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Adelheid Duvanel, illustriert von Pipin Pabisangan.

Eine Welt ohne Opfer und Täter

Friederike Kretzen ist Expertin für die bisweilen äusserst beklemmende Prosa von Adelheid Duvanel. Im Gespräch erklärt sie, weshalb es sich bei der Basler Schriftstellerin um eine wichtige Neuentdeckung handelt.

 

Frau Kretzen, wer war Adelheid Duvanel?

Adelheid Duvanel war eine Grenzgängerin und eine grosse Dichterin, die alles riskiert hat und in der Literatur einzigartig dasteht. Sie war allein, eine einzelne Figur in der Schreibszene, die kleine Büchlein mit vielen kleinen Texten herausgegeben hat, «Wände dünn wie Haut» von 1979 etwa. In Basel kannten wir sie zu ihren Lebzeiten alle, und sie wurde auch sehr geschätzt. Die Kommunikation mit ihr war wortkarg, aber sie hatte einen unglaublichen Humor. Sie wollte eigentlich Malerin werden. In einer Erzählung schreibt sie von einer Frau, die sich – wie sie – für ein Kunststudium beworben hat, und die Lehrer bescheinigten ihr, dass sie schon Talent hätte, aber ihr Charakter würde sich nicht eignen. Sie muss schon immer sehr besonders gewesen sein.

 

Wieso sollte man sie lesen?

Wenn man ein bisschen vom Leben wissen will, sollte man sie unbedingt gelesen haben. Sie schrieb viele Geschichten, in denen sich Menschen völlig vergeblich um etwas bemühten. Was ihr Bemühen aber nicht schmälert. Es geht bei ihr oft darum, dass die Figuren das, worum sie sich so sehr bemühen, nicht bekommen. Sie erlangen dadurch aber eine ganz grosse Kraft, weiter zu wünschen, weiter zu wollen; Erfüllung spielt dabei keine grosse Rolle. Die Texte dieser Schriftstellerin sind eine Schule der Vergeblichkeit und handeln von einem grossen Verzeihen. Selbst die übelsten Figuren werden nicht angeklagt, eher bestaunt. Und eine solche Literatur, die nicht verurteilt, indem sie etwa sagt: «das ist gut», «das ist schlecht», «das ist besser», ist wirklich selten. Duvanel ist in diesem Sinne ganz nah bei dem, was sie erzählt: nicht zu entscheiden!

 

Was war Ihr erster sinnlicher Eindruck dieser Lektüre?

Die erste Lesung Duvanels, der ich beiwohnte, fühlte sich an wie ein Riss. Das war die Wirkung des Textes, den sie vorlas, auf mich. Er handelte von einer Frau, die in der Toilette eines Zuges ihre Ringe und ihr Portemonnaie entsorgt. Durch die Art und Weise, wie Duvanel die Sätze setzte, war völlig klar: Die Figur geht aus dem Leben, sie bringt sich um. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich fast vom Stuhl fiel, so immens war der Schock darüber, einen kommenden Suizid mit solch präzisen Sätzen anzudeuten.

 

Es fällt auf, dass Duvanels Sätze selbst als Stilmittel wirken.

Ja, und so ernst sie das Leben nimmt, so humorvoll ist sie zugleich. Die kurzen Sätze, mit denen sie arbeitete, verliehen dem Geschilderten eine zusätzliche Wucht.

 

Duvanel schrieb Kolumnen, war in den Basler Lokalmedien präsent. Sie wurde zu Lebzeiten mit Preisen ausgezeichnet, bald nach ihrem Tod aber dem Vergessen überantwortet. ­Können Sie sich das erklären?

Das ist bei Autorinnen leider üblich. Frauen gehen immer wieder vergessen. Allein in dem Zeitraum, seitdem ich mit dem Schreiben begonnen habe, sind so viele von ihnen neu aufgelegt, neu übersetzt, neu ediert worden, haben überschwengliches Lob erhalten – und waren im kommenden Jahr doch schon wieder vergessen. Urheberinnen anspruchsvoller Literatur werden nicht tradiert und passen in keine Tradierung rein, das scheint nach wie vor hermetisch zu sein. Und in der Schweiz sind die Referenzen, denen sich Autoren von heute andienen, immer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Das Register für Frauen ist nicht da. Denken Sie nur an Catherine Colomb, eine fantastische Schweizer Schriftstellerin – fast niemand kennt sie.

