Eine Forderung, viele Deutungen
«Commercial Diplomacy». Unter diesen Begriff wird vieles subsumiert: die Ausrichtung der Aussenpolitik an der Wirtschaftspolitik; der Abbau von Handelshemmnissen; die Förderung der Standortpolitik; die Unterstützung von Firmen, die ins Ausland wollen. Ein Überblick.
In letzter Zeit hört man häufig Forderungen, die Schweiz müsse ihre Commercial Diplomacy verstärken. Der Begriff ist allerdings nur unklar abgegrenzt. Ich möchte mich dem Phänomen deshalb schrittweise annähern.
Im weitesten Sinne kann man den Ruf nach Commercial Diplomacy als Forderung verstehen, Ziele, Prioritäten und Instrumente der Aussenpolitik vermehrt (oder überwiegend?) an den wirtschaftlichen Interessen des Landes auszurichten. Aussenpolitik soll in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen fördern, sei dies durch die Erschliessung neuer Auslandmärkte für Exporte oder Direktinvestitionen, die Sicherung von Rohstoffimporten oder die Förderung von Investitionen ausländischer Unternehmen im eigenen Lande.
Auf den ersten Blick mag diese Formulierung extrem erscheinen, es wäre jedoch eine interessante Forschungsfrage abzuklären, wie stark wirtschaftliche Interessen aussenpolitische Entscheide von Ländern im Zeitablauf geprägt haben. Dabei muss man nicht nur an die Kolonialmächte oder an die Ölinteressen der USA in der Golfregion denken. Die schweizerische Aussenpolitik der Nachkriegszeit war bis weit in die siebziger Jahre hinein weitgehend Aussenwirtschaftspolitik.
Wie sieht diese Abgrenzung heute aus? Nach wie vor gilt, dass die Schweiz für internationale Machtpolitik zu klein und somit gut beraten ist, sich aus entsprechenden Koalitionen herauszuhalten. Auf absehbare Zeit ist sie nicht in ihrer nationalen Selbständigkeit bedroht. Entsprechend kann die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen weit vorne stehen. Die Grenzlinie verläuft dort, wo sich totalitäre oder korrupte Regime grosse Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen. Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht losgelöst von allgemeinen Wertvorstellungen der Staatengemeinschaft durchgesetzt werden. Die Grenzlinie ist allerdings fliessend, und es ist deshalb erforderlich, dass sie im politischen Prozess gezogen wird. Die Exportrisikogarantie für Grossprojekte ist dafür ein gutes Anschauungsfeld.
Übersetzt man «Commercial Diplomacy» mit «Handelsdiplomatie», kommt man dem traditionellen Verständnis der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik und auch einem häufigen Gebrauch des Begriffs «Commercial Diplomacy» sehr nahe. Hier kann man der Schweiz ein gutes Zeugnis ausstellen. Sie verfügt mit dem Aussenwirtschaftsbericht 2004 über eine nach wie vor gültige strategische Ausrichtung, und sie hat sich in den letzten Jahren hinsichtlich bilateraler Präferenzabkommen von der Europäischen Union emanzipiert. In den neunziger Jahren ging es mehr darum, die von der EU abgeschlossenen Abkommen nachzuholen, um damit auf den jeweiligen Märkten die Benachteiligung schweizerischer Unternehmen abzuwehren. Wie die Abkommen mit Singapur, Korea und neuerdings Japan zeigen, hat die Schweiz, zumindest vorübergehend, einen zeitlichen Vorsprung erreicht. Zusammen mit der Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU – hier sind vor allem die Abkommen zur Personenfreizügigkeit und zu den technischen Handelshemmnissen von herausragender Bedeutung –, ergibt dies eine wichtige Hubfunktion für den gesamten europäischen Markt.
Aussenwirtschaftspolitik lässt sich heutzutage allerdings immer weniger auf Handelsförderung beschränken. Dies zeigt sich bereits in den internationalen Abkommen, die neben dem Güterhandel auch Dienstleistungen, Rechte des geistigen Eigentums und zum Teil auch Investitionen einschliessen. Dahinter verbirgt sich ein grundsätzlicherer Paradigmenwechsel. Mit zunehmender internationaler Mobilität von Unternehmensfunktionen und hochqualifizierten Arbeitskräften rückt die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Schweiz (und anderer Länder) in den Vordergrund des wirtschaftspolitischen Interesses. Es braucht gute wirtschaftliche Bedingungen, um die zunehmend mobileren Unternehmensfunktionen im Land behalten und sie im internationalen Wettbewerb anziehen zu können. Dazu gehören international ein dichtes Netz von Doppelbesteuerungs- und Investitionsschutzabkommen und im Inland attraktive Rahmenbedingungen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört der gesicherte Zugang zu ausländischen Märkten, der Schutz geistigen Eigentums, ein möglichst breiter Pool qualifizierter Mitarbeiter (deshalb die zentrale Bedeutung der Personenfreizügigkeit), ein geeignetes regulatorisches Umfeld samt günstigen Steuern. Ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem und ein attraktives Lebensumfeld für die Mitarbeiter sind ebenso Bestandteile einer guten Wirtschaftspolitik für den Standort Schweiz.
