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Rudolf Wehrli, zvg.

Einspruch!

Nicht Ungleichheit, sondern historisch einmalige Homogenität dominiert die Lebens­wirklichkeit. Eine Ergänzung zum Themenschwerpunkt der letzten Ausgabe.

— In Ausgabe 1066 widmete sich ein ganzer Schwerpunkt dem Thema «Ungleichheit». Die Debatte geht an dieser Stelle mit Rudolf Wehrlis Beitrag weiter. —

Seit seinem Erscheinen im Jahre 1755 findet das Thema von Jean-Jacques Rousseaus «Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes» zahllose Bearbeiter, wobei sich die Diskussion dazu unter dem Einfluss wirtschaftshistorischer und soziologischer Studien in den letzten zwanzig Jahren weiter intensiviert hat. Beigetragen zu dieser intensiveren, auch öffentlichen Behandlung des Themas der Ungleichheit hat zweifellos die in diesen beiden Jahrzehnten laufend verstärkte, zum Teil vom Gesetzgeber verlangte Offenlegung von Management- und Verwaltungsratshonoraren und dem Aktienbesitz an kotierten Gesellschaften. Und es ist leicht nachvollziehbar, dass sich das Thema nach den Exzessen in der Finanzindustrie (z.T. auch in einzelnen anderen Industrien) ideal zur öffentlichen Empörungsbewirtschaftung eignet. Zusätzlich Öl ins Feuer gegossen hat Thomas Pikettys Arbeit über «Das Kapital im 21. Jahrhundert».

Den meisten Publikationen zum Thema Ungleichheit unter den Menschen fehlt es allerdings an klaren Begriffsbestimmungen: Ist es die Ungleichheit der Einkommen oder die der Vermögen, von der die Rede ist? Die Ungleichheit innerhalb von Ländern in einem bestimmten Wirtschaftsraum oder die Differenzen zwischen unterschiedlichen Ländern oder gar die zwischen ganzen Kontinenten? Daher gleich zu Beginn eine Klarstellung: Was im folgenden zu Ungleichheit und Homogenität der Lebenswirklichkeiten gesagt wird, bezieht sich auf die entwickelten Länder in Europa, Nordamerika und Japan, kurz: die OECD-Länder. Dass es nach wie vor gewaltige ökonomische Ungleichheiten zwischen diesen und den Entwicklungsländern und natürlich auch innerhalb der Entwicklungsländer selbst gibt, ist völlig unbestritten, aber soll hier nicht Gegenstand der Überlegungen sein, denn das war es schon in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift.1

Nein, Gegenstand dieses Essays ist die folgende, eigentlich triviale Feststellung: Die dauernde Klage über wachsende Ungleichheit in Politik und Medien in sozialkritischer Absicht scheint vor allem Ausdruck fehlenden historischen Wissens, mithin wirtschaftshistorischen Wissens, zu sein. Denn in unseren westlichen Gesellschaften herrscht eine einmalige Homogenität der Lebenswirklichkeiten aller sozialen Schichten!

«Eine Fahrt mit der Spanisch-Brötli-Bahn von Zürich nach Baden entsprach dem Gegenwert eines ganzen Tageslohns.

Mit dem heutigen Tageslohn kann derselbe Arbeiter zwei volle Tage in der ersten Klasse das ganze Streckennetz der SBB (3228 Kilometer) bereisen.»

Nie in der Geschichte der Menschheit hatten auch nur ansatzweise so viele Menschen so ähnliche und so gute Bedingungen zur Lebensgestaltung und Selbstentfaltung wie in unseren Tagen. Das ist ein Grund zum Feiern, nicht zum Jammern oder Resignieren! Drei Beispiele mögen das illustrieren.

