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Eine Nebensächlichkeit namens Gesetzgebung
Prof. Dr. Alain Griffel, zvg.

Eine Nebensächlichkeit namens Gesetzgebung

Das Parlament produziert Gesetze am laufenden Band, deren Qualität nimmt jedoch stetig ab. Das führt zu mehr Bürokratie und Rechtsunsicherheit.

 

Es ist paradox: In den Gesetzgebungsdiensten von Bund und Kantonen ist heute mehr Fachkompetenz vorhanden denn je. Trotzdem hat die Qualität der Gesetzgebung seit der Jahrtausendwende markant abgenommen. Um nur ein besonders missratenes Beispiel zu nennen: das 2016 in Kraft getretene Zweitwohnungs­gesetz, fabriziert im Departement der damaligen Bundesrätin Doris Leuthard. Man versteht schlicht nicht, was drinsteht. Der Knüller ist Artikel 8, Absatz 3: Erstellt ein sogenannter strukturierter Beherbergungsbetrieb «sowohl Wohnungen nach Absatz 1 wie auch solche nach Absatz 2, so wird der Höchstanteil von 33 Prozent reduziert um den Wert, der sich daraus ergibt, dass der Quotient aus der ­Fläche der Wohnungen nach Absatz 1 und der Summe der Flächen der Wohnungen nach den Absätzen 1 und 2 mit 13 Prozent multipliziert wird». Wie kommt es, dass die ­Gesetze immer schlechter werden, obwohl so viel Know-how wie noch nie vorhanden ist?

Zur Gesetzesflut mit stetig abnehmender Qualität tragen exogene und endogene Faktoren bei. Exogene Faktoren, die nicht beeinflusst werden können, sind die rasante technologische Entwicklung sowie die Fortschritte in der Medizin und in den Naturwissenschaften, die Globalisierung und Europäisierung des Rechts (Stichworte: globale Märkte, «autonomer Nachvollzug» von EU-Recht), das ­Bevölkerungswachstum, die gewaltig gestiegene Mobilität sowie die Verdichtung der Lebensräume und Infrastrukturen. Das alles sind Realien, die zu einer stetig zunehmenden Komplexität, aber auch zu einer immer grösseren ­Beschleunigung der Gesetzgebung führen.

Vorstossflut im Parlament

Als endogene – und damit grundsätzlich beeinflussbare – Faktoren kann man eine Reihe von eher oberflächlichen Gründen benennen, die ihrerseits Symptome tieferliegender Ursachen sind. Dazu gehört, erstens, die Flut von parlamentarischen Vorstössen, welche die Gesetzgebungs­maschinerie befeuert, die Verwaltung auf Trab hält und das Parlament selbst an den Rand der Überforderung bringt. Parlamentarische Vorstösse haben zweifellos eine wichtige Impuls- und Kontrollfunktion, dienen zunehmend aber auch der persönlichen Profilierung. Wer sich im Politbetrieb nicht bemerkbar macht, geht unter.

Zweitens besteht eine überhitzte Interaktion zwischen der kurzatmigen und zuweilen populistisch geprägten öffentlichen beziehungsweise medialen Meinung einerseits und dem parlamentarischen Aktivismus anderseits. Dies mündet nicht selten in eine symbolische oder anderswie fehlgeleitete Gesetzgebung, nach dem Motto «Hauptsache, wir haben etwas getan».

Drittens hat im Parlament ein kultureller Wandel stattgefunden: Das Gesetz wird heute von vielen Parlamentsmitgliedern als Nebensächlichkeit betrachtet, als eine Art Notizheft, das Unsorgfältigkeiten jeglicher Art erträgt und dessen Inhalt rasch und beliebig geändert werden kann. Für die Qualität und Beständigkeit ihrer Gesetze fühlen sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier gar nicht mehr verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich. Im Vordergrund steht der politische Kampf, zuweilen auch der Schaukampf.

Die rechtsanwendenden Behörden und Gerichte werden deshalb immer häufiger mit unausgegorenen Halb­fabrikaten des Gesetzgebers konfrontiert, die sie irgendwie zurechtbiegen müssen. So musste der Kanton Wallis nach dem Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes ein Kompetenzzentrum für Zweitwohnungen einrichten, um die ratlosen Gemeindebehörden beraten zu können. Wer schlechte Gesetze sät, wird Bürokratie ernten! Auch fördert dies tendenziell die Zunahme von Rechtsstreitig­keiten, weil Unklarheiten gerichtlich geklärt werden ­müssen. Diese Zusammenhänge scheinen immer weniger Politikern bewusst zu sein.

Unnötige Detailversessenheit

Viertens legiferiert der Gesetzgeber heute viel detail­versessener als früher, da er nicht nur dem nachgelagerten Verordnungsgeber, also der Exekutive, sondern zunehmend auch den Gerichten misstraut. Jede Eventualität, jede Ausnahme und jede Gegenausnahme will deshalb ­geregelt sein. Dabei verkennen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Funktionenteilung zwischen dem Gesetzgeber und den rechtsanwendenden Organen. Der Gesetzgeber kann nie alles vorhersehen; deshalb ist der Rechtsanwendung stets auch eine konkretisierende, rechtsfortbildende Komponente immanent. Der Richter ist kein blosser «Subsumtionsautomat», der vom Gesetzgeber programmiert werden kann.

