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Empfindungen der Freiheit I

Manchmal kitzelt es ihn an der Ferse, dort, wo ein kühler Luftzug an die alte Freiheit erinnert. Die meiste Zeit sitzt er im Verschlag seiner Wohnung, eilt morgens zur Arbeit, vertilgt manierlich seine Rationen und äfft seine Artgenossen nach. Unter dem Joch der Zivilisation hat er früh gelernt, sich unauf-fällig zu benehmen, sich den Eigensinn […]

Manchmal kitzelt es ihn an der Ferse, dort, wo ein kühler Luftzug an die alte Freiheit erinnert. Die meiste Zeit sitzt er im Verschlag seiner Wohnung, eilt morgens zur Arbeit, vertilgt manierlich seine Rationen und äfft seine Artgenossen nach.

Unter dem Joch der Zivilisation hat er früh gelernt, sich unauf-fällig zu benehmen, sich den Eigensinn zu verkneifen, das Verlies seiner selbst für ein Paradies zu halten. Hin und wieder blinzelt er durch einen schmalen Spalt hinaus. Doch wenn es ihn an der Ferse kitzelt, regt sich ein anderer Drang. Mehr als einen Ausweg sucht er aus der geknebelten Existenz. Von der Freiheit träumt er, von der Freiheit nach allen Seiten.

Viele Menschen fürchten die grosse Freiheit, die bodenlose, haltlose Behendigkeit des Springens, Tobens, Schwebens, da alle Fesseln und Lasten abgeschüttelt sind. In diesem Zustand ist der Mensch nicht mehr er selbst. Seine körperliche Doppelexistenz, seine Selbstdistanz scheint aufgehoben. Er ist nur noch Leib in Bewegung. Diese Verlockung ist im Alltag weithin vergessen.

Doch hin und wieder bricht sie sich Bahn, im unbändigen Wunsch, alles Gepäck abzuwerfen, die Mauern zu schleifen, sich tanzend in den Lüften zu verlieren. Nicht auf Ankunft ist dieser Impuls aus, sondern auf die Entgrenzung der Existenz. In der grossen Freiheit will der Mensch keine Ziele erreichen, kein Leben «führen», kein vermeintliches «Selbst» verwirklichen. Er will sich selbst loswerden. Nach allen Seiten möchte er sich wenden, alle Hindernisse und Hemmungen hinter sich lassen. Er blickt nicht mehr zurück und pflegt keine Erinnerung. Ohne neue, klare Sicht und kühle Luft kann er nicht mehr atmen. Ohne freie Bewegung fühlt er sich eingepfercht im Kerker seiner selbst, in den Zwängen des Sozialen, in den Gefängnissen von Ökonomie und Politik, in der Not der Selbsterhaltung.

Vor der freien Bewegungslust gibt es einen leiblichen Impuls, dem jede Macht, jeder Befehl, jeder Übergriff zuwider ist. Wer diese Aversion nicht kennt, dem bleibt die Freiheit zeitlebens fremd.

Wie alle bedeutsamen Erfahrungen hat die Freiheit ihren Grund in den Empfindungen des Körpers. Er will nicht den Hals recken, den Nacken beugen oder auf Knien rutschen. Er duldet keine schwere Hand auf der Schulter und hasst den Albdruck in Bauch oder Brust. Hin und wieder, in seltenen Momenten der Emanzipation, keimt diese Leibeserfahrung wieder auf. Es sind die Zeiten der kollektiven Revolution oder individuellen Rebellion. Der Jüngling, der Familie, Dorf und Land verlässt und sich aufmacht hinaus in die Welt; die junge Frau, die Kleidung, Gedanken und Gefühle wechselt und sich auf einmal frei weiss von der dumpfen Gewohnheit ihrer Sippe; der treusorgende Gatte, der morgens aus dem Haus mit all seiner leidlichen Ordnung geht, um nie mehr wiederzukehren; endlich die Angestellte in gehobener Stellung, die ihrem Chef die Kündigung vor die Füsse wirft und grusslos auf dem Absatz kehrtmacht – sie alle erleben einen physischen Akt der Befreiung. Sie gehen fort, ohne irgendwo anzukommen.

Sie entledigen sich der alten Bürde, ohne zu wissen, was sie erwartet. Es ist eine grosse Erleichterung. Der Atem reicht tiefer, die Beklemmung ist vergessen, die Schultern lösen sich, stolz schweift der Blick umher.

Es ist nur die Kehrseite der Physiologie der Freiheit, dass sich die Unfreiheit in den Körpern einzunisten pflegt. Zwang, Sorge und Angst sitzen den Menschen in Knochen, Hirn und Gewebe, bestimmen ihre Haltungen, Gebärden, ihre Stimme. Die Schultern sind hochgezogen, der Blick ist halb gesenkt, Tonnengewichte scheinen auf dem Rücken zu lasten. Gesten der Unfreiheit sind der Spezies in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hetzen durch die Zeiten und Räume, neigen das Haupt, falten die Hände, werfen sich demütig zu Boden. Taucht die Macht auf, ducken sie sich ab oder springen eilfertig beiseite. Um Schuld und Strafe zu entgehen, ziehen sie sich in sich zusammen. Klein, schnell, unsichtbar möchten sie sich machen, sie laufen und rennen, beugen und biegen sich, bis das Rückgrat verkrümmt ist. Wie frei die Menschen in einer Gesellschaft sind, davon geben die Körper in Bewegung ein erstes, beredtes Zeugnis.

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