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Einflüsse zwischen Schwestern
Andreas Kley, zvg.

Einflüsse zwischen Schwestern

Die Schweizer Bundesverfassung von 1848 ist massgeblich von den USA inspiriert. Allerdings auf verschlungeneren Pfaden, als manche sich das vorstellen.

Der weitgereiste Bieler Stadtrat Johann Rudolph Valltravers (1723–1800) schuf das schöne Diktum «Let us be united, as two Sister-Republicks» und prägte sozusagen das Konzept der «Schwesterrepubliken». Die aufklärerisch beeinflusste Elite in der Alten Eidgenossenschaft verfolgte die Entwicklung in Nordamerika mit Interesse. Auf ideologischer Ebene verstanden die fortschrittlichen Patrioten des Ancien Régime die Eidgenossenschaft als Vorbild, eben als «Sister Republic».

Allerdings stehen dieser postulierten Verwandtschaft Hindernisse entgegen. Das Bündnisgeflecht der Alten Eidgenossenschaft war ausgesprochen komplex und störungsanfällig. Es konnte kein Vorbild für eine rationalistische Staatsorganisation sein. Anlässlich der Debatte um die Ratifizierung der US-amerikanischen Verfassung von 1787 kamen die Vorbehalte gegen das Bündnisgeflecht der Schweiz zur Sprache.

Madison protokollierte im Kongress von Philadelphia anlässlich der Ausarbeitung der Verfassung das Votum: «The Swiss & Belgic Confederacies were held together not by any vital principle of energy but by the incumbent pressure of formidable neighbouring nations.» Die wenig ehrenvolle Aussage zeigte 1787 die fundamental gegensätzlichen Kontexte der beiden Bundesverhältnisse an. Der weitere Verlauf der Geschichte bestätigte diesen Eindruck. Valltravers’ Diktum beeindruckte die republikanische Schweiz. Sie wünschte sich eine grosse geistesverwandte ältere Schwester, und es waren von damals bis heute vor allem Schweizer, kaum jedoch amerikanische Politiker, die sich darauf bezogen.

Im Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft und den USA besteht ungeachtet aller instrumentellen Absichten des Diktums der «Sister Republic» eine Art Verwandtschaft. Valltravers macht in seinem Schreiben vom 14. April 1778 an Benjamin Franklin darauf aufmerksam: Am Ursprung stehen in beiden Fällen 13 Staaten beziehungsweise Kantone, die sich zusammenschliessen wollen. Die weiteren amerikanischen Einflüsse auf die Schweiz erfolgen durch Napoleon Bonaparte, der beansprucht, die föderalistische Mentalität der Schweizer besser zu kennen als sie selbst. Im 19. Jahrhundert übernehmen die aufklärerisch-liberalen Schweizer Politiker allmählich die amerikanischen Ideen, und es kommt zu einer während Jahrzehnten andauernden Rezeption der Articles of Confederation (1777 verabschiedet, in Kraft ab 1781) und der US-amerikanischen Verfassung (1787 verabschiedet, in Kraft ab 1789), die in die Bundesverfassung von 1848 mündet.

Französisch inspirierter Föderalismus

Die erste Helvetische Verfassung (1798) enthielt immerhin nach US-amerikanischem und britischem Vorbild das Zweikammersystem und legte eine erste Spur. Sie konzipierte die Eidgenossenschaft indes als Einheitsstaat, in dem das gesamte staatliche und politische Leben bürokratisch von oben nach unten organisiert sein sollte, ohne Rücksicht auf Geschichte und Eigenart des Landes. Damit war ihr Scheitern programmiert: Man empfand die gekürzte Version der französischen Direktorialverfassung als Diktat der Besatzungsmacht.

In der Folge entstand ab 1800 eine Diskussion über die beste Staatsform für die Schweiz, in der die bundesstaatliche Ordnung im Zentrum stand. Napoleon erliess angesichts politischer Unruhen im Frühjahr 1801 den Verfassungsentwurf von Malmaison. Dieser konzipierte die Schweiz als Bundesstaat und versuchte, zwischen Zentralisten und Föderalisten einen Kompromiss zu schliessen – erfolglos. Deshalb genehmigte der Erste Konsul am 29. Mai 1801 eine Verfassung, welche das Direktorium vorgeschlagen hatte. Die dualistische Staatsorganisation sah zwar den «Einen Staat» mit der Hauptstadt Bern vor und unterteilte das Gebiet in Kantone. Die Kantone hatten eigene Kompetenzen, insbesondere das Recht, die vom Senat vorgeschlagenen Gesetze anzunehmen. Sodann besassen die Kantone eine besondere Verwaltungsorganisation, die den örtlichen Verhältnissen angepasst sein sollte. Die Verfassung konnte sich nur kurze Zeit mittels französischer Waffengewalt halten.

