Eine gefährliche Verwilderung
Anja Schmitter: Leoparda.
Literarische Verwandlungen haben grosse Tradition. Zeus wird zum Stier oder Schwan, um sich seinen Geliebten zu nähern. Loki wird zum Lachs, um sich der Bestrafung zu entziehen. Franz Kafka lässt Gregor Samsa zum Ungeziefer werden. Und in zahlreichen Superhelden-Comics – einem prägenden Genre unserer Zeit – werden junge Menschen zu Wesen mit tierischen Kräften, etwa Peter Parker zu «Spider-Man».
Auch Anja Schmitter beschreibt in ihrem beunruhigenden Debütroman «Leoparda» eine Verwandlung ins Animalische. Kleoparda Frei, genannt Kleo, ist eine 25jährige Stadtzürcherin, die als Lehrerin in der Agglo arbeitet. Ihren bedeutungsvollen Namen trägt sie, weil ihre Eltern auf der Hochzeitsreise in Ägypten waren. «Du heisst auch wie der Leopard, das war die Idee vom Papa», erklärt die fürsorgliche Mutter vom Zürichberg. «Denn du bist was Besonderes, mein Schatz.» Das Raubtier Leoparda wird zur zweiten Identität der jungen Frau. Die Verwandlung ist ein schmerzhafter Prozess, der sorgfältig dokumentiert wird: Manchmal, wenn Kleo aus unruhigen Träumen erwachte, stellte sie fest, dass kleine Stückchen ihrer Zähne abgebröckelt waren und scharfe Schnittstellen hinterliessen. Doch den blutigen Geschmack im Mund, wenn sich die Zunge an den Kanten aufgeritzt hatte, nahm sie ohne weitere Emotionen zur Kenntnis.
Eindrücklich beschrieben werden verschiedene Begegnungen: ein beklemmendes Date mit der übergriffigen Tinder-Bekanntschaft Adriano, Kaffeebesuche mit der besten Freundin und Ex-Therapeutin Felicitas oder eine missratene Deutschlektion mit dem Geflüchteten Amir.
Die genauen Ursachen der Verwandlung, die auch eine Verwilderung ist, bleiben im Buch ambivalent. Im weiteren Verlauf der Geschichte spielen ein Hitzesommer, eine eigensinnige Amaryllis, das Verhalten von Grossraubkatzen und die Dynamiken der Social Media eine wichtige Rolle.
Leoparda ist wie Catwoman eine gefährliche Rächerin. Ihr Zorn richtet sich aber weniger gegen Verbrecher, sondern gegen ihr eigenes bürgerliches Umfeld, aus dem sie ähnlich radikal ausbricht wie der Protagonist in Martin Suters «Dunkle Seite des Mondes». Somit ist «Leoparda» kein harmloser Befindlichkeitsroman, sondern Prosa mit Krallen.