war für ihn das Wort, mit dem er den höchsten damals vorstellbaren Organisationsgrad ausdrücken wollte; die sinnliche Empfindlichkeit, eben die Natur, war das schlechthin Unabdingbare. Von heute aus gesehen, gibt es für die Schrift L’Homme-Machine keinen irreführenderen Titel. Abgesehen davon, daß La Mettrie danach noch verfaßt hat L’Homme-plante und Les Animaux plus que machines. Letzteres versehen mit einem Motto von Molière: Les Bêtes ne sont pas si bêtes que l’on pense. Es lohnt nicht, die vom Vorurteil lebenden Verfälschungen ins Sciencefictionhafte zu widerlegen. Aber vielleicht hilft es, sich vorzustellen, was alles machine im Französischen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutet haben kann. Im Dictionnaire Universel aus dem Jahr 1752 ist alles aufgeführt, was La Mettrie bei der Arbeit an diesem Buch in den Jahren bis 1747 wissen konnte, welche Vorstellungen, auch Empfindungen, dieses Wort in ihm weckte. Außer den Maschinen-Bedeutungen, die sich bis heute gehalten haben, ist damals der deus ex machina mehr als ein Theatertrick. Ainsi la machine dans le Poème Epique n’est point une invention pour se tirer d’une difficulté embarrassante ; mais c’est la présence de quelque Divinité ou une action surnaturelle et extraordinaire, que le Poète insère dans son Poème, pour le rendre plus majestueux et plus admirable. Oder: La machine de notre corps est composée de mille ressorts cachés : elle peut être toute prête à se briser, et à tomber en ruine sans que personne ne s’en aperçoive. Also, die Maschine hat Seele, die ganz und gar abhängig ist von der guten oder schlechten Verfassung der Maschine. La Mettrie hat die Maschinen-Vorstellung benutzt, um zu beweisen, daß die Willensfreiheit ein Irrtum ist. Wie kann ein Mensch eine Maschine, die er nicht selber gebaut hat, die er aber ist, nach seinem Willen lenken? Maschinell muß für ihn ein Wort gewesen sein wie für uns automatisch. Da denken wir auch nicht mehr an einen Automaten, sondern an von selbst. Aber daß er mit Maschine das Gegenteil von allem Kybernetisch-Roboterhaften gedacht und beschrieben hat, sollte zweihundertfünfzig Jahre nach seinem Tod auch in der deutschen Sprache denkmöglich werden. Seine esprits animaux sind keine Mega- und Gigabytes. Les Poètes appellent le monde la machine ronde. So offerierte es der Dictionnaire Universel im Jahr 1752 Erwähnenswert ist die historisch bedingte Unfähigkeit der deutschen Sprache, auf dieses französische Denkangebot vernünftig, das heißt: nicht ideologisch zu reagieren.

