Einwurf #3 Biete: Freisinn
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Er liebt das Nachdenken wie seinen Nächsten, begegnet berechtigter Kritik gern mit Humor und trägt selbst auf Hochzeiten seine alten Turnschuhe. Er schätzt die Indifferenz, die mit der Unteilbarkeit von Freiheit einhergeht, kennt materielle Sicherheit nur vom Hörensagen, hat Freude an Freunden mit unterschiedlichsten Parteibüchern, ausserdem ein Orchideenfach studiert und (trotzdem) schon sein Start-up gegründet. Sein Lebensmotto entlehnt er Goethes «Faust»: «Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.» Nun steht er vor uns, dieser adoleszente Freigeist, wie er heute millionenfach in unseren Gesellschaften existiert – und wir zwingen ihn, sich endlich einmal zu entscheiden: in welchem politischen Lager bist du zu Hause? Er sei Liberaler, sagt er schnell, überlegt dann und bedingt sich etwas Zeit aus, um sich noch einmal umzusehen, bei den grossen gesellschaftsphilosophischen Ideen und ihren realpolitischen Vertretern auf Erden. Da geht er. Und stellt gleich fest: die meisten Treffen linker Zirkel, egal ob bei Sozialisten, Sozialdemokraten oder Grünen, sind kollektivistische Geisterbahnen. Hier ist jeder sicher, dass «die Neoliberalen» die «Schere der sozialen Ungleichheit» immer weiter öffnen und «der Marktradikalismus» verantwortlich ist für Krieg, Armut und die schwindenden Mitgliederzahlen ihrer Parteien. So einfach kann ein Weltbild sein. Der Kapitalismus ist – logisch – entweder mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel, mit dem Eröffnen von Bioläden oder durch das Besteuern von Genussmitteln zu überwinden. Und wer eins davon in Frage stellt, outet sich als Klassenfeind. Bei «liberalen» Anlässen ist dieses (meist ungefragt kommunizierte) Outing beinahe Ritterschlag, stellt unser Freigeist nun fest. Wie jeder anständige Orden trifft auch dieser sich im blattgüldenen Saale hinter dicken Mauern. Wenn’s sein muss, tut es auch die örtliche Handelskammer oder ein nicht selten mit noch längerer Planwirtschaftsgeschichte gesegnetes Zunfthaus. Darin: dunkelblau und grau uniformierte Herren, die sich auch nach 30 Jahren im gleichen «Club» noch siezen. Sie versichern sich gegenseitig der segensreichen Kraft unsichtbarer Hände, kommentieren die prinzipielle Schädlichkeit dieses oder jenes staatlichen Eingriffs (es sei denn, sie profitieren davon), gehen dann möglichst bald zum Apéro riche über, um mit vollem Munde ihre hart erkämpfte Redefreiheit zu entwerten, indem sie widerspruchslos den grassierenden «Sozialdemokratismus» geisseln. Die «Konservativen» stimmen hier mit ein, fügen aber noch an, dass «Multikulti» gescheitert sei, egal, ob sie sich nun zuerst «christlichen» oder «schweizerischen» Werten verteidigend verbunden fühlen. Ihre eigentlichen Treffen und Anlässe finden dabei längst intellektuell barrierefrei, sprich: «volksnah» und auf Bierbänken, statt. Der Kurzarmhemdenanteil ist höher, ebenso jener der roten Köpfe, wenn es um «die Eliten» oder, noch schlimmer, «die in Bern» (wahlweise: Radfahrer) geht. Der Druck im konservativen Lager baut sich erst wieder ab, wenn der Älteste gesprochen und versprochen hat, alles wieder so zu machen, wie es mal gut war. Leicht resigniert geht man dann zur Bratwurst über – wenn’s sein muss, bleibt auch eine für unseren Freigeist.
Er hat’s also nicht leicht! Keine politische Partei und erst recht keine politische Gruppierung kommen ohne die von ihm so verhassten Denkschablonen, kommoden Feindbilder, leidige Selbstvergewisserungsfolklore, Kadavergehorsam und kollektivistisches Pappkameradenschiessen aus. Sein klassisch liberaler Fokus auf die Erweiterung der unteilbaren individuellen Freiheit scheint inkompatibel mit den zeitgenössischen politischen Lagern und Szenen. Was bleibt? Innere Emigration?
Unser Freigeist entscheidet, sich nicht zu entscheiden. Im Austarieren von Ideal- und Realpolitik über alle Lager hinweg pflegt er die intellektuelle Unabhängigkeit. Radikalisiertes Sektierertum darf ihm realpolitisch fremd sein, das ordnungspolitische Ideal, auf minimale Bevormundung im Privaten, Politischen, Wirtschaftlichen und Gesellschaftlichen zu setzen, muss ihm aber in Ermangelung einer kollektivistischen Utopie Richtschnur bleiben. Er nimmt sich deshalb vor, mit seinem Rüstzeug in verschiedenen Milieus zu reüssieren, dabei aber stets so unbequem wie redlich zu bleiben. Advocatus diaboli heisst nun sein bester Freund – damit sind sie nun schon zwei. Und rufen: «Wo man uns liberalen Teufeln Haus- oder Redeverbot erteilt, mag vieles sein, aber sicher kein Zuhause.»