Beispiel 1: Mobilität als Massenphänomen

Über Jahrhunderte hinweg, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, war Reisen – erst recht relativ bequemes Reisen – das Privileg einer firnisdünnen Oberschicht. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemassen sich die Kosten der dreimonatigen Hochzeitsreise eines jungen Paares aus dem Grossbürgertum nach Italien und Südfrankreich in der Grössenordnung mehrerer Jahressaläre von Industriearbeitern oder Angestellten. Nicht weniger beeindruckend ist aus heutiger Sicht, dass eine einfache Fahrt mit der neu eröffneten «Spanisch-Brötli-Bahn» für die 20 Kilometer von Zürich nach Baden dem Gegenwert eines ganzen Tageslohns eines durchschnittlichen Arbeiters entsprach. Vergleichen wir kurz: Mit dem heutigen Tageslohn kann derselbe Arbeiter in der Schweiz zwei volle Tage in der ersten Klasse das ganze Streckennetz der SBB (exakt 3228 Kilometer) bereisen. Er kann aber für denselben Betrag auch nach London und zurück fliegen. Wählt er ein Pauschalarrangement, kann er dort sogar übernachten. Kurzreisen in den Süden über Weihnachten und Neujahr, Städteflüge über verlängerte Wochenenden, eine Herbstferienwoche in den Emiraten, Trekking in Nepal, Tauchen auf den Malediven oder die Erfahrung des pulsierenden Lebens in asiatischen Städten – egal ob Jakarta, Saigon oder Bangkok: all das ist für weite Bevölkerungskreise bis in den unteren Mittelstand zur Selbstverständlichkeit geworden. Selbst die weit verbreiteten Bekenntnisse zur starken Reduktion der CO2-Emissionen vermögen die hohen Wachstumsraten des globalen Flugverkehrs nicht zu dämpfen. Nicht einmal der entstandene «Dichtestress» an den Flughäfen, chronische Verspätungen, stundenlanges Warten – vom reisefreudigsten Volk der Welt, den Schweizern, stets laut beklagt – ändern etwas daran: Mehr Mobilität wollen fast alle. Und: Fast alle haben sie in den letzten Jahrzehnten bekommen!

Beispiel 2: Mango, Spargel und Sushi auf dem Ganzjahresspeisezettel

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der durchschnittliche Schweizer Haushalt 25 bis 30 Prozent eines Monatslohnes für Lebensmittel aus. Fleisch kam dabei in weiten Teilen der Bevölkerung selten auf den Tisch, Früchte und Gemüse (ausschliesslich aus der Region oder aus dem eigenen Land) hatten eine zeitlich begrenzte Saison, aus tropischen Ländern kamen zuweilen Orangen und Bananen, während Südfrüchte wie Mangos oder Papayas, die heute bei jedem Einzelhändler auch in der Provinz die Regale füllen, so gut wie unbekannt waren. Nicht allein dass sie rund ums Jahr erhältlich sind, wird derweil als selbstverständlich betrachtet, sondern auch, dass sie in vielen Fällen günstiger geworden sind als manch hei­mischer Apfel oder die bekannten Walliser Aprikosen, obwohl letztere nur innerhalb der Region transportiert und nicht um den halben Globus verschoben werden müssen: Rindfleisch aus Argentinien, Lammfilets aus Neuseeland, Spargeln aus Südamerika, exotische Früchte aus Südostasien, Wein aus dem Nappa-Valley oder aus Südafrika – und das alles trotz eines abgeschotteten Agrarmarkts günstiger als aus heimischer Produktion und für sämtliche Bevölkerungsschichten erschwinglich.

Obwohl jede Schweizerin und jeder Schweizer heute viel diversere und reichhaltigere Speisezettel haben (und zwar praktisch das ganze Jahr lang), benötigt der durchschnittliche Haushalt lediglich noch etwa 7 Prozent eines Monatslohnes für Nahrungsmittel. Sie lesen richtig: ein Viertel dessen, was er noch vor siebzig Jahren für viel weniger Auswahl ausgegeben hat. Nicht weniger als im Bereich der Mobilität haben sich also auch in diesem Bereich die Lebenswirklichkeiten breiter Bevölkerungsschichten in einem Masse angenähert, wie es noch vor fünfzig Jahren gänzlich undenkbar war. Nicht Ungleichheit dominiert also die Realität des Esstischs, sondern auch hier: eine historisch einmalige Homogenität.