In der Bundesverwaltung ist, fünftens, eine deutliche Zunahme der Gesetzgebungslast festzustellen, unabhängig von Corona. Dies führt zu Zeitdruck und Überforderung, was umso fataler ist, als konzeptionelle Mängel eines Gesetzesentwurfs im parlamentarischen Verfahren kaum noch korrigiert werden können. Im Parlament werden die Gesetzesentwürfe der Verwaltung jedenfalls nicht besser.

Schliesslich wird, sechstens, verwaltungsexternes ­Expertenwissen deutlich weniger fruchtbar gemacht als früher. Expertenkommissionen, die für ein neues Gesetz ein Konzept und darauf basierend einen Entwurf erarbeiten, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Die Bundesverwaltung genügt sich heute weitgehend selbst, und die Experten äussern sich dann in den Medien – im Nachhinein, wenn es zu spät ist.

«Die rechtsanwendenden Behörden und Gerichte werden

immer häufiger mit unausgegorenen Halbfabrikaten des

Gesetzgebers konfrontiert, die sie irgendwie zurechtbiegen müssen.»

Tieferliegende Ursachen

Aber was sind die tieferliegenden Ursachen? Ich möchte zwei namhaft machen: erstens die zunehmende Verhärtung der politischen Auseinandersetzung in einem pluralistischer und damit auch unberechenbarer gewordenen politischen Umfeld. Konsens und gemeinsame Grundüberzeugungen sind brüchiger geworden, geschürte oder reale Ängste vor den Bedrohungen der Gegenwart und den Unwägbarkeiten der Zukunft nehmen zu. Vor diesem Hintergrund absorbiert das Taktieren, das Schmieden von Allianzen zwischen den Parteien mehr Kräfte als früher. Für die Pflege des daraus resultierenden Produkts, des Gesetzes, bleibt da kaum noch Energie; dieses verkommt vielmehr zum Protokoll des politischen Kräftemessens.

Zweitens ist der Einfluss der Juristinnen und Juristen in der Verwaltung in den letzten 25 Jahren deutlich geschwunden. Zuvor waren sie während Jahrzehnten dominant, vielleicht zu dominant. Heute aber stehen sie vielerorts in der zweiten oder dritten Reihe. Politische Oppor­tunität, ökonomische Effizienz und mediale Selbstdarstellung sind zu dominierenden Faktoren geworden, wogegen Rechtskonformität und Rechtsstaatlichkeit zunehmend als formalistische Hindernisse, ja als lästige Störfaktoren empfunden werden.

Das soll kein Jammern über den Bedeutungsverlust der eigenen Zunft sein. Vielmehr ist das Schwinden des Rechtsstaatsbewusstseins sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung alarmierend – und wohl die tiefere Ur­sache so mancher Erscheinung, die ich zuvor beschrieben habe. Rechtsstaatlichkeit als Eigenwert, als tragende Säule eines freiheitlichen Staatswesens, scheint 75 Jahre nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs begründungsbedürftig geworden zu sein, vielleicht auch deshalb, weil man diese zivilisatorische Errungenschaft für selbstverständlich hält. Sie ist es aber keineswegs; vielmehr muss sie ­gepflegt und weiterentwickelt werden, ansonsten sie verkümmert.

Grundlagenarbeit statt Schnellschüsse

Was aber ist zu tun? Einfache Rezepte gibt es keine. Auf Stufe Verwaltung müsste die konzeptionelle Grundlagenarbeit zu Beginn des Gesetzgebungsprozesses verbessert werden; Expertenwissen sollte in dieser wichtigen Phase wieder stärker fruchtbar gemacht werden. Sodann scheint es zunehmend der politischen Opportunität geschuldet, dass Interessenvertreter bereits von Anfang an in den ­Prozess einbezogen werden oder diesen gar dominieren, wie dies etwa beim Zweitwohnungsgesetz der Fall war. Das ist verhängnisvoll und sollte vermieden werden. Interessenvertreter sollen zwar einbezogen werden, aber erst im Vernehmlassungsverfahren.

Im Parlament wären weniger Schnellschüsse, weniger Aktivismus und mehr Sorgfalt wünschenswert. Am Anfang sollte stets die Frage nach der Notwendigkeit eines neuen Gesetzes beziehungsweise einer Gesetzesänderung gestellt werden. Dies bedarf einer sorgfältigen Analyse, bei der das Parlament auf das Fachwissen der Verwaltung ­angewiesen ist. Deshalb sollten parlamentarische Initiativen, bei denen das Parlament anstelle der Verwaltung gleich selbst den Gesetzesentwurf bastelt, viel zurück­haltender eingesetzt werden; denn parlamentarische Initia­tiven führen kaum je zu überzeugenden Resultaten.

All dies würde zu einer entschleunigteren Gesetzesproduktion und zu mehr Qualität beitragen. Ausgangs- und Angelpunkt, um das Problem grundlegend anzugehen, wäre aber etwas anderes: eine Auffrischung des Rechtsstaatsbewusstseins in Politik und Gesellschaft.

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