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Entlang der Nahtstellen: In Han Kangs neuem Roman vermischt sich das historische Bewusstsein mit individuellem Schicksal
Han Kang: Unmöglicher Abschied. Roman. Aus dem Koreanischen übersetzt von Ki-Hyang Lee. Berlin: Aufbau-Verlag, 315 Seiten.

Entlang der Nahtstellen: In Han Kangs neuem Roman vermischt sich das historische
Bewusstsein mit individuellem Schicksal

Müsste man der Frage nach dem Ursprung von Han Kangs poetischer Kraft, mit der sie Bücher wie «Griechischstunden» oder «Die Vegetarierin» hervorbrachte, nachgehen, fände man im aktuellen Buch «Unmöglicher Abschied» eine einfache, verdichtete Antwort. Das literarische Arbeitsgebiet der jungen südkoreanischen Nobelpreisträgerin verläuft im Wesentlichen immer entlang der Nahtstellen – und das in dreifacher Weise.

Zunächst gelangt man mit diesem Stichwort bereits mitten in die Handlung ihres Buches. Eine Frau namens Gyeongha besucht ihre Freundin Inseon im Krankenhaus. Ihr wurde bei einem Unfall ein Teil ihrer Hand abgetrennt und nun braucht sie jemanden, der sich auf der abgelegenen Insel Jeju um ihren Vogel kümmert. Auf jener Insel, wo vor bald 80 Jahren Zehntausende Menschen ihr Leben bei einem Aufstand verloren haben.

Die Fingerglieder der verletzten Inseon müssen regelmässig durch Schmerzreize stimuliert werden. Mit dem fliessenden Blut, dem Fühlen des Schmerzes und parallel dazu dem Fallen des Schnees beginnt sozusagen die eigentliche Geschichte. Das Buch erzählt von der Freundschaft zwischen Gyeongha und Inseon, aber auch vom Massaker. Das historische Bewusstsein, dem sich Han Kang bereits in «Menschenwerk» widmete, vermischt sich mit individuellem Schicksal.

Neben diesen beiden Handlungssträngen steht die Nahtstelle auch für ihren literarischen Ansatz, der empfundene Schmerzen zum poetischen Prinzip macht. So wie diese in der Geschichte immer wieder erlebt werden müssen, um das Verfaulen der Finger zu verhindern, geht es Han Kang darum, dem Schmerz trotzend gegen das Vergessen anzuschreiben.

Die Nahtstellen als Übergänge treten im Werk ebenfalls vielfältig hervor. Zwischen Träumen und Wachen, zwischen Mensch und Natur, Vergessen und Erinnern öffnet Han Kang einen erzählerischen Raum, dessen Leitmetapher der Schnee ist, der sich über alles legt. Und die Übersetzerin Ki-Hyang Lee schenkt ihr eine wunderbar schlichte, ganz eigene Stimme, mit der sie zum Einstieg einlädt in ihr wunderbares Werk.

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