Beispiel 3: Wohnverhältnisse und medizinische Versorgung

Schwer vorstellbar, dass es noch vor zwei Generationen auch in der Schweiz Tausende von Wohnungen und Häusern ohne Zentral­heizung und ohne fliessendes Wasser gab, dass sich über offene Kanalisationen Krankheitserreger ausbreiten konnten, Menschen in feuchten Soussols lebten, schlimmer noch: dass die Kindersterblichkeit in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so hoch war wie in einem Schwellenland heute. Oder dass eine schwere Erkrankung eines Mitgliedes zum wirtschaftlichen Ruin der ganzen Familie führen konnte. Der Ausbau der medizinischen Versorgung für die gesamte Bevölkerung ist, so selbstverständlich es vielen Zeitgenossen heute scheinen mag, nicht allein eine grossartige Leistung des Staatswesens, sondern steht auch am Anfang einer Entwicklung, die in historisch einmaliger Weise so viele Menschen aus allen sozialen Schichten so gesund so alt hat werden lassen.

Wer heute auf offener Strasse einen Herzinfarkt erleidet oder Opfer eines Unfalls ist, wird in unseren Breitengraden in die nächste Klinik gebracht, wo er – ob arm oder reich – mit den besten verfügbaren Mitteln und Methoden behandelt wird. Auch dies eine unzweifelhaft ausgleichende und gerade nicht von Ungleichheit geprägte Entwicklung: Ob Erstversorgung auf der Notfall- oder Intensivstation, Langzeitaufenthalt in der Klinik oder monatelange Therapie im Rehabilitationszentrum – die medizinische Ausrüstung und die therapeutischen Methoden, auch die pharmazeutische Versorgung, sie sind für alle gleich. Geburtsschäden, angeborene Behinderungen oder schwere Krankheiten werden im Kindesalter für alle Bevölkerungsschichten über ein umfassendes medizinisches und soziales Betreuungssystem von der Allgemeinheit getragen, unabhängig davon, ob die Patienten viel Geld haben oder gar keines.

«Wer sich solche – und viele andere, ähnliche – Entwicklungen vor Augen hält, kann nicht nachvollziehen, weshalb medial, politisch, ja sogar in der Ökonomie wieder und immer wieder die zunehmende «Ungleichheit»

beklagt wird.»

Nun mag man einwenden, die Kosten des Gesundheitswesens seien in den letzten Jahrzehnten auch rasant und weit über dem Wachstum des BIP gestiegen. Das ist zweifellos richtig. Aber: Die Bevölkerung bekommt auch viel mehr für diese Kosten: kürzere, oft sogar ambulante Behandlung im Krankenhaus, schonendere chirurgische Eingriffe, schneller wirkende und mit geringeren Nebenwirkungen belastende Medikamente und nicht zuletzt ein gesünderes und längeres Alter. Und wenn dann beklagt wird, die Krankenkassen hätten in Arbeiter- und Angestelltenhaushalten die Schmerzgrenze von 10 Prozent des Einkommens erreicht, dann ist an die genannten 25 bis 30 Prozent des Lohnes für Nahrungsmittel in den 1950er Jahren zu erinnern! Kumuliert betragen die Kosten für Nahrungsmittel und Krankenkassen immer noch höchstens zwei Drittel dessen, was vor 70 Jahren für Nahrungsmittel allein ausgegeben werden musste.

Wer sich solche – und viele andere, ähnliche – Entwicklungen vor Augen hält, kann nicht nachvollziehen, weshalb medial, politisch, ja sogar in der Ökonomie wieder und immer wieder die zunehmende «Ungleichheit» beklagt wird. Verständlich wird dies erst, wenn man genauer hinschaut und feststellt, dass viele vergleichende Wissenschafter ihre Rechnungen ohne Einbezug eines entscheidenden Faktors machen, der den Wohlstand moderner westlicher Gesellschaften in den letzten 70 Jahren massgeblich ermöglicht und beschleunigt hat: die geradezu exponentiell gestiegene Kaufkraft.

Erhöhung der Kaufkraft: der Schlüssel zur Gleichheit

Die Kaufkraft, das allgemeine Mass nicht bloss für historisch aussagekräftige Vergleiche, sondern auch für länder- und regionenübergreifende Studien, drückt aus, wie lange (Stunden/Tage) bei einem Durchschnittslohn für bestimmte Konsumgüter oder Dienstleistungen gearbeitet werden muss. Die oben genannten Beispiele sprechen für sich selbst und machen klar: Die Vervielfachung der Kaufkraft steht am Ursprung des Wohlstandes sowohl der Industrie- als auch der Entwicklungs- und Schwellenländer. Was sind die Ursachen dieser rasanten Steigerung in den letzten hundert Jahren?

