Eine weitsichtige Politikerin
1980 bilanzierte die Freisinnige Vreni Spoerry, dass die Schweiz kein Steuerparadies sei. Heute ist sie es noch viel weniger.
Alfred Heer kommentiert «Steuerparadies Schweiz?» von Vreni Spoerry.
1980 schrieb die damalige Gemeinde- und Kantonsrätin sowie spätere National- und Ständerätin Vreni Spoerry einen vielbeachteten Artikel mit dem Titel «Steuerparadies Schweiz?». Sie räumt darin mit der These auf, dass die Schweiz ein Steuerparadies sei, und belegt das mit eindrücklichen Fakten und Statistiken. Zwar war die damalige Steuerbelastung in Prozenten des BIP der Schweiz im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten relativ tief. Die Schlussfolgerungen von Frau Spoerry waren allerdings alarmierend, was den Standort Schweiz und die Zukunft aus der Sicht von 1980 betrafen.
Sie stellte fest, dass die Fiskalbelastung und die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge im Zeitraum von 1965 bis 1980 massiv angestiegen waren. Insbesondere bei den Sozialversicherungsbeiträgen IV, AHV und ALV wurde dieser Trend danach fortgesetzt mit laufenden Erhöhungen der Beiträge auf den Lohnabgaben plus zusätzlichen, zweckentfremdeten Mehrwertsteuerabgaben. Eine Lösung der Unterfinanzierung der AHV aufgrund der demografischen Entwicklung ist auch heute noch in weiter Ferne. Wir haben uns politisch nicht besser aufgestellt seither. Steuer- und Abgabenerhöhungen werden unvermeidlich sein.
Weiter hielt Frau Spoerry fest, dass die Vermögenssteuer in der Schweiz sehr hoch sei – was heute noch zutrifft. Aufgrund der Konkurrenz zwischen kantonalen Steuersätzen bei der Vermögenssteuer sind diese allerdings seit 1980 gesunken. Erfreulich ist, dass die Erbschaftssteuern für direkte Nachkommen faktisch in allen Kantonen abgeschafft wurden – ein Segen für familiengeführte Unternehmungen. Die von Spoerry ebenfalls stark kritisierte Doppelbesteuerung von Dividenden, auch hier in Familienunternehmungen, konnte seither wesentlich reduziert werden.
Was Frau Spoerry natürlich noch nicht vorhersehen konnte: der zunehmende Druck auf Steuersysteme seitens der OECD. So sah sich die Schweiz gezwungen, eine Steuerreform einzuleiten, die Steuerprivilegien für Holdings abschafft (und im Gegenzug die Steuerlast für alle Unternehmungen massiv reduziert). Die Druckausübung durch die OECD ist damit nicht am Ende angelangt. Sie trachtet danach, weitere Änderungen am Steuersystem vorzunehmen, etwa dass Gewinn – hier stehen vor allem internationale Konzerne im Vordergrund – dort versteuert werden muss, wo dieser erzielt wird. Sollte eine solche Reform unter internationalem Druck durchgeführt werden, wird die Schweiz mit Milliarden von Franken an Steuerausfällen rechnen müssen. Mit der Coronakrise und der massiven Verschuldung der Euroländer wird der Druck auf «reiche» Länder via OECD zunehmen.
In der Zwischenzeit haben Globalisierung und Digitalisierung Firmen und Kapital mobiler gemacht. Asien, insbesondere China, ist auf dem Vormarsch. Die Schweiz steht heute fiskalpolitisch im Vergleich zu den europäischen Ländern noch einigermassen gut da. Aber auch bei uns wurden und werden neue Steuern geplant und eingeführt: die LSVA, Steuern auf fossile Brennstoffe, weitere Erhöhungen für die Sozialversicherungen, um nur einige zu nennen. Der «Trumpf-Puur», der jedoch heute noch sticht und den es hochzuhalten gilt, ist der Föderalismus: Nach wie vor herrscht hierzulande ein Steuerwettbewerb unter den Kantonen und Gemeinden. Mit dem ausgebauten nationalen Finanzausgleich, den es 1980 noch nicht gab, wird der Föderalismus allerdings massiv untergraben.
Frau Spoerry hatte in ihrem Artikel richtig bemerkt, dass die Schweiz kein Steuerparadies sei; es ist auch heute keines. Mit dem funktionierenden Föderalismus und einer eigenen Währung hat die Schweiz aber Trumpfkarten in der Hand. Es ist nach wie vor ein Land, in dem Rechtssicherheit herrscht, in dem die Steuerbehörden in der Regel mit Augenmass agieren und in dem das Volk bislang in Steuerfragen an der Urne pragmatisch und wirtschaftsfreundlich entschieden hat. Trotz veränderter Welt haben die grundsätzlichen Ausführungen von Frau Spoerry auch heute noch Gültigkeit.