Gemessen an den Ergebnissen hat die Schweiz diesen Paradigmenwechsel gut vollzogen. Auch wenn nicht statistisch ausgewiesen, sind Dienstleistungen für die Installation von Firmensitzen unterschiedlichster Branchen ein wichtiger Wirtschaftssektor und schaffen eine beachtliche Anzahl von Arbeitsplätzen für hochqualifizierte und entsprechend gut bezahlte Leute. Vor allem für solche ist die Schweiz ein wichtiges Einwanderungsland. Im Vergleich zu anderen Ländern mit einer ähnlich starken Exportabhängigkeit oder einem vergleichbaren Anteil der Finanzbranche am Bruttoinlandprodukt ist der durch die Finanzkrise verursachte Einbruch relativ bescheiden, auch wenn ich damit die Schwierigkeiten nicht wegreden möchte. Die öffentlichen Finanzen sind im Vergleich zu den meisten ausländischen Staaten komfortabel. Doch all dies darf kein Grund sein, sich auf dem bisher Erreichten auszuruhen, denn Standortattraktivität ist relativ und immer im Vergleich zu anderen Konkurrenten zu schaffen.
Ich bin mir bewusst, dass ein solch breites Verständnis von Commercial Diplomacy, das die Standortpolitik mit einbezieht, den begrifflichen Rahmen sprengt. Wenn man aber den Begriff auf die Aussenwirtschaftspolitik im weiteren Sinne anwenden will, was häufig in entsprechenden Beiträgen zumindest implizit durchscheint, dann lässt sich eine Grenze kaum mehr vernünftig ziehen, die die Standortpolitik ausschliesst.
Doch zurück zur engeren Begriffsbestimmung. Hier kann «Commercial Diplomacy» mit «Wirtschaftsdiplomatie» übersetzt werden und beschreibt alle Initiativen, bei denen staatliche oder vom Staat beauftragte Stellen zusammen mit privaten Unternehmen oder deren Organisationen in der Bearbeitung ausländischer Märkte engagiert sind. Die direkte wirtschaftliche Zielsetzung steht im Vordergrund; und die Projekte werden gemeinsam von staatlichen und privaten Stellen getragen.
Die konkreten Formen sind sehr unterschiedlich. Beispielhaft seien hier einige aufgeführt: Auslandmissionen von Regierungen gemeinsam mit Wirtschaftsvertretern, diplomatische Unterstützung bei grossen öffentlichen Ausschreibungen, Nutzung des Netzwerkes von Botschaften und Konsulaten für die Anbahnung von Geschäftskontakten, Organisation von Auslandmessen, Bereitstellung von Wirtschaftsinformationen, gemeinsame Tourismuswerbung im Ausland, Unterstützung bei Streitbeilegungsverfahren, diplomatische Unterstützung bei Auslandinvestitionen inländischer Unternehmen, Promotion des Inlandes für ausländische Direktinvestitionen.
Im Gegensatz zum klassischen Wirtschaftsvölkerrecht ist die Literatur zu den obenbeschriebenen Formen der Commercial Diplomacy spärlich. Schwierig ist schon die Frage der Erfolgsmessung, wenn man diese nicht auf die vermittelten Transaktionen beschränken will. Sind die bilateralen Handels- oder Investitionsströme zwischen Ländern mit gegenseitigen Handelsmissionen grösser als aufgrund der natürlichen Handelsbedingungen zu erwarten wäre? Die Aussagen der wenigen vorhandenen, auf Gravitationsmodellen beruhenden Studien sind unterschiedlich. Commercial Diplomacy im engeren Sinne wird zudem von den einzelnen Ländern je mit deutlich unterschiedlicher institutioneller Einbindung und unter Anwendung unterschiedlichster Mischformen zwischen staatlicher und privater Trägerschaft betrieben. So sind im Falle der USA und Frankreichs entsprechende Stellen recht eng in deren Botschaften integriert, in Deutschland spielen die Handelskammern eine zentrale Rolle, in der Schweiz hat die Exportförderungsorganisation Osec als privatwirtschaftliche Träger mit staatlichem Leistungsauftrag die Führung. Vorhandene vergleichende Studien sind meist beschreibender Art, und systematische Wirkungsanalysen fehlen.
