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Einmal ohne Gott, bitte!

Wenn Atheisten Weihnachtsmenüs kochen und sich in Kirchen trauen, scheint die Welt auf dem Kopf zu stehen. Doch kommt so das Leben ins Lot. Die Brüchigkeit unseres Daseins mit Ritualen zu kitten, ist ein urmenschliches Bedürfnis – und ein zunehmend gutes Geschäft.

Zu Weihnachten holen sich die Blasers Exotik in die Stube. Alljährlich, wenn Herr und Frau Schweizer zum Fondue chinoise rüsten, lädt Vater Herbert einen Namibier in die Familienküche, um seinen Lieben ein afrikanisches Gourmeterlebnis zu bescheren – und damit die Feiertage zu füllen, an die er nicht glaubt. Blaser ist Agnostiker, ob Gott existiert oder nicht, ist ihm egal. Seine Leidenschaft sei die Wirklichkeit und in dieser brauche er keine ausseralltäglichen Rituale: «An Weihnachten gibt es wegen der Kinder kein Vorbeikommen, auf alles andere verzichte ich aber bewusst.»

So hat er seinen Nachwuchs mit simplen Geburtsanzeigen in die Welt von Freunden und Familie eingeführt, selber nicht geheiratet und seit seinem Bruch mit Kirche und Glauben nie mehr an religiösen Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen teilgenommen. «In Zeiten intimster Gefühle religiöse Doktrin hören zu müssen, finde ich abstossend, und diese Empfindung passt nicht an eine Feier.»

«Abstossend» nennt kirchliche Beerdigungen auch Patrik Eschle, der als fundamentaler Atheist den Taufen seiner zwei jüngsten Kinder ferngeblieben ist. Wenn ihn aber der Respekt vor einem Verstorbenen doch zu einer religiösen Bestattung führt und er die Leute um sich herum andächtig den sinnstiftenden Worten eines Geistlichen lauschen sieht, beschleichen den selbsterklärten Rationalisten leise Zweifel. «Spinne ich eigentlich?», fragt er sich dann zuweilen – und hat nicht zuletzt deshalb, um nach solchen Eindrücken Psychohygiene zu betreiben, mit Blaser und anderen Gleichgesinnten eine atheistische Gruppierung gegründet, die sich Aufklärung und Wissenschaftlichkeit auf die Fahne geschrieben hat.

Längst nicht alle Agnostiker und Atheisten aber sind so unrituell veranlagt wie Blaser und Eschle. 43 Prozent der areligiösen Eltern, die unlängst an einer Studie zum Wechselverhältnis zwischen Religiosität und Ritualbedürfnis teilgenommen haben1, bekundeten ein mittleres Interesse an kirchlichen Ritualen wie Taufe, Trauung und Beerdigung. Gegenüber den 74 Prozent der bekennenden Christen, die einen hohen Bedarf anmeldeten, mag die Nachfrage der dezidiert Nichtgläubigen zwar gering sein. Gross genug, jenem schwer bezifferbaren Teil der Bevölkerung – von den rund 1,3 Millionen konfessionslosen Schweizern dürfte laut Annahmen bloss die Hälfte an «gar nichts» glauben – ein eigenes Dienstleistungsangebot zu schaffen, ist sie allemal.

Wenn Gott der Liebe Platz macht

Die Freidenker-Vereinigung, mit über 1800 Mitgliedern die grösste Organisation von Religions- und Konfessionsfreien in der Schweiz, kümmert sich schon seit über 100 Jahren um den Ritualbedarf jener, die den Kirchen abgeschworen haben und damit auch auf deren rituelle Servicepalette verzichten müssen. Die längste Tradition haben säkulare Trauerfeiern: «Die Frage der Beerdigung war nach einem Kirchenaustritt lange eines der grössten Probleme», erklärt Reta Caspar, Geschäftsführerin der Freidenker-Vereinigung. Zwar würden sich viele der tendenziell wissenschaftsfreundlichen Mitglieder direkt der Anatomie vermachen oder von den Angehörigen im Rahmen familiärer Rituale bestattet. Wo dies aber keine Option ist, gestalten buchbare Redner aus der Vereinigung seit je Beerdigungen ohne Jenseitsvorstellungen.

