Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Eine historische Nacht

Ein korpulenter Sportreporter kommentiert ein Eishockey-Finalspiel. Doch es wird nicht der Sport sein, der an diesem Abend Geschichte schreibt.

Eine historische Nacht
Illustration von Sascha Düvel.

Der Bus hält, ich springe raus. 105 Kilo landen zitternd auf der Erde. Der Himmel ist grau. Der Bus fährt weiter. Niemand hat mich gesehen.

Bauschutt knirscht unter meinen Füssen. Hier wird immer irgendetwas gebaut. Immer stehen hier irgendwelche Bagger, Lastwagen, Betonmischer rum. Nur Menschen sieht man keine. Postapokalyptische Architektur. Die bauen schon für eine Zeit, wenn es keine Menschen mehr gibt.

Je grauer der Ort, desto mediterraner die Strassennamen. Florenz-Strasse, Rimini-Strasse, Barcelona-Strasse. Tatsächlich sehen die Strassen hier im Güpf-Areal alle gleich aus. Nämlich nach industrieller Leere.

Nach ungefähr zwanzig Schritten, na ja, in meinem Fall sind es wohl ein paar mehr, taucht unverhofft «Harrys Kebab» auf. Hier gibt es den besten Döner der Stadt. Wirklich? Nein. Aber jeder behauptet doch, dass es bei ihm um die Ecke den besten Döner, die beste Pizza, die besten Fritten gibt. Man hat ja keine andere Wahl. Das ist wie mit den Strassennamen. Das wirkliche Leben findet anderswo statt.

Ich bestelle einen Döner und lasse ihn mir in Alufolie einpacken. Zweimal. Denn ich werde ihn erst später essen. Trotz der Folie wird der Döner dann kaum noch warm sein, manche Teile werden bereits vollständig erkaltet sein. Dreimal die Woche ist kalter Döner mein Abendbrot. Ich habe mir auch schon eine Spinat-Pita gekauft, bin damit aber nicht glücklich geworden. Die Spinatfetzen klebten mir danach zwischen den Zähnen und störten mich beim Sprechen. Und sprechen muss ich viel. Ich bin nämlich Sportreporter.

Als ich das Sendehaus betrete – eine ehemalige Chemiefabrik, die sanft renoviert wurde, das heisst, man hat die Wände gestrichen und überall Polstergruppen aus schwarzem Leder und/oder Zimmerpflanzen der Modegattung Monstera reingestellt –, kommt mir als erstes Nadine Zumthor entgegen. Sie moderiert den Fussball-Talk mit dem einprägsamen Namen «Goal», das Flaggschiff des Senders. Ausserdem sitzt sie im Verwaltungsrat, sie ist mir also karrieretechnisch ungefähr zehn Meilen voraus, und so bewegt sie sich auch. Der Schritt frei ausschwingend dynamisch und nicht so urwüchsig stampfend, als wolle er die Erde dafür bestrafen, dass sie sich unter ihm befindet.

«Hopp Odi!», ruft sie mir fröhlich zu.

Sie glaubt offenbar immer noch, dass ich beim Skifahren bin. Kein Wunder. Schliesslich habe ich es ihr selber erzählt. Beim Neujahrsapéro neulich war sie schon leicht angeheitert auf mich zugekommen.

«Sie müssen neu sein. Ich habe Sie hier noch nie gesehen.»

«Stimmt», sagte ich, obwohl ich schon seit vier Jahren für den Laden arbeite.

«Und wo sind Sie?»

«Beim Skifahren», sagte ich.

Skifahren klingt so gut. Klingt so einfach. Es ist der Stolz unseres Landes. Unsere Vergangenheit und Zukunft. Es klingt ein bisschen wie das Geräusch von Nadine Zumthors Absätzen, wenn sie dynamisch an mir vorbeischreitet.

Die Wahrheit ist, dass mich hier kaum einer kennt, denn meine Arbeit beginnt dann, wenn alle anderen längst zu Hause sind. Wenn all die Odis und Suters und Zurbriggens im Bett liegen und von den Erfolgen des Tages träumen, setze ich meine 105 Kilo hinters Mikrofon und kommentiere die Spiele der nordamerikanischen Eishockeyliga, auch bekannt als NHL.