Die Forderung nach verstärkter Unterstützung der Wirtschaft bei der Erschliessung und Bearbeitung ausländischer Märkte scheint auf den ersten Blick wohlbegründet. Es ist aber ratsam, auch hier gut abzuwägen. Die Märkte müssen in erster Linie von den Unternehmen selbst erschlossen werden. Sie brauchen in aller Regel sehr spezifische Marktinformationen, die im Rahmen allgemeiner Marktbeobachtungen nicht adäquat erhoben werden können. Geschäftsbeziehungen sind ebenfalls sehr partnerspezifisch, und Kontaktanlässe sind – provokativ ausgedrückt – meist nicht ausreichend. Die wichtigsten Argumente für Commercial Diplomacy seien deshalb kurz aufgeführt.
• Eintritt in politisch dominierte Netzwerke. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es Beispiele von Märkten, die nur über politische Beziehungen erfolgreich bearbeitet werden können. Hier ist eine diplomatische Unterstützung sehr wertvoll, da sie auf der politischen Ebene Einfluss nehmen kann. Dies kann auch im Fall auftretender Konflikte nützlich sein.
• Bereitstellung landesspezifischer lokaler Dienstleistungen. Im Vordergrund steht hier die klassische Informationsaufgabe, wobei es allerdings die vorgenannte Einschränkung zu beachten gilt. Vor allem Klein- und Mittelunternehmen verfügen zudem über keine lokalen Niederlassungen, die Kontakte anknüpfen und Reisen organisieren. Hier können Botschaften, Aussenhandelskammern oder business hubs Dienstleistungen anbieten, die auf dem privaten Markt nur schwer zu beschaffen sind.
• Schaffung von Plattformen für Kontaktanbahnung. Messen sind hier die klassische Form. Es können aber auch stärker technologie- oder wissenschaftsgerichtete Plattformen sein. Die gemeinsame Durchführung erlaubt, Skalen- und Netzwerkeffekte besser auszuschöpfen.
• Nationale Imagepflege. Soweit ein positives allgemeines Image des Ursprungslandes die Anbahnung von Geschäftsbeziehungen unterstützt, haben wir es mit einem klassischen Kollektivgut zu tun, das nur schlecht durch einzelne Unternehmen angeboten werden kann. Tourismuswerbung ist ein typisches Beispiel. Gemeinsames Auftreten ist unerlässlich, womit allerdings noch nichts über den Anteil ausgesagt ist, den der Staat tragen soll.
Ob die Aussenpolitik generell vermehrt den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden soll, ist eine eminent politische Frage, die auch im politischen Prozess entschieden werden muss. Persönlich sehe ich diesen Bedarf nicht, da die Schweiz auch allgemeingültigen Werten, vor allem in Menschenrechtsfragen, verpflichtet ist. Reduzieren wir die Forderung auf die Aussenwirtschaftspolitik, möchte ich zu bedenken geben, dass auf globaler Ebene in der WTO zurzeit wenig Spielraum besteht und die Schweiz bezüglich präferentieller Abkommen eine komfortable Position einnimmt. Die Ergebnisse belegen, dass die Schweiz im internationalen Vergleich ein attraktiver Wirtschaftsstandort ist.
Wenn wir Commercial Diplomacy im engeren Sinne meinen, so ist in erster Linie Osec, das Kompetenzzentrum der Schweizer Aussenwirtschaftsförderung, angesprochen, das aufgrund von Leistungsverträgen mit dem Bund ein umfassendes Mandat für die Export- und Importförderung sowie für die Unterstützung von Direktinvestitionen in beide Richtungen wahrnimmt. Es sei darauf hingewiesen, dass die Forderung nach verstärkter Commercial Diplomacy in erster Linie eine Wirkungsanalyse der Arbeit von Osec bedingt. Hier wird insbesondere die Schnittstelle zwischen Osec und Swiss Business Hubs auf der einen Seite und den Botschaften, Generalkonsulaten und Konsulaten auf der anderen Seite zu prüfen sein. Dahinter steht die grundsätzlichere Frage, ob Commercial Diplomacy primär ein Feld des Volkswirtschaftsdepartements (Commercial) oder des Departements für auswärtige Angelegenheiten (Diplomacy) sein soll – eine Grundsatzfrage, die in anderen Ländern ebenfalls das zentrale Spannungsfeld darstellt.