Emmanuel Joseph Sieyès und die Französische Revolution.
Auch die politische Ideengeschichte kultiviert ihren Kanon der Klassiker. Im europäisch geprägten Kulturkreis umfasst er vielleicht zwanzig Namen. Die alte Prüfungsfrage, ob dieser oder jener Autor seinen Status im erlauchten Kreis tatsächlich verdiene, mag ihre Berechtigung haben, sie ist indes auch müssig. Was jemand schreibt, ist eines. Ein anderes ist, was dann passiert. Rezeptions- und […]
Auch die politische Ideengeschichte kultiviert ihren Kanon der Klassiker. Im europäisch geprägten Kulturkreis umfasst er vielleicht zwanzig Namen. Die alte Prüfungsfrage, ob dieser oder jener Autor seinen Status im erlauchten Kreis tatsächlich verdiene, mag ihre Berechtigung haben, sie ist indes auch müssig. Was jemand schreibt, ist eines. Ein anderes ist, was dann passiert. Rezeptions- und Wirkungsgeschichten sind in der Regel so durchschaubar wie der Gang der Aktienbörse.
Einfacher ist es, Autoren auszumachen, denen die Aufnahme in den ideengeschichtlichen Order of Merit zwar versagt geblieben ist, die aber im Licht der schieren Qualität ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft eine solche Erhebung verdienten. Zu ihnen gehört zweifellos Emmanuel Joseph Sieyès – jener Abbé Sieyès, der zwar Geistlicher geworden, aber ganz zur Politik berufen war. Als «den ersten und profundesten Theoretiker der Französischen Revolution» hat ihn Keith Michael Baker einmal bezeichnet, und beide Adjektive sind sachlich durchaus angemessen.
Sieyès wurde in der Tat zum Theoretiker der ersten Stunde. Als Frankreich im Herbst 1788 in einem Zustand fiebriger Erregung sich zu verlieren drohte – zum ersten Mal seit 1614 hatte der König die Generalstände einberufen – trat der damals 40jährige mit einer kleinen, stilistisch brillanten Schrift an die Öffentlichkeit. In einer Situation, in der die nationale Vergangenheit keinerlei Orientierung im Hinblick darauf bot, was nun zu tun und leisten war, legte der Autor ein konkretes Programm vor: eine präzise Agenda hin zur rechtlichen und politischen Emanzipation des Drittens Standes. Sieyès wurde über Nacht berühmt.
Dass er alle Wendungen der folgenden Jahre unbeschadet überstand, verdankte sich einer Mischung aus politischem Opportunismus, persönlicher Harmlosigkeit und Glück. Sieyès war weder Machtmensch noch Staatsmann, wohl aber ein Verfassungstechniker der Extraklasse – und ein quicklebendiger Geist, der die Revolution in ihren politisch grundverschiedenen Abschnitten mit immer neuen Ideen und Entwürfen versorgte. Von der republikanischen Monarchie der Anfänge über demokratische und republikanische Varianten bis hin zu jener scheinrepublikanischen Verfassung, die Napoleon benutzte, um sich an die Macht zu hebeln: Sieyès hatte sie entworfen.
In ihrer Gesamtheit umreissen die Reden und Schriften ein reichhaltiges konstitutionelles Experimentierfeld, auf dem sich manche Perle findet. Erwähnt sei namentlich Sieyès’ Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer detaillierten Form, wie sie bis dahin auch nicht annähernd durchdacht worden war. «Eine der schönsten Entdeckungen der sozialen Kunst, ein Meisterwerk der Politikwissenschaft», schrieb ein Zeitgenosse. Gewiss, nicht jeder Vorschlag fand Gehör, nicht jede Idee sollte Schule machen. Unablässig aber trieb Sieyès die Reflexion in Bereichen voran, die – in seiner Zeit radikal «modern» – heute zum Grundbestand jeder Staatslehre gehören: Menschenrechte, geschriebene Verfassung, Repräsentation, Gewaltenteilung.
Nur: wer kennt schon Sieyès heute? Eine kritische Werkausgabe fehlt noch immer, die Sekundärliteratur ist ausgesprochen spärlich geblieben. Umso herzlicher wird man jenem Beitrag Leser wünschen, den Alois Riklin im Rahmen der «Kleinen Politischen Schriften» vorgelegt hat. Gut geschrieben, reich dokumentiert, schön illustriert und gestaltet, führt dieses wunderbare Buch an den Menschen, an den Denker und seine Zeit heran.