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Energiewende?

Es wird viel geredet über die Zukunft der Schweizer Energiewirtschaft. Die Energiewende ist dabei längst beschlossen, über das «Warum eigentlich?» wissen wir aber noch immer nichts. Warum eigentlich?

An zahllosen Tagungen diskutieren Energiefachleute und Energiepolitiker intensiv über die technischen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten der Energiewende, über deren wirtschaftspolitische und rechtliche Konsequenzen, über die Kosten für das Ganze und vor allem über den Kostenteiler. Diese Diskussionen eint ein Tatbestand: Die Energiewende gilt als gegeben. Auch wenn sich einige gewichtige Stimmen (wie z.B. Swissmem und scienceindustries) gegen die Pläne des Bundesrates äussern, geht es bei dieser Kritik weniger um das Ziel als um den Weg – und natürlich um die Fristen. Im allgemeinen ist es so, wie es ist, wie es das Titelblatt der Broschüre der Agentur für erneuerbare Energien und Energieeffizienz sagt: «Die Energiewende kommt. Und alle machen mit.»

Die Frage nach Ziel und Sinn der Energiewende kann also nur noch von ausserhalb dieses scheinbaren Konsenses, also quasi aus der Hofnarr-Perspektive, gestellt werden. Die folgenden Bemerkungen sind ein Versuch, in dieser problematischen Rolle das kaum diskutierte «Warum» der Energiewende zu erörtern.

Die Frage nach diesem «Warum» ist nicht trivial. Sie drängt sich umso mehr auf, als die Energiewende, insbesondere der Ausstieg aus der Kernenergie, nicht dem helvetischen «courant normal» entspricht, also dem Gang der Dinge, den man eigentlich in der langsamen bzw. «besonnenen» Schweiz erwarten würde. Auch die üblichen Erklärungen bzw. Motivationen für politisches Handeln scheinen nicht zu greifen, ja nicht einmal sonst hochgehaltene ökonomische oder rechtliche Prinzipien. Drei Überlegungen dazu:

– Zunächst ist es paradox, dass eine Stromsituation, die noch vor kurzem als ideal taxiert wurde, plötzlich als absolut unhaltbar gilt. Trotz der ökonomischen Vorzüge, trotz Emissionsarmut, trotz des unbestreitbaren Leistungsausweises bezüglich Sicherheit und Versorgung soll der gewachsene Produktionsmix von Hydropower und Kernkraft subito radikal umgebaut werden. Solche «Wenden» sind immer dramatisch, insbesondere in Indus­trien mit sehr hohem Kapitalstock in der Infrastruktur, d.h. extremer Pfadabhängigkeit. Für die Vorstellung, 40 Prozent der Stromproduktion aufzugeben, fallen einem kaum historische Analogien ein; man ist versucht, an die merkwürdige eigenwillige Zerstörung der chinesischen Hochseeflotte des Admirals Zheng He im 14. Jahrhundert zu denken. Schon das in der Energiediskussion zum obersten Glaubenssatz avancierte Nachhaltigkeitsgebot müsste eigentlich zur Bewahrung von bereits getätigten Investitionen in die Stromproduktion führen, zum haushälterischen Umgang mit ökonomischen Ressourcen also, wie es ja auch die Bundesverfassung verlangt.

– Zweitens handelt es sich bei der Wende – wenn man von den deutschsprachigen Nachbarländern absieht – um einen Alleingang. Auf der Welt gibt es keine Energiewende, weder im Mix noch bezüglich des Wachstumspfads. Normalerweise setzt die schweizerische Wirtschaftspolitik auf Austausch, Kooperation, internationale Standards und in Europa sogar auf Integration. Alleingänge im wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Bereich sind in einer kleinen offenen Volkswirtschaft verpönt (wenn es nicht gerade um den Schutz der Landwirtschaft geht). Für die Energiewende besteht auch kein Druck von aussen. Niemand fordert eine Anpassung an Standards, wie dies im Finanz- und Fiskalbereich aufgrund der Schuldenkrise der westlichen Wohlfahrtsstaaten der Fall ist. Es ist vielmehr eine traurige Ironie, dass ein sicherer, vergleichsweise autarker Bereich der Volkswirtschaft aus eigenem Antrieb umgekrempelt wird, während gleichzeitig die Schuldenkrise einen fundamentalen Umbau des Finanzsektors erzwingt, dieser aber weit weniger konsequent angegangen wird. Selbst wenn ein massives Schrumpfen der Finanzwirtschaft abgewendet werden könnte – was höchst unsicher ist –, scheinen dauerhaft tiefere Margen gewiss. Viele Beobachter sehen deshalb in der Industrie den Schlüssel für die zukünftige Sicherung des Wohlstandes. Dies wäre aber nur denkbar durch beständige Steigerungen der Wertschöpfung, sprich: höheren Kapitaleinsatz, sprich: Automatisierungen, sprich: höheren Strombedarf.