Am Ende eines langen grauen Korridors voller Polstergruppen und Zimmerpflanzen nehme ich die Treppe in den ersten Stock. Bereits bevor ich mich an den Aufstieg mache, fange ich zu keuchen an. Früher war es Ehrensache, dass Sportreporter unsportlich waren. Heute sehen sie alle so aus, als könnten sie selber den Triathlon laufen, den sie kommentieren. Es gehe um Glaubwürdigkeit, hat man mir gesagt. Die Zuschauer trauen einem athletischen Körper mehr Sachverstand zu. Dabei geht es bei unserer Arbeit gar nicht darum, etwas zu wissen. Es geht darum, den Akt des Zuschauens zur höchsten Daseinsform zu erheben. Und der wahre Sportreporter hat einen Körper, der ganz in diesem Akt aufgeht.

Früher war es Ehrensache, dass Sportreporter unsportlich waren. Heute sehen sie alle so aus, als könnten sie selber den Triathlon laufen, den sie kommentieren.

Auf dem Zwischenstock lege ich eine Pause ein und rauche eine Zigarette. Dazu öffne ich das Fenster. Auch hier steht eine Topfpflanze. Seit vier Jahren rauche ich schon auf diesem Zwischenstock meine Zigarette. Seit vier Jahren leistet mir die Topfpflanze dabei Gesellschaft. Sie sieht nicht mehr besonders frisch aus und hat ihre besten Tage hinter sich. Das haben wir gemeinsam.

Dann stehe ich im ersten Stock vor Zimmer B52. Wie immer klopfe ich an, obwohl ich weiss, dass Kollege Schmidt längst gegangen ist. Im Zimmer haftet noch sein beissender Schweissgeruch. Kollege Schmidt kommentiert die Schachmeisterschaften, und ich habe mich schon oft gefragt, wie man bei einem dermassen statischen Sport dermassen ins Schwitzen geraten kann. Zimmer B52 ist nicht mehr als ein Kabuff, das gerade mal mit dem Nötigsten eingerichtet wurde. Es ist kein Studio. Man könnte hier keine Interviews führen oder gar Talkrunden abhalten. Es steht hier keine Polstergruppe, ja es gibt nicht mal eine Topfpflanze. B52 ist für die Randsportarten reserviert. Am Tag werden hier so abwegige Sachen wie Schach, Darts oder Rhythmische Sportgymnastik kommentiert. Und in der Nacht komme ich.

In B52 gibt es auch keine Fenster. Kein Problem. Denn wie immer habe ich meinen Deo dabei, den ich grosszügig versprühe. Dann setze ich mich hin, und eingehüllt in eine Wolke Aloe Vera esse ich den jetzt mittelwarmen Kebab.

Heute Nacht kommentiere ich das fünfte Spiel der Finalserie zwischen den Tampa Bay Lightnings und den New Jersey Devils. Die Unterdogs aus New Jersey haben bis dato erstaunlich gut mitgehalten und können am heutigen Abend gar den vorentscheidenden Sieg zum Titel erringen. Doch nicht deswegen ist die Atmosphäre im Prudential Centre dermassen mit Weltbedeutung aufgeladen, dass selbst im Aufnahmestudio B52 im Güpf-Areal von Zürich Spreitenbach etwas davon zu spüren ist. Denn im Publikum sitzt heute kein Geringerer als Mister President, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. In Newark aufgewachsen, möchte er sich natürlich auf keinen Fall entgehen lassen, wie seine geliebten Devils den ersten Titel seit 37 Jahren nach Hause bringen. In Wahrheit ist mal wieder Wahlkampf, und die Umfrageergebnisse verheissen nichts Gutes. Da ist Mister President seine alte Liebe zum Eishockey eingefallen. Meiner Erfahrung nach ist das immer so. Sport ist der bierernste Bruder der Ironie. So wie sie ist er eine Türe, die aus der Verzweiflung führt. Sport ist ein Ablenkungsmanöver, das vielleicht älteste der Welt. Wann immer jemand Sport treibt oder sich dafür interessiert, geschieht gerade irgendwo anders etwas sehr viel Wichtigeres.

Ich interessiere mich nicht für Politik. Früher bin ich noch wählen gegangen, mal links, mal rechts, mal dies, mal das. Mittlerweile habe ich damit aufgehört, denn ich habe festgestellt, dass der Lauf der Geschichte sowieso nichts mit meinem Leben zu tun hat.

Der Lauf der Geschichte.