Trotz des Scheiterns dieser föderalistischen Ordnung pflanzte ausgerechnet das zentralistische Frankreich die politische Idee einer freiheitlich-föderalistischen Bundesordnung in die Schweiz. Der Zusammenbruch der Helvetischen Republik schuf den Vorwand für ein weiteres Eingreifen Frankreichs, und Napoleon drängte seine Vermittlung (Mediation) auf. Er bestimmte nach dem Vorbild der Articles of Confederation die Organisation der Eidgenossenschaft. Erstaunlicherweise hielt dieses durch napoleonische Vormundschaft gestützte Modell zehn Jahre.

Die Kapitel 1–19 der Mediationsverfassung (1803) organisierten die 19 Kantone, Kapitel 20 den Bund. Die Bundesorganisation entsprach im Wesentlichen den Articles of Confederation. Sie war allerdings komplexer als das amerikanische Vorbild, indem sechs Direktorialkantone sowie ein Landammann vorgesehen waren und detaillierte Verfahrensvorschriften für die Tagsatzung bestanden. Entscheidend ist freilich die wörtliche Übernahme der Bundesstaatsklausel (Art. II AoC) in Art. 12 der Mediationsverfassung.

Diese zentrale Bestimmung hatte es den Kantonen ermöglicht, sich Vorrechte zu nehmen, indem sie den Wortlaut zu ihren Gunsten auslegten. Sie erscheint praktisch identisch in den Bundesverfassungsentwürfen von 1832/33 und blieb nahe am Text von Art. 3 der Bundesverfassung von 1848, der bis heute fast unverändert Art. 3 der Bundesverfassung von 1999 geblieben ist. Ferner untersagte die Mediationsverfassung der Eidgenossenschaft die Wiedereinführung der Untertanenverhältnisse; sie legte die Grundlage für die Rechtsgleichheit. Damit verankerte sie die Grundsätze, die die moderne Schweiz ermöglichten.

Mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Frankreichs sahen die 13 alten Orte die Gelegenheit gekommen, ins System des Ancien Régime zurückzukehren. Das Ansinnen liess sich wegen des Widerstands der europäischen Grossmächte nicht durchsetzen. Diese, insbesondere Russland, beharrten auf der Weiterexistenz der neuen Mediationskantone und auf dem Verbot der Untertanenverhältnisse. Während der langen Tagsatzung von 1813 bis 1815 in Zürich brachten die Botschafter der Grossmächte die Eidgenossenschaft dazu, einen Bundesvertrag abzuschliessen, der in der Sache nichts anderes als eine verschlimmbesserte Neuauflage der Mediationsverfassung war. Die moderne bündische Struktur der Schweiz blieb, wenn auch die Bundesstaatsklausel daraus entfernt wurde.

Langes Ringen

Die Julirevolution in Paris des Jahres 1830 erreichte zunächst die Kantone. Die Errichtung liberaler Demokratien in einzelnen Kantonen erlaubte die Erprobung neuer Freiheiten und Rechte. Was also, so mussten sich die Anhänger des Liberalismus fragen, spricht dagegen, dieselben liberalen Staatsideale auch auf Bundesebene zu realisieren? Die Frage klopfte an die Tür, ob der Bund nicht eine gewaltenteilige Verfassung benötige. 1831 beauftragte die Tagsatzung in Luzern eine Kommission mit dem Entwurf einer Verfassung mit Legislative, Exekutive und Judikative auf Bundesebene. 1832 und 1833 entstanden zwei ernsthafte Entwürfe, jedoch erreichten sie keine Mehrheit der Stände. In der Folge behielt die Tagsatzung die Revisionsfrage jedes Jahr auf ihrer Traktandenliste. Nach Auflösung des Sonderbundes hatten sich nach Wilhelm Fetscherin «alle bisher in dissentirender Stellung gebliebenen Stände […] zur Theilnahme am Werke der Revision herbeigelassen».

Die Entwürfe von 1832 und 1833 versuchten, der Pattsituation zwischen föderalistisch eingestellten Konservativen und bundesstaatlich beziehungsweise zentralistisch orientierten Liberalen Rechnung zu tragen. Kompromisse, wie drei Jahrzehnte zuvor in der Mediationsakte, wollten die Bundesgewalt stärken, ohne den Spielraum der Kantone übermässig zu beschränken. Die Anleihen aus den Articles of Confederation und der amerikanischen Verfassung waren beträchtlich. Die Bezeichnung als «Bundesurkunde» (vorher Bundesvertrag beziehungsweise «pacte fédéral»/«acte fédéral») sollte den Föderalisten signalisieren, dass die Änderung geringfügig war und es keineswegs um die Verfassung eines Einheitsstaates ging.

Anhand der Textübernahmen lässt sich zeigen, dass man sich vom Beispiel der USA leiten liess, und zwar von den Arti­cles of Confederation wie auch von der amerikanischen Verfassung. Aus den Articles of Confederation übernahm die Kommission die Präambel mit der Aufzählung der Mitglieder sowie die Art. 1–3 (Bundesname, Kompetenzverteilung, Unionszweck) und überführte sie in die Präambel (Aufzählung der Mitglieder) und die Art. 1–4 der Bundesurkunde (Bundesname, Kompetenzverteilung, Bundeszweck und Beistandsversprechen). Von grosser Bedeutung war die Übernahme der Kompetenzverteilung von Art. II der Articles of Confederation in Art. 3 der Bundesurkunde mit den entscheidenden Begriffen der souveränen Gliedstaaten und der ihnen gehörenden, nicht ausdrücklich dem Bund übertragenen Kompetenzen.