In den vergangenen zehn Jahren nun haben die Freidenker ihre rituelle Kernkompetenz auf weitere Schwellenpunkte des menschlichen Lebens ausgedehnt. Sie sei einst nach einer Beerdigung von einem Trauergast gefragt worden, ob sie auch eine Hochzeit leiten würde, und habe zugesagt, erzählt Caspar, die Juristin und Geographin, die ein- bis zweimal monatlich als «Ritualbegleiterin» arbeitet. Da das neue Angebot auf Anklang gestossen ist, sind unterdessen schweizweit 15 Freidenker im Einsatz, um Mitglieder und Externe auf der Welt willkommen zu heissen, zu trauen und auch wieder zu scheiden – und zwar garantiert transzendenzfrei, wie es die ethische Vereinbarung verlangt, der sich alle Ritualleiter schriftlich verpflichten: «Der Begriff ‹Gott› oder ähnliches wird nicht verwendet, und in meinen Ritualen werden keine Gebete gesprochen und keine Lieder mit Bezug auf eine Gottheit gesungen.»

Während Caspar und ihre Kollegen diese Prämissen noch vorab bei Beerdigungen und ausschliesslich im Nebenamt umsetzen, ist der ehemalige Priesterseminarist Christian D. Grichting seit 2004 vollzeitlich im Geschäft. Mit seiner Firma für private Zeremonien neben den Freidenkern der erste Anbieter von ausschliesslich religionsfreien Ritualen, macht er sein Geld zu einem Gutteil mit dem Verkauf von Trauungen. Er freut sich heuer über ein «sensationelles» Jahr und kann inzwischen, da er von April bis Oktober jeden Samstag für Hochzeiten gebucht ist, von den Einkünften aus dem Ritualberuf leben.

Auf dem Weg zum katholischen Priester zum Agnostiker geworden, amtet Grichting heute in einer Position, die sich auf den ersten Blick kaum von der ursprünglich angestrebten unterscheidet. «Rein äusserlich sieht eine religionsfreie Hochzeit fast aus wie eine Heirat in der Kirche», kommentiert der 40jährige den üblichen Ablauf seiner Feiern. Die meist in romantisches Kleid gehüllten Brautleute hören am Ort der Trauung Musik und eine viertelstündige Rede des Ritualbegleiters, bevor sie von jenem durch die Konsenserklärung geführt und bei positiver Antwort zum Austausch von Ringen aufgefordert werden. Und weil Grichting aus seiner Seminarzeit über gute Kontakte zu Pfarrern verfügt, muss die Nähe zum Kirchlichen nicht auf den Ablauf der Feier beschränkt bleiben: Mit dem Einverständnis der Geistlichen vor Ort traut der Agnostiker bisweilen auch in Kirchen und Kapellen. In den Häusern Gottes schiebt er aber, wo irgend möglich, den Altar zur Seite – im Zentrum seiner Zeremonien sollen das Paar und dessen Liebe stehen, kein Gott.

Leben im Irrationalen

Jahre nachdem er in der Zürcher St.-Peter-Kirche an der Trauerfeier für Max Frisch teilgenommen hatte, einen Agnostiker, der einen Abschied ohne Priester und «ohne Amen» angeordnet hatte, seinen Sarg aber doch in der Kirche aufgestellt und die Zeremonie dort begangen wünschte, hat Jürgen Habermas über die Paradoxie dieses Vorgangs nachgedacht. Offenbar, meinte der Philosoph, habe Frisch «die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden und durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, dass die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent zu einer religiösen Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschliessenden rite de passage gefunden hat.»

Dass der Mensch an Übergangspunkten jedweder Art ein Bedürfnis nach Ritualen empfindet, ist laut Arnold van Gennep, dem französischen Ethnologen, der im frühen 20. Jahrhundert den Begriff der «Übergangsriten» geprägt hat, der Dynamik des Lebens geschuldet. Wo statische Ordnungen durch die Überschreitung von Grenzen – seien es zeitliche, etwa vom Sommer zum Winter, oder soziale, etwa vom Junggesellen zum Ehemann – bedroht sind, greift der Mensch auf ausgestaltete Formen zurück, um die Veränderungen abzufedern und durch die Inszenierung von wiederkehrender Gleichförmigkeit der Angst vor seiner Endlichkeit zu begegnen. «Diese klassischen Rituale gab es immer schon und somit lange vor den Hochreligionen», sagt Axel Michaels, Sprecher des Sonderforschungsbereichs «Ritualdynamik», in dessen Rahmen an der Universität Heidelberg über ein Jahrzehnt lang das Entstehen und Vergehen von Ritualen ergründet wurde. Dennoch seien die rituellen Vorgänge an den Übergängen insofern «religiös», als sie auf eine Ordnung verwiesen, die über das rein biologische Leben hinausgehe. Im Ritual werde Natur gleichsam in sakrale Kultur verwandelt: «Dem Menschen genügt es nicht, geboren zu werden, sich fortzupflanzen und zu sterben. Er will die Geburt rituell noch einmal nachholen, die eheliche Verbindung von anderen Paarungen rituell trennen, den Toten noch einmal rituell ‹töten› und zum Ahnen machen.»