 

Stellt sich hier nicht die grundsätzliche Frage, wie Texte im kulturellen Gedächtnis behalten werden können?

Sicher. In diesem Fall – und vielleicht gilt das auch für viele andere Texte von Autorinnen – gibt es allerdings eine Besonderheit: Duvanels Texte lassen sich nicht zusammenfassen. Sie sind alle schon so zerlegt und zugespitzt, aber darin so vollständig, dass man sie einfach wieder lesen müsste, und das macht es schwierig, sie zu tradieren. Denn wie wir tradieren, hat viel mit Ordnung zu tun. Damit meine ich, dass das Unordentliche darin zu wenig Platz hat. Wir leben aber nicht in geklärten Zuständen und brauchen das Unentscheidbare. Dafür eine Form von Gedächtnis zu entwickeln, wäre eine Aufgabe der Kultur. Das ist auch keine Frage, die um den Aspekt «Männer/Frauen» kreist.

 

Warum war Duvanel letztes Jahr plötzlich eine wichtige ­Neuentdeckung?

Mir kam die Aufregung um ihre Neuentdeckung 2021, in der plötzlich die Rede von «Weltliteratur» war, fast wie eine Abwehr vor. Ihre Texte sind gefährlich, denn sie zeigen, dass das Leben nicht so ist, wie wir immerzu gesagt bekommen, dass es sei. Und sie sind anders als die Bilder, die uns vorgegeben werden und nach denen wir uns richten oder Mühe geben, ihnen zu entsprechen. Duvanels Erzählungen gehen auf ganz andere Weise unter die Haut, weil ihre Figuren ganz anders leben. Vor allem sind sie keine Opfer und auch keine Täter. Es braucht schon Abstand und Kühnheit, das zu sehen.

 

Das Lesen dieser Geschichten ähnelt bisweilen der Medika­menteneinnahme – etwas wird eingeworfen, aber die Wirkung setzt nicht sofort, sondern verzögert ein. Duvanels Geschichten sind kurz, sie lassen sich schnell herunterlesen, versetzen aber erst später einen Schlag.

Eine schöne und präzise Beobachtung, denn es geht bei Duvanels minimalisierter Dosierung tatsächlich um einen unglaublichen Aufschub von Schmerz und Tod. In einer Geschichte bekundet eine Figur, sich das Paradies nicht vorzustellen, weil die Zeit dafür zu klein sei – weil man so viel von der viel zu kleinen Zeit zum Leben brauche, dass man gar nicht erst zur Vorstellung des Paradieses vordringe. Alle Figuren vertun ihr Leben, aber das verschafft ihnen ganz viel Zeit. Das schafft ein anderes Verständnis von Existenz, und das ist sowohl das Schwierige an diesen Texten wie auch das Wunderbare.

 

In Ihrem Nachwort zur 2021 erschienenen Sammlung der Duvanel-Erzählungen schreiben Sie, wir würden in diesen Geschichten «vergeblich nach einem Innen suchen». Woran liegt das?

Duvanel zeigt, dass der Schrecken von aussen schrecklicher wirkt als von drinnen. Ihre Texte sind Kunst, weil sie es wagte, in Gebiete vorzudringen, für die es noch keine Sprache gab, und für unglaublich angstbesetzte Erfahrungen, wie Tod, Krankheit, Verlassenheit, Sucht, eine ganz eigene Sprache zu finden. Dort herrscht eine völlig andere Beharrlichkeit vor. Es gibt eine Gnade in diesen Texten, und diese hat etwas mit jenem Aufschub zu tun, der einfach weitermacht – bei vielen Erzählungen denkt man, dass das Beschriebene so schrecklich sei, dass die Figuren sterben müssten, was sie aber gar nicht tun, sie denken noch nicht einmal daran. Das ist das Widerständige an ihnen. Gegenwärtig haben wir viel zu wenig solche Literatur.