– Wenn, drittens, überhaupt eine Notlage auszumachen ist, die eine Wende bedingen oder rechtfertigen würde, ist dies offensichtlich auf absehbare Zeit kein Mangel (wie seinerzeit vom Club of Rome oder heute von den Peak-Oil-Predigern behauptet wird), sondern der Klimawandel, also der CO2-Ausstoss. Wenn man die Wende so begründet, stellen sich aber verschiedene weitere Fragen, die in der öffentlichen Diskussion nur zu gern verdrängt werden:

– Kann die Schweiz, ja die westliche Welt generell, das CO2-Geschehen überhaupt beeinflussen? Das Energiegeschick der Welt wird sicher nicht in der Schweiz oder in Deutschland bestimmt. Für die Hunderten von Millionen Haushalte im Süden und Osten, die noch nicht einmal Zugang zu Strom haben, sind Abschalten und Sparen keine Optionen. Zur Überwindung der Armut werden die aufstrebenden Volkswirtschaften alle verfügbaren Energiequellen nutzen, vor allem die Kohle. Es ist bis zu einem fundamentalen technischen Sprung – zum Beispiel in der Fusion – ökonomisch und politisch schlicht nicht vorstellbar, dass bereits entdeckte fossile Vorräte nicht eines Tages genutzt werden.

– Wenn es also bei der Energiewende wirklich in allererster Linie um das Klima bzw. den CO2-Ausstoss geht, müsste dann diese Wende nicht primär oder gar ausschliesslich bei den fossilen Brenn- und Treibstoffen ansetzen anstatt beim CO2-freien Strom in der Schweiz? Dies geht natürlich nicht, weil bei den Brenn- und Treibstoffen der Weltmarkt spielt und politische Verknappungen sofort zu Substitutionsbeschaffungen führen würden. Damit gleicht aber die auf das Stromsparen ausgerichtete Energiepolitik dem Mann, der unter einer Strassenlaterne verzweifelt sein Portemonnaie sucht und auf die Frage, wo er es denn verloren habe, antwortet: «Da drüben, aber dort ist es zu dunkel zum Suchen.»

– Schliesslich die Gretchenfrage: Würde ein wirklich fokussierter Ansatz zur Reduktion des fossilen Verbrauchs – sei es bei der Mobilität, sei es bei der Gebäudeheizung – nicht zwingend zu einem höheren Strombedarf für Pumpen, Sensoren, kurz: für komplexe Systeme aller Art, führen?

Als wenn solche Ungereimtheiten nicht schon problematisch genug wären, scheint mit der Energiewende manchmal auch die ökonomische Vernunft ausser Kraft gesetzt. Der Stromverbrauch soll (bei sehr wahrscheinlich steigender Nachfrage) schon mittelfristig um rund ein Drittel verkleinert werden. Gleichzeitig verlangt die Wirtschaft vehement, dass der Strom «günstig» bleibt. Günstig heisst, dass jemand die Differenz zwischen dem erzielbaren Preis und einem politisch (häufiger ist das Wort «sozial») annehmbaren Preis zahlt. Ob dies durch Verzicht geschieht, indem den Stromproduzenten durch Lieferverpflichtungen (eleganter: Mengenpool) Erlöse entgehen, oder – wie in vielen armen Ländern – durch Subventionierung der Treibstoffe, ist nebensächlich. Mit dem Vergünstigen, auch wenn es zu Lasten der Steuerzahler geht, wird das wichtigste Steuersignal der Marktwirtschaft ausgeschaltet: der Preis. Und weil die günstigen Dinge begehrte Schnäppchen sind, muss die Vergünstigung mit Rationierungen oder einer Einschränkung der «Berechtigten» verbunden werden. Die Schwerindustrie darf günstigen Strom beziehen, aber die armen KMU, die ebendiesen Grossbetrieben zuliefern, nicht. Kurz, man landet blitzartig in einer Planwirtschaft mit Kontrollen, Ausnahmen, Privilegien und einer riesigen Administration. Marktpreise und Gewinne, die für zukunftsträchtige Innovationen eine zwingende Voraussetzung sind, haben in dieser illiberalen Energieperspektive keinen Platz. Hinzu kommt, dass in der deutschen Wirtschaft zahlreiche Massnahmen der Energiewende soeben quasi am lebenden Patienten mit schlimmen Folgen ausprobiert worden sind. Das hindert ganz offensichtlich schweizerische Politiker nicht, fast ultimativ eine massive Ausweitung der KVE zu verlangen!