Natürlich habe ich mich trotzdem vorbereitet. Schliesslich ist das meine Arbeit. Darum weiss ich, dass die adrette Blondine neben Mister President seine Gattin Nancy ist. Sie ist gelernte Ernährungswissenschafterin und hat ein Aufklärungsbuch für Kinder mit dem Titel «An Apple a Day Doesn’t Keep the Doctor away» geschrieben. Weil ich mich vorbereitet habe, weiss ich auch, dass der schmächtige Junge im etwas zu grossen Devils-Shirt sein dreizehnjähriger Sohn Jake ist. Er besucht eine Privatschule in England und wurde extra eingeflogen, um an der Seite seines Dads dieses bedeutende Spiel zu schauen. Einfach rührend, wie die beiden Schulter an Schulter die Nationalhymne mitsingen. Und noch rührender, wie sie sich innig umarmen, als nach sieben Minuten das 1:0 für die Devils fällt. Vater und Sohn beim Eishockey.

Vor fünf Monaten ist mein Vater gestorben. Kurz zuvor hatte man in seiner Bauchspeicheldrüse einen faustgrossen Tumor inklusive Metastasen gefunden. Vater hatte die Diagnose genau wie die negative Prognose bezüglich seiner verbleibenden Lebenszeit mit der ihm eigenen Mischung aus Boshaftigkeit und Schadenfreude ertragen. Er hat sich sein ganzes Leben immer nur als Opfer der Verhältnisse gesehen. Der Tod war so gesehen nur das letzte Kapitel dieses Trauerspiels, dessen höchster Genuss für ihn darin bestand, dass es anders war, als er sich gewünscht hatte. Ich besuchte ihn regelmässig im Krankenhaus. Wenn ich geglaubt hatte, dass ihn die Todesnähe verändern würde, so hatte ich mich getäuscht. «Was willst du schon wieder hier?», empfing er mich jeweils. Ich spürte, dass ihm meine Anwesenheit lästig war. Und auch er spürte es und wurde davon seltsam verlegen. Er versuchte dann, mir das Gefühl zu vermitteln, dass er sich über meinen Besuch freue. Doch da er nie gelernt hatte, Gefühle zu heucheln, erschöpften ihn diese Scharaden sehr, und er fiel dann in eine Starre, die noch abweisender war als üblich. Wenn ein Mensch sein Leben lang nicht gesprochen hat, fängt er nicht kurz vor dem Tod plötzlich damit an. Manchmal kam es mir so vor, als gäbe es zwischen uns keinerlei Verbindung, als vereinte uns nicht eine gemeinsame Geschichte, als wären wir nicht mehr als zwei vollkommen Fremde, die zufälligerweise im selben Zimmer sassen. «Ich kann nicht machen», sagte er bei meinem letzten Besuch. Das waren seine letzten Worte. Dass er nicht scheissen kann. Die letzten Worte eines Vaters zu seinem Sohn. Was hat das nur zu bedeuten?

Es liegt eine diffuse Nervosität in der Luft. Vielleicht liegt es an der Anwesenheit des Präsidenten. Alle scheinen heute Abend irgendwie kurz vor dem Durchdrehen zu sein. Es ist nicht so, dass die Checks heute besonders dreckig wären. Trotzdem hat man die ganze Zeit das Gefühl, als könne es gleich so richtig ins Auge gehen. Zum Beispiel vorhin, als der Stürmer der Lightnings zu Boden fiel und die geschliffene Kufe seines Schlittschuhs nur haarscharf am Hals des Devil-Verteidigers vorbeiglitt. Zwei Zentimeter mehr und er hätte ihm die Halsschlagader aufgeschlitzt. Solche Dinge kommen vor. Wie der Puck, der damals ins Publikum schoss und einen neunjährigen Jungen erschlug. Er war sofort tot. Aber in der Regel kommen sie eben nicht vor. Das Spiel geht weiter. Niemand stirbt. Der Puck fliegt um Haaresbreite an unserer Schläfe vorbei, und wir empfinden den leichten Luftzug als erfrischend. Ist das Glück also grundsätzlich auf unserer Seite, um sie dann eines Tages aus dem Nichts heraus zu wechseln?

