Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Entspannt euch, liebe Eltern – ihr könnt die Intelligenz eures Kindes kaum beeinflussen
Im Klassenzimmer der Rudolf-Steiner-Schule in St. Gallen, im September 2023. Bild: Keystone/Gaëtan Bally.

Entspannt euch, liebe Eltern – ihr könnt die Intelligenz eures Kindes kaum beeinflussen

Gene sind der wichtigste Faktor für die individuelle Intelligenz. Ihr Einfluss steigt mit zunehmendem Alter.

Read the English version here.

Intelligenz steht seit einem Jahrhundert im Mittelpunkt der «Nature-Nurture»-Debatte. Inzwischen akzeptieren Wissenschaft und Gesellschaft weitgehend den Einfluss der Genetik auf die kognitive Entwicklung. Dennoch unterschätzen viele Menschen die zentrale Bedeutung vererbter DNA-Unterschiede. In meinem Buch «Blueprint» präsentiere ich Forschungsergebnisse aus fünfzig Jahren, die zeigen, dass vererbte DNA-Unterschiede die wichtigste systematische Kraft hinter individuellen Intelligenzunterschieden sind. Diese Erkenntnis ist für viele überraschend – besonders für Eltern, denen beigebracht wurde, ihre Erziehung und die Schulbildung seien die entscheidenden Faktoren für die kognitive Entwicklung ihrer Kinder.

Zwillings- und Adoptionsstudien aus dem letzten Jahrhundert liefern überwältigende Beweise für den Einfluss der Gene auf kognitive Fähigkeiten bei Kindern. Dies zeigt sich in der allgemeinen kognitiven Fähigkeit (gemessen am Intelligenzquotienten [IQ]), in spezifischen verbalen Fähigkeiten wie Wortschatz und nonverbalen Fähigkeiten wie räumlichem Vorstellungsvermögen sowie in schulischen Leistungen. Die Forschung belegt dies eindeutig: Adoptivkinder weisen IQ-Werte auf, die eher ihren biologischen Eltern als ihren Adoptiveltern ähneln. Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge weisen fast die gleiche Ähnlichkeit auf wie zusammen aufgewachsene. Und eineiige Zwillinge, die genetisch identisch sind, zeigen deutlich mehr Übereinstimmungen als zweieiige Zwillinge, die – wie gewöhnliche Geschwister – nur zur Hälfte genetisch übereinstimmen.

Die Natur der Erziehung

Die Daten aus Hunderten von Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, dass genetische Unterschiede etwa fünfzig Prozent der Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten zwischen Kindern erklären. Diesen Einfluss nennt man Erblichkeit – sie zeigt, inwieweit Unterschiede zwischen Menschen auf vererbte DNA-Unterschiede zurückzuführen sind. Bemerkenswert ist, dass beide sehr unterschiedlichen quasiexperimentellen Methoden zu derselben Erblichkeitsschätzung von etwa fünfzig Prozent kommen. Noch erstaunlicher ist, dass wir heute DNA direkt nutzen können, um Intelligenz und akademische Leistungen vorherzusagen, wie später erläutert wird.

Weniger bekannt als die beträchtliche Erblichkeit der Intelligenz ist eine überraschende Erkenntnis über deren Entwicklung im Lebensverlauf. Die Genetik erklärt im Durchschnitt 50 Prozent der Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten zwischen den Menschen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein linearer Anstieg: von 20 Prozent in der frühen Kindheit über 40 Prozent in der Kindheit und 60 Prozent im Erwachsenenalter bis hin zu 80 Prozent im späten Erwachsenenalter. Vererbte DNA-Unterschiede gewinnen also mit zunehmendem Alter an Bedeutung – entgegen der naheliegenden Vermutung, dass die Intelligenz im Laufe des Lebens stärker von Shakespeares «Schleudern und Pfeilen des empörenden Schicksals» geprägt werde.

