Einsam gegen den Blitzausstieg
Matthias Ackeret, zvg.

Einsam gegen den Blitzausstieg

Die Zahl derjenigen, die per Sterbehilfe aus dem Leben scheiden, steigt an. Wer diese Praxis hinterfragt, steht rasch allein da.

Ludwig A. Minelli ist ein freundlicher Mann. Der Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas, der Gottlieb Duttweiler der Todesbranche, argumentiert trotz seiner 90 Jahre klar und deutlich. Wie bei allen Sterbehilfepionieren ist auch bei Minelli keine persönliche Sterbelust erkennbar. Ende März dieses Jahres hatte Exit, die «Vereinigung für humanes Sterben», in einem noblen Zürcher Zunfthaus zu einem Streitgespräch über Suizidhilfe eingeladen. Der Grund: der 40. Geburtstag der Organisation. «Geben Sie ungeniert Gas», ermunterte mich der Kommunikationschef von Exit vor der Diskussion freundlich, «bei uns gibt es keine Tabus.» Doch bereits kurz nach Gesprächsbeginn realisierte ich, dass ich mit meiner kritischen Haltung alleine war. Der bekannte Psychoanalytiker, Autor und Satiriker Peter Schneider, eigentlich als Sterbehilfekritiker eingeladen, beteuerte wortreich, dass es sich um ein Missverständnis handle und er mit der gängigen Praxis einverstanden sei. Karl Lüönd, als neutraler «Faktenchecker» eingeladen, sprach mir nach wenigen Minuten die Kompetenz ab, über dieses Thema zu sprechen. Der langjährige Chefredaktor der «Züri-Woche» hatte soeben ein Jubiläumsbuch über Exit publiziert, als Auftragsarbeit. Auf der kleinen Bühne des Zunfthauses wurde mir einmal mehr bewusst: Wer hierzulande die gängige Sterbehilfepraxis in Frage stellt, schafft sich keine Freunde, im Gegenteil. Nur Minelli blieb erstaunlich gelassen. Es sei ein Skandal, dass man unter der Berner Kirchenfeldbrücke während vieler Jahre keine Fangnetze für Selbstmörder installiert habe, meinte er mit ruhiger Stimme. Dank Dignitas könnten diese aber jetzt einen «humanen Abgang» wählen.

«Ninna Nanna. Perlen», Kohle auf Leinwand. Illustration von Anke Feuchtenberger.

Weggewischte Zweifel

Meinen Einwand, dass man sie auch vom Selbstmord abhalten könnte, wie es der verstorbene Pfarrer Sieber getan hätte, wedelte er wirsch mit seiner Hand weg: «Das ist eine arrogante Haltung und verletzt den freien Willen jedes Sterbewilligen.» Selbstmord als absolutes Menschenrecht? Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen als sakrosanktes, nicht zu hinterfragendes Privileg? Für Minelli zweifelsohne. Jedermann, so betonte er an diesem Abend, habe Anrecht auf einen begleiteten Suizid, sofern er – die wenigen – gesetzlichen Voraussetzungen erfülle. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich um einen betagten 100-Jährigen oder um eine 22jährige Frau mit Liebeskummer handle. Gegen solche Ansichten gibt es in der Schweiz nicht einmal mehr einen Aufschrei, selbst die Kirche und auch die Politik scheinen resigniert zu haben und überlassen die Deutungshoheit längst den Sterbehilfeorganisationen. Wer sich aber dagegenstemmt, wird mit dem Totschlagargument «religiöser oder konservativer Eiferer» kritisiert.

Der Einwand, dass ein Sterbewilliger auch durch sein Umfeld bei seiner Entscheidungsfindung beeinflusst und damit in den Suizid getrieben werden könnte, wird vielfach ausser Acht gelassen. Während man vor vielen Operationen oftmals eine Zweitmeinung einholt, reicht bei einer Suizideinweisung die Unterschrift eines einzigen Arztes. Auch muss nach der erfolgreich verlaufenen Suizidbeihilfe kein Staatsanwalt beigezogen werden, um die Rechtmässigkeit des Vorgangs abzuklären, sondern es reicht mittlerweile ein Polizist oder sogar – wie in einigen Kantonen – ein Arzt, dem höchstwahrscheinlich die notwendige Objektivität abgesprochen werden muss. Fazit: Die Chance, in Zürich wegen Falschparkierens verurteilt zu werden, ist ungleich grösser als die Verurteilung wegen unzulässiger Suizidhilfe. Minelli ist der lebende Beweis. Bis anhin musste der Sterbehilfepionier weder die Buchhaltung noch eine Übersicht über erhaltene Legate offenlegen, obwohl bereits Heinrich Koller, der frühere Direktor des Bundesamtes für Justiz, «giftige Staatsanwälte» verlangte, um abzuklären, ob auch schon aus «Gewinnsucht» Sterbehilfe ausgeführt wurde.

«Der Einwand, dass ein Sterbewilliger auch durch sein Umfeld bei seiner Entscheidungs­findung beeinflusst und damit in den Suizid ­getrieben
werden könnte, wird ­vielfach ausser…