«Anhand der Textübernahmen lässt sich zeigen, dass man sich vom

Beispiel der USA leiten liess, und zwar von den Articles

of Confederation wie auch von der amerikanischen Verfassung.»

Aus der US-amerikanischen Verfassung übernahm die Kommission verschiedene wichtige Bauteile des Bundesstaates, so die Homogenitätsklausel, das Gewährleistungsverfahren oder die Bundesintervention. Die Entwürfe von 1832 und 1833 versammelten eine ganze Reihe amerikanischer Inspirationen aus den Articles of Confederation und der US-Verfassung. Sie scheiterten vorerst, standen 1848 für eine Weiterbearbeitung jedoch bereit. Sie sollten mit einer weiteren wesentlichen Übernahme aus der amerikanischen Verfassung geltendes Recht werden: dem Zweikammersystem.

Die Tagsatzungskommission erklärte, dass die bisherigen Grundlagendokumente von 1798, 1803, 1815 und 1832/33 die schweizerische Nation ausgeschlossen hätten. Der Entwurf von 1848 richtete das 1832 verworfene Zweikammerprinzip ein und gab der in der Präambel aufscheinenden «schweizerischen Nation» mit dem Nationalrat eine Stimme. Der Kommissionsentwurf spricht beim Nationalrat oft von den «Repräsentanten der Nation» gegenüber den «Gesandten der Kantone» (Ständerat) und übernimmt den amerikanischen Sprachgebrauch mit den «Repräsentanten». Der Entwurf der Kommission setzt am Ende die Ausdrücke «National- und Ständerat». Der Letztere führte die Tagsatzung weiter und ihn bestellten deswegen die Kantone. In den USA bestimmt die Verfassung das Wahlverfahren des Senats. Der Nationalrat wird – wie in den USA das Repräsentantenhaus – nach dem von der Bundesverfassung bestimmten Verfahren gewählt.

Die Bundesverfassungsschöpfer übernahmen aus einer 50 Jahre langen Kette von Rezeptionen (Mediationsverfassung, Bundesvertrag und den Entwürfen von 1832/33) zahlreiche Anleihen aus den Articles of Confederation und der amerikanischen Verfassung. Die Vorstellung, man habe 1848 willentlich einzelne und wichtige Elemente der US-Verfassung in die Bundesverfassung 1848 eingefügt, ist (mit Ausnahme des bundesstaatlichen Zweikammerprinzips) falsch. Das erklärt Missverständnisse und die Enttäuschung darüber, dass die Materialien von 1848 wenig hergeben, um die These zu stützen, die schweizerische Bundesverfassung sei ein Abbild der amerikanischen Verfassung.

Direkte Demokratie aus der Schweiz importiert

Die Eidgenossenschaft erhielt im Zuge der demokratischen Bewegung ab 1860 die Chance, den USA eine Gegengabe zu offerieren. Die Schweiz setzte in der Regeneration ab 1830 und in der demokratischen Bewegung ab 1860 die direkte Demokratie um. Diese aus der Französischen Revolution stammende Idee vermittelte die Schweiz den US-Gliedstaaten. In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts besuchten US-amerikanische Journalisten, Politiker und Gelehrte die Schweiz, um ihre direktdemokratischen Einrichtungen kennenzulernen. Ihre Berichte fanden in den Vereinigten Staaten grossen Nachhall. Einzelne Gliedstaaten begannen die direktdemokratischen Instrumente zu übernehmen, zuerst 1898 South Dakota, dann Utah 1900 und Oregon 1902, bis 1912 waren es schon 18 Staaten. Heute bestehen etwa in der Hälfte der Gliedstaaten die Instrumente der Volksinitiative und/oder des Referendums.

«Die Schweiz setzte in der Regeneration

ab 1830 und in der demokratischen Bewegung ab 1860

die direkte Demokratie um. Diese aus der Französischen Revolution

stammende Idee vermittelte die Schweiz den US-Gliedstaaten.»

Es zeigt sich, dass die Rezeption des US-Verfassungsrechts in einem fünfzigjährigen Prozess (1798–1848) als eigentliche Rezeptionskette erfolgte. Es handelt sich um eine mit der Helvetik eingeleitete Entwicklung, an deren Ursprung Frankreich und vor allem Napoleon Bonaparte stehen. 1

  1. Andreas Kley: Der Einfluss der Articles of Confederation und der U.S. Constitution auf die schweizerische Bundesverfassung 1848. In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 143 (2024), S. 59–85. Daniel Brühlmeier: Die Schweiz in der Staatstheorie. Basel; NZZ Libro, 2023, S. 137–146.

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