L’Organisation est le premier mérite de l’Homme heißt es in Die Maschine Mensch. Das wird so übersetzt: Dieser organische Bau ist das erste Verdienst des Menschen. Etwa zu sagen Der Mensch ist vor allen anderen Lebewesen ausgezeichnet durch seine Organisation ging nicht, weil in der deutschen Sprache in Organisation nichts Organisches mehr mitklingt, während im Dictionnaire Universel von 1752 steht: Organisation. Terme d’Anatomie und Il signifie ainsi la figure de l’organe de la génération. Also das Geschlechtsteil selbst heißt l’Organisation. Mehr Körper kann man dem Wort kaum mitgeben. Und zum Seelischen steht da im Jahr 1752: Quand le Corps commence à s’organiser dans le ventre de la mere, l’âme y agit selon que le corps est organisé. Daß also die Seele sich bildet, wie der Körper sich organisiert. Also: daß die Seele jeweils dem Körperlichen entspricht. Und deshalb sah eben ein La Mettrie das Organische als das, von dem die Entwicklung der Seele bestimmt wird. Ein solches Angebot war keinem deutschen Denker je beschieden. Unsere Sprache lebte, wie es La Mettrie einmal aus der deutschen Philosophie zitierte, von der symbolischen Erkenntnis. Er aber lebte von der durch die Sinne, durch die Erfahrung, durch das medizinische Studium genährten Erkenntnis, was eben heißt: wenn die Philosophie noch eine Magd war, dann nicht mehr die der Theologie, sondern die der Natur. Alle Fähigkeiten der Seele seien abhängig de la propre Organisation du Cerveau et de tout le Corps, qu’elles ne sont visiblement que cette Organisation même. Voilà une Machine bien éclairée ! Übersetzt wird : Da aber alle Fähigkeiten der Seele so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und des ganzen Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur dieser organische Bau selbst sind, so haben wir es mit einer gut erleuchteten Maschine zu tun. Daß die Seele nichts ist als die Organisation selbst, diese Seinsintimität ist der deutschen Sprache offensichtlich nicht zumutbar. Wenn La Mettrie Materie des Höchsten für fähig hält, nämlich der Gewissensregung, ruft er geradezu aus: L’organisation suffirait-elle donc à tout? Oui, encore une fois. Und wieder kann das Deutsche nur hinkend folgen. Sollte der organische Bau allem genügen? Noch einmal Ja.

Der Übersetzer und Herausgeber Bernd A. Laska ist, soweit ich sehe, der einzige, der gewagt hat, l’Organisation Organisation sein zu lassen. Mit eindeutschender Umständlichkeit wäre La Mettries letzte große Schrift, der Anti-Seneca nicht zu übersetzen gewesen. Das Glück, das aus unserer Organisation stammt, ist das beständigste und am schwersten zu erschütternde. Oder über die Erziehung: Alte Prägungen sind schnell einmal vergessen. ‹Maschinenmäßig› gewinnt dann die Organisation zurück, was die Erziehung ihr geraubt zu haben schien, so als ob die Formung nach einem Ideal eine Verformung gewesen wäre. Hier denkt man bei maschinenmäßig automatisch an automatisch beziehungsweise von selbst. Wenn es einem Übersetzer erlaubt wäre, ein Wort nur auf seine Bedeutung hin zu übersetzen, dann wäre l’organisation am vollständigsten mit Natur zu übersetzen.

Manfred Eigen, der gedankenreiche und sprachbewußte Physiker, hat, als er die Zusammenwirkung von Nukleinsäuremolekülen mit Proteinmolekülen bei der Entstehung des Lebens beschrieb, formuliert, daß die Selbstorganisationsfähigkeit der Materie bisher eher unter- als überschätzt wurde. La Mettrie war nicht der erste und nicht der letzte, der das Organische beziehungsweise die Natur zur Bedingung für alles machte. Es gab vor ihm Spinoza, der alles, was La Mettrie erlebte und beschrieb, schon systematisch entwickelt hatte – die materielle Einheit der Welt bis zur empfindungsfähigen Materie –, und er hat dafür genug Feindseligkeit geerntet; aber er hat offenbar die Erfahrung, daß die Materie fähig ist zu empfinden, nicht aus seinem eigenen Körper und dessen Bedürfnissen und Ansprüchen abgeleitet. Er hat der Natur göttlichen Rang erobert. Aber um sie so zu erhöhen, brauchte er doch noch Gott. Den braucht La Mettrie nicht mehr. Ohne Gott aktiv zu leugnen, entwickelt er eine vor Freude und Farben strahlende Welt an diesem Mastergott vorbei: Deshalb konnte Lessing, der La Mettrie als Pornoschriftsteller verachtete, sagen: Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie Spinozas. Und später Albert Einstein, von einem Rabbiner gefragt, ob er an Gott glaube: Ich glaube an den Gott Spinozas … Auch wenn er dann den allzu menschenähnlichen Gott verwirft und aus Spinoza einen Gott der Superstruktur bezieht, auf La Mettrie wird sich keiner berufen, wenn er nach Gott gefragt wird. Er ist als Arzt so erfahrungshörig wie als Philosoph. Daß er nicht von sich absehen kann, befreit ihn aus den Zwängen zum System, das nachher nicht mehr weiß (oder sogar verbirgt), woher es kommt und stammt.

