Eine Pionierin der Architektur
Ludovic Balland/Emanuel Christ/Christoph Gantenbein/Sven Richter (Hrsg.): Lux Guyer. Obere Schiedhalde. Zürich: Park Books, 2023.
Obwohl an der Zürcher Bahnhofstrasse 71 eine Gedenktafel für sie montiert und in Unterstrass ein Weg nach ihr benannt ist, hat die Schweizer Architekturpionierin Lux Guyer bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren. 1894 geboren und 1955 im Alter von nur 60 Jahren verstorben, trat sie insbesondere in den 1920er- und den 1930er-Jahren mit behutsamen und unaufgeregten, dafür umso wohldurchdachteren Bauten hervor, deren Innovationsgrad sich in der Rückschau immer klarer abzeichnet. Zu ihren bekanntesten Werken zählen das Frauenwohnheim Lettenhof, der Platz für 60 alleinstehende Bewohnerinnen bot, das Feriendomizil «Co-op» in Weggis und vor allem das modulare Holzhaus, das 1928 anlässlich der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) konzipiert worden war.
Guyer war zudem die erste selbständig arbeitende Architektin des Landes, was den Umstand, dass ihr erst 2013 eine wissenschaftliche Monografie gewidmet worden ist, während eine kulturpolitisch angemessene Würdigung noch immer aussteht, umso befremdlicher macht. Auch wenn die schöpferische Unternehmerin nicht ganz vergessen ist, bestätigt sich hieran ein weiteres Mal das Schicksal, das zahllose historische Neuerinnen gleich welchen Feldes ereilte.
Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein und Sven Richter haben nun einen eindrucksvollen Bildband herausgegeben, der zwar keine Gesamtwürdigung Guyers ist, dafür aber anhand eines Bauprojektes exemplarisch aufzeigt, was es hier konzeptuell wie im Detail zu entdecken gibt. «Obere Schiedhalde» heisst die Publikation, die dem gleichnamigen Einfamilienhaus gewidmet ist, das Guyer 1929 in Küsnacht bauen liess und in das sie zehn Jahre später selbst eingezogen war, 1947 allerdings wieder verkaufte. 1982 wurde das Gebäude ins kommunale Inventar schutzwürdiger Bauten aufgenommen. Als es nochmals drei Jahrzehnte später den Status eines überkommunalen Schutzobjektes erhielt, war es allerdings in desolatem Zustand. Zwischen 2012 und 2014 erfolgte dann die Renovation durch die Architekten Christ & Gantenbein sowie Sven Richter.
Seither wird Guyers Haus von einer zwei Meter hohen Mauer abgeschirmt, da die Schiedhaldenstrasse heute stark vom Autoverkehr frequentiert wird. Die bauliche Massnahme dient einzig dem Zweck, die einstige Wirkung dieses Ortes neu zu akzentuieren, und das im Band dokumentierte Resultat kann sich sehen lassen. Gezeigt werden die für die Moderne typischen Raumübergänge, deren überraschende Wendungen – versetzte Details, ungewohnt viele Türen in manchen Zimmern, diverse Ecken – genauso überzeugen wie die Nahaufnahmen eines Fenstergriffs, einer sternförmigen Lampe, von Lichtschaltern oder einem Rollladenseil. Die Gestaltung des Bandes ist besonders attraktiv, denn die Teilaspekten gewidmeten Kapitel konturieren den zeitlosen Charakter des Baus und machen die Verwobenheit des Ganzen im einzelnen erfahrbar. Vor allem aber dokumentiert die überfällige Publikation Seite um Seite den Esprit und den Erfindungsreichtum Lux Guyers, der nun, mehr als 100 Jahre später, in seinem unprätentiösen Wohlklang endlich erneut zur Geltung kommt.