Der Irrationalität, die den Ritualen so bis zu einem gewissen Grad unbestreitbar anhaftet, sagten aufgeklärte Kreise des 18. Jahrhunderts den Kampf an. Sie diskreditierten die alten Zöpfe als Zeichen von Unmündigkeit und Priesterbetrug – und verpassten es dabei, eigene neue Zöpfe zu flechten; wohl in der Überzeugung, dass der rationale Mensch der Zukunft krisenhafte Grenzsituationen durch zweckgerichtetes Handeln anstatt durch symbolische Ersatzhandlungen würde bewältigen wollen. Schon die Stieftochter der Aufklärung, die Französische Revolution, hat diese Annahme Lügen gestraft, indem sie zur Etablierung von Bürgerschaft und ehelicher Treue eine ganze Reihe von liturgisch inspirierten Ritualen und Festen kreierte und die als Göttin inthronisierte Vernunft auf kultische Weise verehrte. Heute doppeln wissenschaftsgläubige Nichtgläubige nach, die als erklärte Adepten der Aufklärung afrikanische Weihnachtstraditionen begründen oder sich von professionellen Gestaltern Rituale ausrichten lassen, die durch die Aussparung Gottes nichts von ihrem irrationalen Kern verlieren.

Vom Gotteskult zum Ich-Kult

Um Rationalität und Ritualität zusammenzuführen, werden bisweilen weite Wege gegangen. So vermeldete die International Humanist and Ethical Union, die Dachorganisation von über 100 atheistisch-humanistischen Vereinigungen, im Jahr 2010 die erste via Skype vollzogene Trauung und zeigte sich erfreut darüber, dass das technologische Genie des Menschen Brautleute über Kontinente hinweg zu verbinden vermöge: In London, wo Gäste hinter einem Bildschirm versammelt waren, hatte eine Ritualbegleiterin per Internettelefon das Gelübde eines Paares entgegengenommen, das wegen der isländischen Aschewolke in Dubai gestrandet war.

 Zu solchen Mitteln würde Reta Caspar nicht greifen. Ihrer Ansicht nach ist es gerade das Soziale als fundamentale Conditio humana, das selbst Freidenker dazu drängt, spezielle Momente des Lebens in tradierten Formen zu begehen und mit den Nächsten zu teilen. Die emotionale Seite des Menschen sei zwar nicht erklärbar, könne aber deshalb nicht negiert werden und brauche unbedingt ihren Platz. Einem «völligen Abheben» im Ritual weiss die Agnostikerin aber mit gesundem Realitätssinn entgegenzuwirken. Schon im Vorgespräch zur Trauung bringt Caspar das Thema «Scheidung» aufs Tapet und empfiehlt den Liebenden, das potentielle Ende ihrer Ehe von Anfang an mitzudenken und gegebenenfalls auch rituell aufzufangen, etwa durch ein Fest, das den Kreis am Ort der Trauung schliesst.

Rational betrachtet bedürfen solche symbolische Vorgänge keiner Leitung. Traut und tauft ein Pfarrer im Namen einer höheren Macht und des kirchlichen Rechtssystems, denen beiden sich die Gläubigen im Ritual unterstellen, wirkt Christian D. Grichting einzig im Namen der gelungenen Feier. Weder haben seine Trauungen irgendeine formale Gültigkeit, noch ist er als externe In­stanz in der Gestaltung eines Begräbnisses oder einer Willkommensfeier unabdingbar – gewünscht ist seine Autorität nichtsdestotrotz auch von Leuten, die sich ansonsten keinen fremden Kräften anvertrauen. Bei Bestattungen sei es häufig die psychische Extremsituation, die die Angehörigen dazu führe, die Ritualleitung einem Aussenstehenden zu übertragen, berichtet der Ritualunternehmer. Bei Hochzeiten aber werde er meist einfach deshalb gebucht, weil zum Bild der perfekten Heirat auch für Nichtgläubige etwas wie ein Zeremonienmeister dazugehöre.