Die Empfindung bzw. Wahrnehmung erklärt er zur Quelle allen Urteilens. So kann er gegen Ende seines Anti-Seneca sagen: Ich habe das Thema meinen Empfindungen entsprechend abgehandelt und sozusagen meinen Charakter zu Papier gebracht. Trotz dieses nichts als persönlichen Schreibens, geht ihm der gesellschaftliche, ja menschheitliche Anlaß nie verloren. Wenn er sich gegen die Anfeindungen jeder Art wehrt, beteuert er, daß er nur danach strebe, die menschliche Gattung von Schuldgefühlen zu befreien. Er hasse, ja, verabscheue alles, was der Gesellschaft schade. Aber der Philosoph muß formulieren: Die Tugend ist nichts als eine willkürliche Konvention. Die aber will er, auch wenn er sie nicht absolut gelten läßt, doch achten. Genau so wie er nichts tut oder tun will, was ihm Schuldgefühle verursacht, obwohl er erkennt, daß Schuldgefühle nur ein Produkt der Erziehung sind. Er ist ein Moralist der höheren Art. Die Ketten der Vorurteile und Schuldgefühle zerbrechen: das ist sein unerschöpfliches Motiv. Sein Ziel: die Glückseligkeit der ganzen Menschheit. Daß er, wie kühn er auch wird, immer sich, seine Erfahrung und Empfindung, seinen amour-propre anruft zur Bestätigung oder Widerlegung alles Gedachten, das macht seine Verläßlichkeit aus. Im Beiläufigsten wie im Anspruchsvollsten. Wenn er müde sei vom Denken und Schreiben und sich ganz leer fühle, lese er Montaigne und empfinde dann dessen Geschriebenes wie eine leichte Brise, die über die äußeren Fasern des Kopfes streicht und so auf die inneren des Gehirns wirkt und dem überanstrengten Gehirn die Schwere mildert. Und merkt dazu an: Die gleiche Wirkung hat auch ein Guß kalten Wassers: das durch die Anspannung gestaute Blut kann wieder frei zirkulieren. Pfarrer Kneipp läßt grüßen. Aber auch an Rom und Griechenland wird man als sein Leser oft erinnert. (Überhaupt reichen wir an die Alten nicht heran) Das läßt ihn sich zu Cicero und Plinius d. J. zählen, daß die nur ihre persönlichen Vorlieben überschwenglich dargestellt haben. Aber er geht nie unter in einem Gedankenimpressionismus, sein Thema bleibt die Natur, auch wenn er es ganz und gar aus seiner Empfindung, seinem amour-propre behandelt. Trotz aller Bildung kommt er wie ungelehrt daher. Normatives ist ihm fremd. Das Denken geht den Sätzen nicht voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt. Es gibt, was er gibt, nur in seinen Sätzen. Die Sätze bezeugen unmittelbar, aus welcher Erfahrung sie stammen. Sein Gedachtes drückt immer die Stimmung aus, aus der es entstanden ist. Eben diese erfahrungsgesättigte Kenntlichkeit, diese immer aus dem eigenen Leben stammende Stilistik hat ihn in Verruf gebracht. Bei den Theologen und bei den Aufklärern gleichermaßen. Es charakterisiert ihn gewaltig, wie Lessing und Diderot auf ihn geschimpft haben. Lessing empfahl ihm in der Rezension von L’Art de jouir als Titel Porneutik. Priapeische Ausrufungen seien das. Und Diderot: Einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen schließe ich aus der Schar der Philosophen aus. Das gibt es ja bis heute, daß Intellektuelle, die es zu Ansehen, also Einfluß, also Macht gebracht haben, einen anderen Intellektuellen, der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten. Das ist, auch unter säkularisierten Umständen: odium theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes aufgeklärtes Normatives universalisieren will. Noch 15 Jahre später hat Lessing in seinem vor Wahrnehmungslust und Folgerungskraft blitzenden Laokoon es nicht lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es geht um La Mettries Porträtbild. Beim ersten Hinschauen halte man den Gesichtsausdruck des Abgebildeten für Lachen, schaue man noch einmal hin, wird aus seinem Lachen ein Grinsen. Warum reizt er die Anständigen so? Weil er mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er das Gefühl hat, er sei zu weit gegangen. Zu weit, was Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat. Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfunden wurde als heute. Und wir erkennen, was alles, etwa in der aufklärerischen Enzyklopädie, ausgeklammert wurde. Und das war sein Vergehen: er hat die Sinne zu seinen Philosophen gemacht, er hat versucht gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren, aber – und damit entspricht er immer noch moderner Quantenphysik, die ohne die Statistik nicht auskommen will – aber, sagt er, er könne nicht mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Menschen entdecken, aber er suche den größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen. Weil er alles, was er denkend erfuhr und dadurch erkannte, auch wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger, also auf seine Lust und auf seine Moral, und so zu einer Sprache kam, Lust überhaupt und Moral überhaupt betreffend, deshalb wurde er beschimpft und verleumdet wie sonst keiner. Und hat doch geschrieben: Sich um die Gesellschaft verdient machen – darin besteht … alle Tugend. Keiner hat so leidenschaftlich gegen die Todesstrafe geschrieben. Der Verbrecher habe getötet aus bestimmten Gründen, aus Not, Verzweiflung oder sittlicher Beschränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht: er wirkt immer wie ein Mensch mozartischer Heiterkeit, Sinnenfreudigkeit und Offenheit. Aber um das Niveau seines auf die Materie gerichteten Denkens noch einmal der heutigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen: Wir verstehen – um es ganz klar zu sagen – unter ‹Selbstorganisation der Materie› nichts anderes als die aus definierten Wechselwirkungen und Verknüpfungen bei strikter Einhaltung gegebener Randbedingungen resultierende Fähigkeit spezieller Materieformen, selbstreproduktive Strukturen hervorzubringen. Oder – und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus La Mettrie solche Sätze gelesen hätte –: Indem wir das Phänomen Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form äußert, ja, daß aus der materiellen Organisation schließlich auch nicht-materielle Wirkungen hervorgehen.

Bleiben wir innerhalb der philosophischen Sprache, die jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der Anspruch La Mettries an das Denken existiert noch. Seine esprits animaux, seine organismische Struktur, seine Zirkulation des Blutes, der Lymphe, sein Bedürfnis, bei der Natur in ihrer großartigen Einfachheit zu verweilen, das alles hat inzwischen andere Namen, aber diese neuen Namen bestätigen, daß seine Wörter, die entstanden waren gegen das Himmel und Erde verfinsternde Vorurteil, ihre Helle nicht eingebüßt haben. Und die, die ihn als einen philosophierenden Unhold verdammten, hat er schon vorweg überholt mit dem Satz: In der Gesellschaft, in der er trotz seiner Kühnheit kaum mit Einfluß rechnen könne, sei seine einzige Maske die Maskenlosigkeit gewesen. Die Zeit, in der die gewissermaßen radikale Bezüglichkeit des Denkens auf den, der denkt, anstößig wirkte, ist vorbei. La Mettrie ist zwar ziemlich unbekannt geblieben, aber er müßte, um akzeptiert zu werden, nur noch gelesen werden.

II.