Warum nimmt die Erblichkeit im Laufe des Lebens zu? Die Antwort offenbart eine weitere wichtige Erkenntnis aus der genetischen Forschung: Die Umwelt ist nicht einfach «da draussen» und trifft uns nicht wie passive Zuschauer. Vielmehr wählen, gestalten und schaffen intelligentere Kinder aktiv Erfahrungen, die mit ihren genetischen Veranlagungen zu Hause, in der Schule und im gesamten Leben in Wechselwirkung stehen. Sie lesen mehr, denken intensiver und ziehen grösseren Nutzen aus der Schule. Wenn Kinder das Elternhaus verlassen und ihren eigenen Weg gehen, entwickeln sich diese genetisch gesteuerten Erfahrungen wie ein Schneeballeffekt zu immer deutlicheren Unterschieden in den intellektuellen Fähigkeiten. Dieses Phänomen wird fachlich als Gen-Umwelt-Korrelation bezeichnet oder umgangssprachlich als die Natur der Erziehung.

Was ist mit der «anderen Hälfte»?

Eine weitere Überraschung aus der genetischen Forschung betrifft die Ursache der «anderen Hälfte» der Unterschiede zwischen Kindern in kognitiven Fähigkeiten. Wenn die Hälfte der Unterschiede auf die Natur zurückzuführen ist, müsste die andere Hälfte doch durch die Erziehung – also das familiäre Umfeld, das Eltern ihren Kindern bieten – bedingt sein. Dies trifft tatsächlich bis zu einem gewissen Grad in der Kindheit zu. Die IQ-Werte von Adoptivgeschwistern (genetisch nicht verwandte Kinder in derselben Adoptivfamilie) korrelieren beispielsweise mit 0,25, was bedeutet, dass 25 Prozent der IQ-Unterschiede zwischen Kindern auf das Aufwachsen in derselben Familie zurückzuführen sind. Dieser gemeinsame Umwelteinfluss nimmt jedoch in der Adoleszenz ab und verschwindet im Erwachsenenalter, wenn die Kinder ihren eigenen Weg gehen – sogar bei ihren universitären Leistungen. Langfristig sind es also nicht die geteilten familiären Umweltfaktoren, die einen entscheidenden Unterschied ausmachen.

Was sind diese mysteriösen nichtgeteilten Umweltfaktoren, die Kinder aus derselben Familie unterschiedlich prägen? Nach drei Jahrzehnten Forschung zur Identifizierung dieser Faktoren komme ich in einem 2024 erschienenen wissenschaftlichen Artikel zu einem klaren Schluss: Sie sind im wissenschaftsphilosophischen Sinne zufällig und damit unvorhersehbar. Diese Zufälligkeit entsteht als Rauschen aus der Komplexität biologischer Systeme. In der gesamten Wissenschaft – von der Quantenmechanik über die Biologie bis zur Kosmologie – ersetzt die Zufälligkeit zunehmend den traditionellen, überheblichen Glauben an den Determinismus. Die nichtgeteilten Umwelteinflüsse, die für fast die Hälfte der Intelligenzunterschiede verantwortlich sind, scheinen also eher eine Frage des Zufalls als der bewussten Wahl zu sein.

Die DNA-Revolution

Die spannendste Entwicklung ist die DNA-Revolution, die es ermöglicht hat, DNA direkt zur Vorhersage von Intelligenz und akademischer Leistung zu nutzen. Diese Revolution begann Anfang dieses Jahrhunderts mit der Sequenzierung der drei Milliarden Basenpaare der DNA – mit den Stufen in der Wendeltreppe der DNA-Doppelhelix, die wir als Genom bezeichnen. Dabei haben wir eine erstaunliche Erkenntnis gewonnen: Wir Menschen teilen 99,9 Prozent dieser DNA-Sequenz. Es sind die wenigen DNA-Unterschiede – einer von tausend –, die wir bei der Empfängnis erben, die uns zu Individuen machen. Noch faszinierender ist, dass jeder von uns als eine einzige Zelle begann, mit je einer Hälfte der DNA von Mutter und Vater, und dass diese identische DNA heute in allen Billionen Zellen unseres Körpers vorhanden ist.