Die Realisierung dieses Bildes, das die Kirchen ihren steuerzahlenden Mitgliedern gratis bieten, lassen sich Konfessionslose einiges kosten. Zwischen 1400 und 2200 Franken muss aufwerfen, wer von Grichting getraut werden will. Zwar dauert der in dieser Summe enthaltene Zauber wie der konfessionelle nur eine gute Dreiviertelstunde, kann dafür aber an jedem erdenklichen Ort stattfinden. Ob im Privatflieger zwischen Zürich und Paris, im Punkclub oder auf dem Surfbrett – kaum ein Setting, das für Grichting nicht in Frage käme.

Mit einiger Skepsis beobachtet Caspar in der Welt der Rituale eine zunehmende Tendenz vom «Gotteskult zum Ich-Kult». Sie hält die freidenkenden Ritualbegleiter dazu an, in doppelter Weise auf «Hokuspokus» zu verzichten und also nebst Spekulationen über Ausserweltliches auch eventartige Showeffekte zu vermeiden; die «Low Scale»-Feiern der Freidenker sind entsprechend für 500 bis 800 Franken zu haben. Als ihr ein Bestatter vorwarf, sie würde mit Preisen von unter 800 Franken den Markt zerstören, habe sie nur antworten können: «Markt? Für uns gibt es keinen Markt.»

Individualität aus der Mottenkiste

Für die Freidenker mag der Verkauf von Ritualen weniger Markt als Überzeugung und Strategie sein. Über die Hälfte aller Kirchenmitglieder bleibt laut Studien nicht wegen des Bekenntnisses mit den religiösen Institutionen verbunden, sondern primär wegen deren Angebot an lebenszyklischen Ritualen. Dieser Hauptmotivation für die Kirchenzugehörigkeit eine Alternative entgegenzustellen, ist zweifelsohne klug aus Sicht einer Vereinigung, die nach dem Motto «Jeder Kirchenaustritt zählt» in der Schwächung der kirchlichen Basis eine Stärkung der eigenen Position sieht. Ein Markt, und ein immer grösser werdender dazu, besteht aber gleichwohl – gerade wegen der schwächelnden Kirchen. Denn wenn 71 Prozent aller jungen Paare erklären, eine kirchliche Trauung zu wünschen, sich effektiv, wie im Kanton Zürich 2011, aber nur 23 Prozent vor einem reformierten oder katholischen Priester das Ja-Wort geben, oder wenn 84 Prozent der jungen Eltern Taufbedarf anmelden, aber nur 33 Prozent den Weg ans Taufbecken finden2, heisst das, dass eine riesige, weit über das weltanschauliche Spektrum der Freidenker hinausreichende Zahl von «Kirchenfernen» als potentielle Ritualkundschaft fungiert.

Diese abzuholen schickt sich seit geraumer Zeit ein ganzes Heer von Anbietern an. Kaum zufällig entwickelte sich deren Berufsfeld umgekehrt proportional zur abnehmenden Kirchengläubigkeit: Gegen Ende der 1990er Jahre, als die Zahl der Konfessionslosen auf 11 Prozent gestiegen war, war die Palette an «freien» Ritualen und Verkäufern so breit, dass sich die Branche erstmals zu bündeln und professionalisieren versuchte. So entstand etwa 1997 der Schweizerische Verband Freischaffender Theologen, dessen Mitglieder für rund 1500 Franken Geburts-, Heirats- und Beerdigungsrituale durchführen – ausserhalb des institutionell-kirchlichen Rahmens und je nach Wunsch der Kunden mit oder ohne segnendes Zutun Gottes. Und seit 1999 verweben sich freie Ritualbegleiter zum «Ritualnetz», das unter anderem auch die Absolventen der vor dreizehn Jahren eröffneten Fachschule für Rituale auffängt, die als «Fachpersonen Rituale» für 120 bis 180 Franken pro Stunde jegliche spirituellen Bedürfnisse befriedigen.

Zwar versuchen sich die verschiedenen Anbieter über ihre Ausbildungen voneinander abzugrenzen. Zuletzt gleichen sich aber alle dadurch, dass sie die «individuelle Gestaltung» des Rituals als obersten Vorzug ihrer Dienste anpreisen und sich zur Erfüllung dieses Slogans nicht nur in Fragen des Dekors, sondern auch in jenen der Weltanschauung der Kundschaft anpassen. Die aber, mag sie konfessionsfrei, kirchenfern oder gänzlich gottlos leben, will laut Ritualforscher Axel Michaels im Grunde nur das, was es bei den Konfessionellen auch gibt: «Blumen, Feierlichkeit, Sinn.»

 


 

1 Vgl. Alfred Dubach: Lebensstil, Religiosität und Ritualbedürfnis in jungen Familien. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in der Deutschschweiz (Beiträge zur Pastoralsoziologie, Bd. 12). Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2009.

 

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