Natürlich sage ich nichts von diesen Gedanken am ­Mikrofon. Stattdessen rede ich vom «aggressiven Fore­checking der Devils». Ich lobe das «gut organisierte Stellungsspiel der Verteidiger» und kritisiere die «viel zu nachlässige Chancenauswertung». Ich labere gedankenfrei ­darüber, dass dies «ein legendärer Abend» sei, der «in die Geschichtsbücher des Eishockeys» eingehen werde.

Die gottverdammten Geschichtsbücher.

Bei jeder Gelegenheit werden sie herbeizitiert. Mittlerweile reicht es schon, dass ein Spiel in die Verlängerung geht, dass ihm ein Platz in der Geschichte sicher ist. In Wahrheit wird alles immer sofort vergessen. Kein Moment, ob gross oder klein, hat heute noch die Kraft, tatsächlich historisch zu werden. Es ist schlicht und einfach schon zu viel passiert, und es passiert immer mehr. Die Geschichte ist gesättigt. Gesättigt mit Triumphen. Gesättigt mit Niederlagen. Gesättigt mit Tragödien, mit Schicksalen, mit Geschichte. Die Geschichte ist gesättigt mit Geschichte. Da passt nichts mehr rein. Und doch geht alles immer weiter.

Mittlerweile reicht es schon, dass ein Spiel in die Verlängerung geht, dass ihm ein Platz in der Geschichte sicher ist. In Wahrheit wird alles immer sofort vergessen.

«Goal», schreie ich ins Mikro und rieche die Knoblauchsauce. «2:0 für die Devils!» In einer geschichtslosen Welt riecht der Triumph nicht nach Triumph, sondern nach Knoblauchsauce.

Jake und Dad umarmen sich wieder.

Nach Vaters Tod hat das Pflegeheim mir zwei Taschen mit seiner Wäsche übergeben. Seine Hemden. Seine Hosen. Vieles davon jahrzehntealt. Vater hat zu seinen Sachen immer sehr gut Sorge getragen. Auch die dünne braune Jacke, die er immer bei der Gartenarbeit getragen hat, ist dabei. Ich habe sie anprobiert. Sie ist mir zu klein. Wie all die anderen Sachen auch. Im Güpf-Areal gibt es ein Brockenhaus. Es riecht dort abgestanden. Nach alter Geschichte. Nach Geschichte, die bereits tot und verrottet ist. Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit gehe, nehme ich die Taschen mit Vaters Sachen mit und trage sie in die Brockenstube. Dann rieche ich den Geruch und verlasse fluchtartig den Ort. Irgendetwas in mir will anscheinend nicht, dass Vaters alte Kleider Teil dieses Geruchs werden.

«Ein Tor für die Ewigkeit!»

Die Ewigkeit kommt gleich nach der Geschichte und wiegt ungefähr so viel wie sie, nämlich nichts.

«Und das vor den Augen des Präsidenten.»

Ungefähr fünftausend Zuschauer verfolgen im Durchschnitt die Partien der NHL auf unserem Sender. Während der Finalspiele können es schon mal bis zu Zehntausend sein. Mehr nicht. Es ist ein Nischensport. Ich frage mich manchmal, was das für Leute sind, die mitten in der Nacht vor dem Fernseher sitzen, um sich amerikanisches Eishockey anzusehen. Ich frage mich, was sie für ein Leben haben. Vermutlich gar keines. Abgehängt von den Geschichten der anderen treiben sie wie freifliegende Atome durchs Universum der Nacht. Ich bin ihr einziger Bezugspunkt. Ihre Sonne. Ihr Mond. Ein fetter Mann in einem winzig kleinen Aufnahmestudio in einem gottverlassenen Indus­trieareal.

In einer geschichtslosen Welt riecht der Triumph nicht nach Triumph, sondern nach Knoblauchsauce.

Früher gab es auf der Facebook-Seite des Senders eine beliebte Kommentarspalte, die auch nachts von einigen Nerds genutzt wurde, doch wurde sie abgeschafft, als radikale Klimaaktivisten sie dazu benutzten, den Weltuntergang zu propagieren. Ich habe das bedauert. Natürlich: Die Nachrichten der Aktivisten waren nicht gerade erbaulich, doch als sie dann gelöscht wurden, war die neue Stille noch viel unheimlicher als alle ihre düsteren Posts. Es war die Stille von Bauschutt. Von herumstehenden Baggern und Betonmischern. Eine postapokalyptische Stille.

Illustration von Sascha Düvel.

