Eine verheerend
erfolgreiche Ideologie
Julia Lovell: Maoismus. Eine Weltgeschichte. Berlin: Suhrkamp, 2023.
Glücklicherweise schwindet die Präsenz mancher politischer Irrungen nach wenigen Jahrzehnten so sehr, dass nichts mehr von ihr übrig bleibt. Zumindest im Westen gilt dies für den Maoismus, eine der wirkmächtigsten wie mörderischsten politischen Irrlehren des 20. Jahrhunderts – und zugleich eine der unterschätztesten. Dieses entscheidende Detail erschliesst sich allerdings erst in globaler Perspektive: Denn während die fatalen Folgen, die Planwirtschaft und Kulturrevolution in China hatten, weitläufig bekannt sind, ist das Wissen um ihr weltweites Wirken noch immer deutlich geringer ausgeprägt.
Julia Lovell, die am Londoner Birbeck College chinesische Geschichte unterrichtet, hat 2019 eine Weltgeschichte des Maoismus veröffentlicht, die nun in deutscher Übersetzung von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz vorliegt. Darin unternimmt die Sinologin eine wichtige analytische Korrektur, denn die Konzentration auf die Polarität von Ost und West im Kalten Krieg hat auch nachträglich dazu geführt, dass die eigenständigen Entwicklungen in der Dritten Welt von der Öffentlichkeit lange unbeachtet geblieben sind. Dies betrifft insbesondere die Ideen des chinesischen Revolutionsführers, späteren Parteichefs und Staatspräsidenten Mao Zedong (1893–1976), die zu Zeiten der Studentenbewegung vor allem in Form des «kleinen roten Buches» zirkulierten, einer Zusammenstellung einschlägiger Zitate und Forderungen des «Grossen Vorsitzenden». Einige davon, so etwa «Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen» oder «Dem Volke dienen», fanden sich in den frühesten Grundsatzerklärungen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) oder in den Postillen der K-Gruppen, deren Protagonisten später anderweitige politische Karrieren einschlugen und sich heute über ihre Vergangenheit ausschweigen.
Lovell konzentriert sich darauf, die Effekte nachzuzeichnen, die Maos Ideen ausserhalb Chinas hatten. So hebt sie richtig hervor, dass es die betont einfache Sprache des Revolutionärs war, die wesentlich zum Erfolg im Westen wie in Afrika, Asien und Südamerika führte – ein Umstand, der nebenbei viel über die westlichen Linken verrät, deren Wunsch nach Einfachheit und Feindschaft hier ein probates Gefäss fand. Maos Stärke lag darin, «Rebellen und Aufständischen, die sich ungeduldig nach Veränderung sehnten», nahezulegen, «dass sie innere Widersprüche im Denken und Handeln nicht zu fürchten hätten». Allerdings unterschieden sich die Adaptionen im globalen Vergleich. Während der Maoismus beispielsweise nach Verhaftung der Gründungsriege der RAF für die Organisation keine Rolle mehr spielte, entfaltete er seine Wirkmächtigkeit im Kambodscha der Roten Khmer, deren Terrorherrschaft zu den absoluten politischen Tiefpunkten nach 1945 zählt. Äusserst erschreckend war der ideologische Erfolg auch im Falle der peruanischen Guerilla Sendero Luminoso, deren völlig sinnbefreite Adaption eines maoistischen «Volkskrieges» zehntausende Menschenleben kostete. Leider wird das Kapitel der chinesisch-albanischen Freundschaft ausgespart – und damit eine Episode, an der sich der erhebliche Einfluss des Maoismus auf einen europäischen Staat hätte veranschaulichen lassen.
Lovells Darstellung zeigt auf, was passiert, wenn «Unzufriedenen» in aller Welt der allzu einfache Gedanke eines gewaltsamen Aufstands anempfohlen wird. In einer Zeit, in der die Schrecken des 20. Jahrhunderts fast schon wieder verblichen sind, macht das die Lektüre umso lohnender.