 

Was würden Sie als Kernthemen dieser Prosa bezeichnen?

Da wäre vor allem der Aspekt, einsam in dieser Welt zu sein – in einer Welt, die nicht versteht, dass man ganz anders wahrnimmt oder das, was als das Tollste oder als das Sinnvollste gilt, anders sieht. Duvanel schreibt immer von der anderen Seite und interessiert sich für all die widerstrebenden Kräfte, die unsere Existenz prägen. Dabei macht sie häufig Gegenseiten auf. Nehmen wir zum Beispiel diese Frage: Was ist eine Familie? Duvanel erklärt: Eine Familie ist ein Ensemble, das einen verrückt macht und beschädigt – und dennoch ist man ihr völlig verbunden.

 

Was sagen diese Geschichten über die Schweiz im 20. ­Jahrhundert?

Sehr viel. Sie beschreiben eine kalte Gewalt, die in den sozialen Fassaden steckt, die immer stimmen müssen. Duvanels Vater, ein Gerichtspräsident, hat ihre Texte als «Gschichtli» abgetan. Ihre Kunst wurde von ihm nicht geschätzt, und sie wurde lange nicht als Person anerkannt, die etwas Besonderes hervorbringt. Ihre Biografie ist nur ein Beispiel für viele andere Menschen, die etwas von diesem Land hätten erzählen können. Und die anders als Duvanel nicht die Sprache gefunden haben, um das zu tun.

 

Diesbezüglich wirkt Duvanels tragischer Tod fast selbst wie ein Mahnmal.

Er ist tragisch, weil er nicht unbedingt so gewollt war. Sie war eine Meisterin der Schwelle, starb aber in einer sehr kalten Juli-Nacht nach Medikamenteneinnahme in einem Wald an Unterkühlung.

 

Es gibt auffällige Parallelen zu Robert Walser, im Werk wie im Tod.

Ja. Beide wussten genau, was für eine Sprache sie sprechen und warum sie diese Sprache brauchten. Sie brachten etwas in unser kulturelles Leben, das vorher nicht da war. Dafür müssten wir beiden ewig dankbar sein.

 

Hätten Sie eine Leseanleitung für Menschen, die Duvanel ­gerade erst entdecken?

Insgesamt sollte man darauf achten, wie witzig und liebevoll diese Geschichten sind. Sie haben eine grosse Zartheit – denken Sie nur an die Geschichte «Aufbruch mit drei Plüsch­affen». Sie handelt von einem Kind, dessen Mutter mit einem Fotoalbum unterm Arm aus dem Hochhaus gesprungen ist und das nun schlecht und recht bei seinem Onkel und seiner Tante lebt. Als es sich entscheidet, fortzugehen, nimmt es seine Stoffaffen mit. Auf der Strasse begegnet es dann der Tante, die sagt, dass die Stoffaffen doch nicht auf die Strasse gehörten, und es geht mit der Tante wieder nach Hause zurück. Alle Figuren sind leicht abwesend wie Stoffaffen, aber völlig aufeinander bezogen. Sie haben ein zartes Gefühl für sich. Solche Texte schaffen Orte, an denen man dennoch leben kann.

 

Gleichzeitig machen viele dieser Texte den Eindruck, als ­erkunde man einen Abgrund, den man mit einem Bein bereits erfühlen kann.

Das ist das Produktive an diesen Texten. Sie sollen den Leser nicht in Ruhe lesen lassen, sie sollen einen an diese Grenze bringen. Das ist das Wichtige, denn jede Geschichte sagt: «Ich finde an diesem Abgrund statt, und das Leben geht weiter.» Vielleicht wäre es insgesamt lebendiger für alle, zu wissen, dass dieser Abgrund stets da ist – denn er ist das, was uns auch die Freiheit zu geben vermag.

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