Plötzlich herrscht Aufruhr im Zuschauersektor. Ein schwarzgekleideter Mann ist in der Präsidentenloge aufgetaucht. Erst halte ich ihn für einen der Glace- oder Bierverkäufer, die hier überall zirkulieren. Dann höre ich den Schuss. Zunächst glaube ich, unten auf dem Eis sei ein Spieler gegen die Bande geknallt. Und tatsächlich zeigt die Kamera jetzt das Spielfeld, wo die Devils soeben ein Tor geschossen haben.

«3:0 für die Devils!», rufe ich.

Die Spieler liegen sich in den Armen. Im nächsten Augenblick erstirbt ihr Jubel. Denn auch sie haben die Schreie aus dem Zuschauerraum gehört. Wieder schaltet die Kamera auf die Präsidentenloge. Da ist der schwarzgekleidete Mann. Security-Leute stehen um ihn herum und halten ihn fest. Er wirkt seltsam ruhig. Da ist die Nancy in ihrem roten Kleid, das jetzt irgendwie alarmierend wirkt. So als wollte sie uns auf etwas Bestimmtes hinweisen. Sie hat sich die Hände auf den Mund gepresst und schreit. Ein dünner hoher Schrei, der im allgemeinen Lärm der noch immer dominierenden Fangesänge untergeht und doch heraussticht, da er anders ist als alle anderen Geräusche. Und da ist ihr Sohn. Da ist Jake. Er kniet auf dem Boden über dem leblosen Körper seines Dads.

«Oh mein Gott», höre ich mich sagen. «Sie haben den Präsidenten ermordet.»

Ob er wirklich tot ist, kann ich gar nicht wissen. Und doch bin ich mir dessen absolut sicher. So sicher, wie ich mir noch nie zuvor in meinem Leben gewesen bin. 105 Kilo Zweifel und keine einzige klare Antwort. Jetzt aber bin ich mir vollkommen sicher. Der Mann ist tot. Sie haben den Präsidenten der USA umgebracht.

Und so als hätten alle meine Stimme gehört, verbreitet sich die Nachricht wie eine Kettenreaktion, wie eine La Ola des Grauens, im ganzen Stadion. Panik bricht aus. Zuschauer versuchen hysterisch irgendwo hinzurennen. Zum Ausgang. Zum Präsidenten. Irgendwohin. Manche probieren gar aufs Eisfeld zu klettern. Dort geht das Spiel merkwürdigerweise wieder weiter. Ratlos stellen sich die Spieler beim Bully auf. Weiterspielen scheint vollkommen sinnlos. Aber nicht weiterspielen irgendwie auch. Auch die Fangesänge sind neben den Hilfeschreien, dem Weinen, dem Kreischen und Brüllen und dem ganzen Lärm des Entsetzens weiterhin zu hören. Weiter peitscht da jemand seine Farben mit denselben gehirnlosen Liedern und Slogans an. So als gäbe es Gesetzmässigkeiten, die so starr sind, dass sie schlichtweg nichts vom Kurs abbringen kann.

Wirklich merkwürdig ist aber, dass die Übertragung immer noch weiterläuft. Ich bin davon ausgegangen, dass sie gleich zur Werbung schalten würden, um dann nicht wieder auf Live zurückzukehren, doch das grüne Licht leuchtet, ich bin auf Sendung. Und da draussen sind ein paar Tausend Leute, die von mir hören wollen, was hier gerade geschieht. Und so setze ich den Kopfhörer wieder auf, hole tief Luft, und während ich gemeinsam mit Millionen anderen zusehe, wie sich Rettungssanitäter über den regungslosen Präsidenten beugen, um ihn ins Leben zurückzuholen, sage ich ins Mikrofon:

«Liebe Zuschauer. Das ist eine historische Nacht.»

Und ich beginne zu beschreiben, was gerade passiert. Natürlich können sie das auch selber sehen. Wir starren alle auf das gleiche Bild. Doch macht es einen grossen Unterschied, etwas nur zu sehen oder es auch zu hören. Das weiss jeder, der sich schon mal eine Sportübertragung ohne Livekommentar angesehen hat. Das Bild lebt nicht. Obwohl es Menschen aus Fleisch und Blut sind, die da in Echtzeit über das Feld laufen, mutet ihr Tun seltsam unwirklich an. Erst die Stimme des Sportreporters erweckt das Geschehen zu Leben und Sinn.