Wenn man in einem anderen das entdeckt, worin er nicht übertroffen werden kann, ist man glücklich. Und wenn man das in einem Denker entdeckt, der vor mehr als 250 Jahren gedacht und geschrieben hat, ist man glücklich und fröhlich. Daß man zu jeder Zeit Unüberholbares aussprechen oder schreiben kann, darf einen auf fröhliche Art festlich stimmen. Aber verfehlt man ihn nicht doch, wenn man sich so emsig um ihn bemüht? Der von Montaigne geerbte Anspruch: sich selbst zum Thema zu machen! Und La Mettrie hat, wie weit er dann auch ausgreift, nichts anderes getan, als eben sich, seinen Charakter zu Papier zu bringen, ohne daß ihm die radikale Inanspruchnahme der eigenen Erfahrung je zum Bloßprivaten verkommen wäre. Jetzt, mach’s auch so. Ohne es nachzumachen. Dein durch La Mettrie geschärftes Thema: Die Erziehung als Ausbildung zum Gefangenen. Von Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen, deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine Persönlichkeit entwickelt. Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. Wieviele Persönlichkeiten einer dann ausbildet, hängt davon ab, wieviele er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht. Ein paar Berufspersönlichkeiten und ein paar Privatpersönlichkeiten sind es allemal. Der Erfolg dieser Persönlichkeitenentwicklung hängt davon ab, wie sehr es dir gelingt, jede Persönlichkeit, wenn du sie brauchst, wenn sie also agiert, als deine einzige zu produzieren. Dazu mußt du jedesmal selber glauben, das jetzt seist du ganz und gar. Dann wird dir das auch von anderen geglaubt. Dieser mozartische Kettenzerbrecher hat dich hingewiesen wie auf deine Gefangenschaft. Also, dem Befreier La Mettrie gewidmet: du als der Gefangene. Du bist nichts so sehr wie der Gefangene. Von Anfang an. Was auch immer du an Fluchten geplant und ausgeführt hast, du bist ausgebrochen als der Gefangene, und wo du hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht. Die Lage ist schwieriger als zu La Mettries Zeiten. Sein Haß gegen die Vorurteilsfürsten seiner Zeit, gegen die Theologen und gegen die das Vorurteil kultivierenden Philosophen, war leicht zu haben. Die Szene war danach. Die Szene hat sich verfeinert. Wessen Gefangener bist du denn? Auf jeden Fall erleidest du eine Daseinsminderung auf Schritt und Tritt, weil du nicht dein Leben lebst, sondern ein Gefangenenleben. Das ist geworden aus einem Erziehungprogramm, dem man nichts Böses nachsagen kann. Du darfst dich für typisch halten. Andere, die du liebst, wieder andere, die du nicht liebst, kommen dir verwandt vor. Durch Erfahrung oder Schicksal. Ihr könnt euch in allem vergleichen, aber daß ihr Gefangene seid und wie sehr, das verschweigt ihr vor einander. Du bist jetzt immerhin so weit, daß du dir, sobald du dein Gefangensein verheimlichst, nichts mehr glaubst. Von allen Persönlichkeiten, die du hast entwickeln müssen, hat sich keine so übermäßig entwickelt wie die des Gefangenen. Daß du nicht sagen darfst, wessen Gefangener du bist, macht dich mundtot. Daß dir erlaubt ist, dich für frei zu halten, du aber von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch machen kannst, macht dich vor dir selbst zum Feigling. Denen, die mit dir zu tun hatten, ist es gelungen, ohne Plan gelungen, ganz von selbst gelungen, dich zu einem Menschen zu machen, der von keiner angebotenen Freiheit Gebrauch machen kann. Er kann einfach nicht. Er ist ein Gefangener. Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl. Das angeborene oder anerzogene Gewissen. Ob angeboren oder anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste, unbetrügbarste Regung, deren du fähig bist. Die Gegenwelt, deren Gefangener du von Anfang an bist, ist das Gute. Du kannst den Mund nicht aufmachen gegen das Gute, ohne dir schlecht vorzukommen. Du erkennst das, was als das Gute gilt und herrscht und es wahrscheinlich sogar ist, du erkennst es nicht an. Aber du wagst es nicht, daraus Handlungen werden zu lassen. Du bist der Gefangene, das heißt, du darfst nicht sagen, was du denkst; du darfst nicht handeln, wie du willst, sondern du mußt leben, wie du mußt. Und daß Rousseau meint, wer glaube, der Herr über andere zu sein, sei noch mehr ein Sklave als jene, über die er Herr ist, hilft dir nicht. Das ist nichts als eine Gerechtigkeitsillusion. Von dir wird sogar verlangt, daß du dein Gefangensein kein bißchen sehen, spüren, merken läßt. Alle deine Verrichtungen, Äußerungen, Handlungen, müssen aussehen, als geschähen sie freiwillig. Bis zum Aberwitz werden Wörter gedrillt, wird die Grammatik gequält, um zu beweisen, der Mensch habe einen freien Willen. Das wiederum findet statt, um ihn bestrafbar zu machen. Dabei ist zuzugeben, daß schon die Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, ein Witz ist. Jede Frage kann so beantwortet werden, wie sie es wünscht. Mehr noch, sie enthält die Antwort ganz und gar. Anders wäre dein Leben die stummste Trostlosigkeit. Aber da du durch Erfahrung weißt, daß du genau so keinen freien Willen hast, wie du einen freien Willen hast, kannst du dir einbilden, es gebe überhaupt Spielraum. Eines Tages wird das Leben auf deine Träume hören. Es kann nicht anders. Und das Wichtigste: du hast in deinen Träumen keine Schuldgefühle. Du unterliegst zwar regelmäßig und mußt furchtbare Mißhandlungen und Demütigungen hinnehmen; aber immer erst, wenn du ausgebrochen bist, aufgebrochen bist, losgeschlagen hast, wenn dir eine im Traum nicht meßbare Zeiteinheit lang Freiheit gelungen ist. Shakespearisierend kannst du dir in deinen Träumen vorkommen. Trotz der Bestrafungen, denen du dann regelmäßig unterworfen wirst, trotz der Gemeinheiten, die dir dann körperlich und seelisch angetan werden: du hast Freiheit gehabt. Du warst nicht meßbare Zeiteinheiten lang frei von Schuldgefühlen. Das wird durch nichts so deutlich, wie durch das Erwachen. Der Sturz des Gefangenen in sein Zeug. Das Verstummen. Das Verneintsein. So sehr, daß du es nicht nur geschehen läßt. Der Grad des Verneintseins produziert eine diesem Grad entsprechende Kraft. Zuerst nur als Vorstellung. Aber je unverfälschter du dein Gefangensein als Verneintsein erlebst, um so deutlicher erlebst du diese Kraft, die wirkt, als könntest du alles, was du willst. Das kann doch nicht nur eine Einbildung sein, ein Schattenkringel an der Wand der Zelle, in die keine Sonne fällt? Die Frage ist die Antwort. Columbus hatte nichts als eine Himmelsrichtung. Der Rest war Seemannschaft. Die Sprache, in der du es jetzt ausdrückst, ist eine Sklavensprache. Sie ist ein Signal. Verständlich, hoffst du, denen, die auch in einer Gefangenschaft leben. Vielleicht ruft einer zurück. Oder viele rufen zurück. Illusion. Des Gefangenen. Daß das so ist, ist dir denkbar geworden durch den emsigen Umgang mit dem, der die Ketten des Vorurteils und der Schuldgefühle zerbrach. Julien Offray de La Mettrie. Der Umgang mit ihm wird fortgesetzt. Am 20. Mai 1887 schrieb Nietzsche an einen Freund: «Die Behauptung Plato’s, daß man mit Massage sogar Gewissensbisse heilen könne, verdiente, erprobt zu werden.» Heureka!

Dr. Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg am Bodensee, studierte in Regensburg und Tübingen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1951. Von 1949 bis 1957 arbeitete er beim Süddeutschen Rundfunk als Reporter, Regisseur und Hörspielautor. Seit 1957 lebt er als freier Schriftsteller in Überlingen am Bodensee. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Am 11. Oktober 1998 erhielt Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche den «Friedenspreis des Deutschen Buchhandels».

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