Ein wichtiger Durchbruch war die Erkenntnis, dass die Vererbbarkeit komplexer Merkmale wie Intelligenz nicht auf ein einzelnes oder wenige Gene zurückgeht, sondern auf Tausende von DNA-Unterschieden mit jeweils minimalen Auswirkungen. Diese vielen winzigen DNA-Unterschiede lassen sich zu einem Index zusammenfassen – dem sogenannten «Polygenen Score» –, der zur Vorhersage von Unterschieden zwischen Kindern dient. Heute können polygene Scores 14 Prozent der IQ-Unterschiede zwischen Kindern vorhersagen. Die präzisesten Vorhersagen liefern diese Scores für den Bildungserfolg. In Grossbritannien absolvieren alle 16-Jährigen am Ende der Pflichtschulzeit eine nationale Prüfung, das General Certificate of Secondary Education (GCSE). Nach nur einem Jahrzehnt DNA-Forschung können wir bereits mehr als 17 Prozent der Unterschiede in den GCSE-Ergebnissen allein anhand der DNA vorhersagen. Dies zeigt sich deutlich darin, dass nur 25 Prozent der Kinder mit den niedrigsten polygenen Scores ein Universitätsstudium aufnehmen, während es bei den 10 Prozent mit den höchsten Scores 75 Prozent sind.

Diese 17 Prozent liegen zwar noch weit unter den 60 Prozent Erblichkeit der GCSE-Ergebnisse – es gibt also noch viel Potenzial für präzisere DNA-Vorhersagen. Dennoch stellen 17 Prozent in der Psychologie bereits eine beachtliche Vorhersagekraft dar. Zum Vergleich: Die offiziellen Schulqualitätsbewertungen in Grossbritannien, die auf mehreren Indizes basieren, erklären lediglich 4 Prozent der GCSE-Ergebnisse der Schüler. Das bedeutet, die DNA hat eine mehr als viermal so hohe Vorhersagekraft wie die Schulqualität.

Was Eltern wirklich tun können

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Eltern weitaus weniger Kontrolle über die Intelligenz und schulischen Leistungen ihrer Kinder haben, als sie vermuten. DNA-Unterschiede sind der Hauptfaktor für systematische Unterschiede zwischen Kindern (Erblichkeit). Umwelteinflüsse erweisen sich langfristig als zufällig (nichtgeteilte Umwelt), und was zunächst wie systematische Effekte der Erziehung erscheint, entpuppt sich in Wirklichkeit als verschleierte genetische Effekte (die Natur der Erziehung).

Anders ausgedrückt haben Eltern – über den genetischen Bauplan hinaus, den ihre Gene bereitstellen – wenig systematischen Einfluss auf die kognitive Entwicklung ihrer Kinder. Es gibt keine wissenschaftlichen Nachweise dafür, dass der Erfolg der Kinder davon abhängt, ob Eltern ihnen «Durchhaltevermögen» einimpfen oder 10 000 Stunden Training geben. Das heisst nicht, dass Eltern ihre Kinder einfach sich selbst überlassen sollten. Eltern können und sollten das Verhalten ihrer Kinder lenken und ihre Aktivitäten begleiten. Allerdings verändert dies nicht die kognitive Entwicklung der Kinder.

«Eltern können und sollten das Verhalten ihrer Kinder lenken und ihre Aktivitäten begleiten. Allerdings verändert dies nicht die kognitive

Entwicklung der Kinder.»

Wichtig ist: Diese Schlussfolgerung gilt nur für die Erziehung in den untersuchten Stichproben, die keine Fälle schwerer Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung umfassen. Wie Judith Rich Harris es in ihrem Buch «The Nurture Assumption» treffend formulierte: «Wir haben ihre Zukunft vielleicht nicht in der Hand, aber ganz sicher ihre Gegenwart, und wir haben die Macht, ihre Gegenwart sehr elend zu machen.»

Ich hoffe, diese Erkenntnisse befreien Eltern von der Illusion, dass der Erfolg ihrer Kinder von ständigem Antreiben abhängt. Dies bedeutet keineswegs, dass Gene unser Schicksal bestimmen. Vielmehr ist es klüger, mit den genetischen Veranlagungen im Einklang zu leben, statt dagegen anzukämpfen.

Ich schlage vor, Erziehung nicht als blosses Mittel zum Zweck zu sehen. Sie ist eine Beziehung, und zwar eine der längsten in unserem Leben. Unterstützt eure Kinder, weil ihr sie liebt und ihr Glück wollt, nicht weil ihr sie nach euren eigenen Vorstellungen formen möchtet.

«Unterstützt eure Kinder, weil ihr sie liebt und ihr Glück wollt, nicht weil ihr sie nach euren eigenen Vorstellungen formen möchtet.»

Entspannt euch und geniesst die Beziehung zu euren Kindern. Eine der grössten Freuden liegt darin, zu beobachten, wie sich eure Kinder zu den Menschen entwickeln, die sie sind.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!