 

Und so erzähle ich den Leuten also, dass es offenbar ein Attentat auf den Präsidenten gegeben habe. Ein dunkel gekleideter Mann hat sich Zugang zu seiner Loge verschafft und auf ihn geschossen. Mittlerweile konnte der Mann von den Sicherheitskräften überwältigt werden. Über den Gesundheitszustand des Präsidenten lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sanitäter sind bei ihm und versuchen ihn zu reanimieren. Man kann nur hoffen. Die Familie des Präsidenten, seine Frau Nancy und sein dreizehnjähriger Sohn Jake, sind bei ihm. Nancy hat unterdessen ein Beruhigungsmittel erhalten.

Letzteres kann ich nicht wissen. Doch während ich es sage, spüre ich, wie wahr es ist. Sinn spriesst aus meinen Worten. Ich spüre, wie ich unsichtbare Fäden in die Weiten der Nacht hinausspinne. Eine Verbindung entsteht. Ich und die Zuschauer. Wir sind jetzt eine Schicksalsgemeinschaft.

Immer wieder komme ich auf Jake zu sprechen. Dass er extra für das Spiel aus seinem Elitegymnasium in England eingeflogen worden war, doch nicht, um wie erwartet den Triumph seiner Mannschaft mitzuerleben, sondern um da zu sein, wenn sein Vater mit dem Tod ringt.

Illustration von Sascha Düvel.

«Er muss jetzt stark sein, der junge Mann. Das sind die Momente, in denen man schlagartig erwachsen wird.»

Ich rede davon, wie schwer es ist, den eigenen Vater zu verlieren. Und wie selbstverständlich komme ich danach auf den Tod meines eigenen Vaters zu sprechen. Als ich das tue, verspüre ich keinen Bruch, keine Grenzüberschreitung. Ich spüre Kontinuität. Ich spüre, wie die Geschichte mich in den Arm nimmt.

Währenddessen ist im Stadion das Chaos ausgebrochen. Offenbar sind alle Ausgänge blockiert, vermutlich aus Sicherheitsgründen. Doch als die Menschen verstehen, dass sie nicht rauskönnen, fallen sie schreiend übereinander her. Sie stossen sich zur Seite, sie trampeln übereinander her, sie springen aufs Eis und jagen die Hockeyspieler, die selber auch nicht rauskönnen. Überall sieht man Prügeleien. Gewalt. Anarchie. Verzweiflung. Und wir sind immer noch auf Sendung. Ich verstehe nicht, was los ist. Es scheint, als ob es kein Ende mehr gäbe. Als ob dies tatsächlich das letzte Bild wäre. Das letzte Bild der Geschichte. Menschen, die in nackter Panik übereinander herfallen, während ihr Präsident vergeblich reanimiert wird. Ein Wimmelbild.

Als ich auf den Tod meines Vaters zu sprechen komme, verspüre ich

keinen Bruch, keine Grenzüberschreitung. Ich spüre Kontinuität. Ich spüre, wie die Geschichte mich in den Arm nimmt.

«Dad», sage ich. «Wir sind uns nie besonders nahe gewesen. Stets hatte ich den Eindruck, ich müsse eine Enttäuschung für dich sein. Wie ich lebe, was ich mache, wofür ich mich interessiere. Dass ich eben anders bin als du, Dad. Individualität ist der Tod der Sprache. Denn sobald einer anfängt, sein eigenes Ding zu machen, versteht ihn keiner mehr. Doch jetzt, wo du tot bist, verstehe ich endlich, Dad, dass wir beide Teil derselben Geschichte sind. Und dass da Vergebung ist für uns beide. Jetzt, wo du tot bist, muss ich nicht mehr länger so sein wie ich. Jetzt kann ich endlich anfangen, so zu sein wie du.»

Es ist halb vier Uhr, als ich zur Eingangstüre hinaus in die feuchtkalte Nacht trete. Selbst der knirschende Bauschutt unter meinen Füssen klingt wie Schweigen. Stockdunkelheit umfängt mich. Keine Sterne. Ich ziehe den Reissverschluss meiner braunen Gartenjacke hoch, und während ich durch die ausgestorbene Rimini-Strasse zum Ausgang laufe, kommt es mir so vor, als wäre ich der letzte Mensch auf dem ganzen gottverdammten Planeten.

Lukas Linder, fotografiert von Agnieszka Cytacka.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!