Also nochmals die Frage: Warum solche ökonomische Verrenkungen, warum dieses Jahrhundertprojekt, warum die gewaltige Anstrengung, beinahe, als wäre man im Krieg? 

Wegen Fukushima?

Das Tsunami-Unglück in Fukushima mag für die politische Propaganda ein guter Stimulus sein, kann aber nicht als seriöses Argument für eine Energiewende gelten. Die einzige vernünftige bzw. ethische Antwort auf Unglücksfälle und Pannen ist, daraus zu lernen, d.h. Systeme zu verbessern. Ein Ausstieg aus der Kernkraft löst ja weder das Klimaproblem noch das Problem der Gefahr bei Pannen (Fessenheim ist von Basel gleich weit entfernt wie Leibstadt oder Mühleberg), noch das Entsorgungsproblem. Im übrigen darf man daran erinnern, dass in Fukushima bis heute niemand durch ausgetretene Strahlung ums Leben gekommen ist.

Fukushima scheint als Pauschalbegründung und somit Erklärung für die Energiewende also nicht geeignet. Die Frage bleibt offen. Im folgenden werden deshalb zwei andere Erklärungsansätze auf die Warum-Frage skizziert, beide hypothetisch. Die beiden Thesen liegen nicht auf der gleichen Linie, sind aber komplementär.

Moralische Codierung

Die erste, die kulturelle Erklärung ist die moralische Codierung der Energiefrage. Diese moralische Codierung geht allen Fakten, allen ökonomischen Überlegungen und allen Güterabwägungen vor. Cost-Benefit-Analysen scheinen dann sinnlos, weil die Kernkraft, manchmal gar die ganze bisherige Stromindustrie in dieser voraussetzungslosen Verurteilung als das Böse schlechthin erscheinen.

Die moralische Codierung, die in der Öffentlichkeit und vor allem in der Politik kaum hinterfragt wird, ist das Resultat von zwei verwandten historischen Prozessen:

Zum einen ist die in den 1970er Jahren entstandene zivilisa­tionskritische Bewegung des «small is beautiful» in der föderalistischen, kleinräumigen Schweiz auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Das Denkmuster klein = gut vs. gross = problematisch resultiert in einem Generalverdacht gegen «mächtige» Industrien, in denen Skaleneffekte eine zentrale Rolle spielen. Der Kampfbegriff der «Atomlobby» illustriert die Wirkung solch tief verankerter Gegensätze. Dabei wird ausgeblendet, dass gerade die Stromindustrie in der Schweiz sehr fragmentiert ist, vor allem aber, dass sie sich grossmehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand befindet und damit letztlich politisch gesteuert ist. Die Verschwörungstheorien von Nationalrat Paul Rechsteiner und Tiraden über die «profitgierigen Konzerne», die zur «Gewinnmaximierung» schmutzigen Atomstrom für den Betrieb von Pumpspeicherwerken «vergeuden», entbehren so nicht der Ironie.