An vorderster Stelle ist zweifellos der technische Fortschritt zu nennen, der es ermöglicht hat, sämtliche Güter des täglichen Bedarfs mit immer weniger oder preiswerterem Rohmaterial immer schneller herzustellen – in der Agrarwirtschaft nicht weniger als in der produzierenden Industrie. Technisierung und Automatisierung haben zu ungeahnten Produktivitätsfortschritten geführt, wobei gleichzeitig auch die Qualität der Produkte gesteigert werden konnte. Die Auflösung und effizientere Konzeption von ganzen Wertschöpfungsketten hat dazu ebenso beigetragen wie die Produktion in sogenannten «Billiglohnländern» (die wenige Jahre nach den ersten Investitionen nur noch selten solche sind!) und in immer grösseren Stückzahlen. Nicht nur die vielen «Werkbänke für die Welt» haben zur Stärkung der Kaufkraft westlicher Konsumenten geführt, sondern auch die seit Jahrzehnten fallenden Kosten für Kommunikation und Logistik. Während die marginalisierten Kosten für Kommunikation primär auf den Fortschritt in Elektronik und IT zurückzuführen sind, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Logistikkosten deshalb heute so lächerlich tief sind, weil die externen Kosten der Verschiebung von Gütern rund um den Globus – im Klartext: die Umweltschäden – nirgends internalisiert und belastet werden.

Es ist also die Globalisierung, die immer höhere Integration der internationalen Märkte, die einen ganz wesentlichen Beitrag zur Vervielfachung der Kaufkraft geleistet hat und noch immer leistet. Im gleichen Atemzug muss auch der während der letzten fünfzig Jahre weitgehende Wegfall der Zölle genannt werden. Erst dieser Wegfall (oder doch wenigstens die substantielle Reduktion von Zöllen) schafft offene Märkte, die ihrerseits Wohlstand generieren. Kurzum: Tausende von Gütern des Alltags kosten heute nur noch einen Bruchteil dessen, was vor wenigen Jahrzehnten für sie bezahlt werden musste, meist sind derweil die Leistung, die Ausstattung und die Qualität auch noch um Potenzen besser geworden; das gilt für Taschenrechner wie für hochwertige Musikanlagen, für T-Shirts genauso wie für Autos.

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass in den westlichen Industrienationen parallel zu den sinkenden Produktpreisen die Kosten der Arbeit dauernd gestiegen sind. Aber auch diese Entwicklung hat zur Gleichheit, nicht zur Ungleichheit beigetragen! Denn während es in einem Haushalt des gehobenen Mittelstandes vor fünfzig Jahren noch festangestellte Haushalthilfen, Wäscherinnen oder Putzfrauen, im Grossbürgertum auch Köchinnen und Fahrer gab, sind diese heute so gut wie verschwunden – weil sich deren Löhne ebenfalls vervielfacht haben. Während sämtliche Schichten immer günstigeren Zugang zu Konsum- und Gebrauchsgütern haben und sich damit Dinge leisten können, die in der Mittel- und Unterschicht vor einer Generation noch gänzlich ausser Reichweite lagen, haben die gehobenen Schichten das Privileg von Dienstboten weitgehend aufgegeben und sich den Mittelschichten angeglichen.

Zurück zur eingangs etablierten These: In den westlichen Gesellschaften, und in immer mehr Gesellschaften auf dem ganzen Planeten, herrscht eine einmalige Homogenität der Lebenswirklichkeiten aller sozialen Schichten! Nie in der Geschichte der Menschheit hatten auch nur ansatzweise so viele Menschen so ähnliche und so gute Bedingungen zur Lebensgestaltung und zur Selbstentfaltung wie in unseren Tagen. Das ist ein Grund zum Feiern, nicht zum Jammern oder Resignieren – und schon gar nicht zur pauschalen Sozialkritik.

  1. Vgl. Schweizer Monat, Ausgabe 1066 (Mai 2019), ab S. 6. 

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