Den anderen Hintergrund für die Moralisierung der Energiepolitik bildet die grüne Bewegung, die als Erbe der Friedensbewegung der 1950er und 1960er Jahre und auf dem Hintergrund eines deutsch-romantischen Naturverständnisses sowie einer Hysterie um das «Waldsterben» die institutionelle Politik und die Parteienlandschaft im deutschsprachigen Europa nachhaltig verändert hat. Besonders interessant ist dabei (auch für die Schweiz), wie die ursprünglich technik- und auch nuklearfreundliche tra­ditionelle Linke die Verdammung der Nukleartechnologie in ihr Programm übernommen hat, zunächst aus taktischen und populistischen Gründen, bis es dann auf dem Weg durch die Institutionen zum Schulterschluss mit den Grünen gekommen ist – nicht zuletzt aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der deutschen Parteienlandschaft. Die grüne Bewegung aber verdankt ihre Existenz dem «Kampf gegen das Atom», zuerst gegen die (westlichen) Nuklearwaffen, dann gegen die Nutzung der Kernkraft überhaupt. Trotz der dringlichen Diskussion über den Klimawandel, trotz der geschilderten ökonomischen Tatbestände, trotz der technischen Notwendigkeiten gerade in einem alternativen Szenario (etwa dem Einsatz von Pumpspeicherwerken zur Kompensation von Schwankungen bei Wind und Sonne), trotz einer also in jeder Hinsicht neuen Lage kann dieser zentrale Programmpunkt nicht in Frage gestellt werden, ohne dass man die politische Daseinsgrundlage verlieren würde.

Politökonomisches System

Die zweite These zur Beantwortung des «Warum» bezieht sich auf das politisch-ökonomische System. In den hochentwickelten Wohlfahrtsstaaten eröffnen der Klimawandel und damit die Energiefrage ein grosses neues Feld staatlicher Legitimation für Umverteilungen, insbesondere für die Industriepolitik. Aufgrund der demographischen Entwicklung und der Globalisierung, aber auch wegen der Schuldenkrise wurden die traditionellen Handlungsfelder des Wohlfahrtsstaates, soziale Sicherheit, Gesundheitspolitik, Industrie- und Arbeitsmarktpolitik, stark eingeschränkt, eine wirksame Kontrolle der Finanzmärkte – ob nun sinnvoll oder nicht – scheint ausserhalb des Möglichen. Der Kampf gegen den Klimawandel und der Umbau der Energielandschaft bieten dafür willkommene Gelegenheit für staatliche Förderungen und Interventionen. Die Resultate des «grünen Keynesianismus» bestehen bisher aber eher in der Subventionierung chinesischer Solarpanel-Fabriken als in der Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa oder den USA.

Trotz der offenen Volkswirtschaft und des liberalen Arbeitsmarktes scheint gerade die Schweiz mit ihrem fragmentierten Binnenmarkt, der überragenden Bedeutung der Regionalpolitik und der staatlich gelenkten Landwirtschaft für administrierte Preise, Subventionen und Kontingente besonders prädestiniert. Auch wenn glücklicherweise die Solar-Schaf-Farm in Inwil vorerst aufs Eis gelegt wurde, drängt sich schon die Horrorvision auf, wie sich die Clean-Tech-Szene als zweite Agrarlobby einrichtet, von Flächenbeiträgen für die Solarzellen bis zu den Windrädern als neuen Grossvieheinheiten. Nicht der Markt ist der ökonomische Massstab, sondern die Gestehungskosten, die selbstverständlich von der Allgemeinheit «vergütet» werden müssen. So wird denn auch fleissig über den «Überhang» an Gesuchen oder umgekehrt die «Förderungslücken» gejammert und gefordert: «Der Deckel muss weg!» Wie die Vierjahrespläne der Agrarpolitik zeigen, wäre dann nur sicher, dass der Deckel nicht mehr draufkommt. Nach wenigen Jahren entsteht ein Geflecht von Besitzständen und Abhängigkeiten, das politisch nie mehr rückgängig gemacht werden kann.

Die beiden Erklärungsansätze führen leider rasch zu einer eher fatalistischen Schlussfolgerung. Unter realen helvetischen Bedingungen mit der schier unübersehbaren Zahl von Veto-Playern dürfte die Energiewende

– zum gebremsten Ausstieg aus der Kernenergie (und dem irreversiblen Verlust des entsprechenden Know-hows) führen,

– zum Bau einiger im europäischen Kontext wenig sinnvollen GuDs (und dem Verlust der CO2-Unschuld), nach dem Vorbild des Denkmals Zwentendorf wahrscheinlich auf dem Gelände der heutigen KKWs platziert, weil das Netz ohnehin nicht in absehbarer Zeit aus- oder umgebaut werden kann,

– zu mehr Importen und

– zu einem superkomplexen und superteuren Netz mit Tausenden von marginalen Einspeisern und einer entsprechend grossen Vorhaltung von Regelenergie und

– nicht zuletzt zu einer neuen Bürokratie, die dadurch nicht besser wird, dass sie in unzählige Agenturen, Vereinigungen und Stiftungen ausgelagert ist. Vielmehr dürfte das Zertifikats- und Leistungsvereinbarungswesen nicht ganz immun gegen Interessenkonflikte und Korruptionsversuchungen sein, vor allem wenn die erste Generation der intrinsisch motivierten Energiewender bald einmal den smarten FH-Energie-Bachelors Platz macht.

Gibt es gegen diesen Fatalismus (oder Realismus?) noch eine sozusagen heroische Möglichkeit zu einer Wende der Wende? Nicht im Sinne der jetzt von einem Teil der Stromwirtschaft vertretenen «Ja, ABER»-Haltung, sondern im Sinne eines grundsätzlichen Zurückkommens z.B. auf die Zeit vor 10 Jahren, als noch über energiepolitische Entscheide abgestimmt wurde und das Volk sowohl den Atomausstieg mit Zweidrittelmehrheit ablehnte als auch eine Verlängerung des Moratoriums deutlich bachab schickte? Wie könnte ein solcher Rückkommensantrag aussehen?

Eine solche Gegendarstellung zur Energiewende müsste nicht primär technisch und ökonomisch, sondern moralisch argumentieren. Sie müsste auf Cost-Benefit-Analysen bestehen und die Moral von schönen Etiketten wie «Clean-Tech» und «CO-frei» hinterfragen. Sie müsste aufzeigen, dass viele Energieziele Phantasien der reichen und sauberen Länder sind, die auf einen Protektionismus, wenn nicht auf einen neokolonialen Entwicklungsstopp hinauslaufen: keine «schmutzigen» chinesischen Kühlschränke bei uns – aber auch keine in China! Sie müsste die Retrohaltung der 2000-Watt-Bewegten in Frage stellen und illustrieren, wie es in den 1950er und frühen 1960er Jahren um den Lebensstandard, die Säuglingssterblichkeit, um die Emanzipation der Hausfrauen, um den Zugang zu Mobilität, Information und Kommunikation und um die Verteilung des Reichtums bestellt war.

Sie müsste – grundsätzlicher – auch das Konzept der Nachhaltigkeit präzisieren und erklären, dass die Geschichte der Menschheit deshalb ein Erfolg ist, weil es nur mit dem Einsatz von Technik und Wissenschaft immer wieder gelang, neue Ressourcen auszubeuten und die Grenze des Systems und damit die carrying capacity der Erde – für den Menschen! – zu erweitern. Das wäre die Antistory zu den «Grenzen des Wachstums».

Die skizzierten Einwände zeigen, dass die Energiewende nicht nur ökonomisch, wissenschaftlich und klimapolitisch problematisch, sondern vor allem auch moralisch schwieriger zu rechtfertigen ist, als man gemeinhin glaubt. Gut und Böse sind keine Kategorien für Energiearten oder Stromquellen. Wenn schon eine ethische Differenzierung in Frage kommt, liesse sich die Grenze zwischen Böse und Gut vielmehr ziehen zwischen einer technikfeindlichen, antiwissenschaftlichen Haltung und jenen, die glauben, dass auf dem Raumschiff Erde der Stand der Technik und alle Ressourcen genutzt werden sollten, auch wenn es absolute Sicherheit nie geben kann.

Der Ökonom Martin Janssen hat die Energiewende mit dem – freiwilligen – Beschluss einer Gesellschaft verglichen, ab sofort nur noch einen Arm zu benützen und den anderen einzubinden. In der Folge gibt es eine Arm-Wende: Alles wird in dem Land umgebaut. Auch werden in dem Land die raffiniertesten Geräte und Hilfen und Ausbildungen für Einarmige entwickelt, die man sich vorstellen kann. Ein paar dieser Erfindungen kann man auch im Ausland an Unfall- oder Kriegsopfer verkaufen. Und jedes Jahr kommen Tausende von Touristen, um die Einarmigen zu bestaunen. So gelingt es mit viel Blut, Schweiss und Tränen, den Wohlstandsverlust einigermassen in Grenzen zu halten. Nur versteht nach kurzer Zeit niemand mehr, weshalb es zu dem Beschluss gekommen ist. Wir müssen aufpassen, dass mit der Energiewende nicht das gleiche geschieht.


Bei diesem Text handelt es sich um einen Vortrag, den Thomas Held anlässlich des VSE- Stromkongresses 2013 gehalten hat. Das Manuskript wurde redaktionell bearbeitet und ergänzt.

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